Zeichnerin der Angeklagten
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Gerichtszeichnerin Angela Zwahlen hält mit Bleistift und Papier Prozesse fest und gibt so auch Verbrechern ein menschliches Gesicht

Mit klaren Strichen und scharfen Konturen vermitteln Angela Zwahlens Zeichnungen den Zeitungslesern ein Bild aus dem Gerichtsaal. Ob Mörder oder Betrüger - die Bernerin zeichnet keine Monster, sondern ganz normale Menschen.

Angela Zwahlens letzte Zeichnungen aus dem Gerichtssaal sind noch präsent: Vier Jugendliche sitzen zwischen Polizisten auf ihren Stühlen und warten mit gesenktem Blick auf ihr Urteil - es sind die vier Postgasse-Täter, die im Mai 2003 in Bern einen wehrlosen Mann zusammenschlugen und schwer verwundet auf der Strasse liegen liessen. Ihre Gesichtsausdrücke, ihre Körperhaltung, ja gar kleinste Details ihrer Kleidung sind fein und präzise mit Bleistift festgehalten. Die Zeichnungen zeigen sie als normale Jugendliche. Sie sehen nicht aus wie brutale Schlägertypen, die mit den Schuhen auf den Kopf des Opfers eintraten und danach mit blutigen Kleidern in einer Bar auf die Tat anstiessen, während der Mann um sein Leben rang.

«Die meisten Täter sehen aus wie ganz normale Menschen», sagt Angela Zwahlen. Während wichtiger Prozesse sitzt sie für den «Bund» im Gerichtssaal und macht Verhandlungen «sichtbar», denn Fotografieren ist in Gerichten nicht erlaubt. Vielleicht lösen ihre Zeichnungen beim Betrachter gerade deshalb so viele Emotionen aus, weil sie nicht jene Monster darstellen, die man erwartet, sondern ganz normale Menschen. «Ich versuche, präzise zu zeichnen, denn ich will auch den Angeklagten gerecht werden. Ich will keine Täterprofile oder Karikaturen zeichnen - es ist nicht meine Aufgabe, jemanden zu verurteilen.»

Mitleid und Grauen

Die Bernerin Angela Zwahlen sitzt in ihrem Loft in Biel, das ihr und ihrem Partner als Atelier und Wohnraum dient. Neben ihrem weissen Arbeitstisch sind Farben und Maltuben ordentlich zusammengestellt, und auf dem Fenstersims stehen kleine, farbig gemalte Porträts von Wirtschaftsleuten - ein Auftrag für ein Wirtschaftsmagazin, erklärt Zwahlen. Seit sechs Jahren zeichnet die freischaffende Illustratorin auch im Gericht. «Die Arbeit fasziniert mich - ich beobachte und zeichne Menschen, die ich nicht kenne, und bekomme ihre Taten, aber auch ihre Lebensgeschichten mit», erzählt die 36-Jährige. Mitleid für Angeklagte, aber auch Grauen vor ihren Taten vermischten sich dabei häufig.

Angela Zwahlen sitzt oft stundenlang im Saal, in nächster Nähe der Angeklagten, beobachtet, skizziert und zeichnet. Zum Teil sei es ein langweiliges Prozedere, sagt sie. Viele Prozesse gingen ihr jedoch sehr nah. Manchmal zu nah, dann helfe nur noch Oropax: «Zum Teil erzählen sie grauenhafte Geschichten, schildern Details von einem Mord oder einem Sexualverbrechen. Dann wird mir unwohl, und ich ziehe mich zurück, sonst wird die Zeichnung ungenau und schlecht.»

Verkleidete Angeklagte

Zwahlen erzählt von ihren Erlebnissen bei den Prozessen, verschiedene Zeichnungen liegen verstreut vor ihr auf dem Tisch - sie zeigen gleichgültige Betrüger, nachdenkliche Mörder, unschuldig blickende Sexualverbrecher, aber auch Polizisten, Anwälte und Richter. «Manchmal frage ich mich, was sie wohl denken, wenn ich sie stundenlang beobachte und zeichne», sagt sie. Einige bemerkten sie gar nicht, anderen sei es sichtlich unangenehm. «Einmal begann ein Angeklagter plötzlich, mich abzuzeichnen», erzählt sie und zeigt auf die Zeichnung eines Mannes in Fussfesseln, der im Prozess von Damaris Keller vor Gericht stand. «Bei diesem Spielchen wurde mir unheimlich.» In einem anderen Prozess hätten angeklagte Polizisten Perücken und Brillen getragen. «Ich bemerkte erstaunt, dass die sich meinetwegen verkleideten, aus Angst, man könne sie auf den Zeichnungen erkennen.» Seither zeichne sie alle Polizisten im Gericht anonym und linear.

Interpretation der Wirklichkeit

Sie glaube allerdings nicht, dass man die abgebildeten Leute aufgrund der Zeichnungen wiedererkenne, sagt Zwahlen - auch wenn sie die Leute so naturalistisch wie möglich darstelle. «Sie sollen sich ähnlich sein. Aber eine Zeichnung ist nicht wie ein Foto - sie ist eine Interpretation der Wirklichkeit.» Eine Zeichnung sei auch keine Momentaufnahme, sondern entstehe fliessend - zwei bis drei Stunden arbeitet Zwahlen jeweils daran.

Dabei achtet sie besonders auf Klarheit und Präzision - auch Details wie Kleider, Uhren oder Frisur seien ihr wichtig, sagt Zwahlen. Hier kommt ihr die frühere Arbeit in einem Zeichentrickfilmstudio zugute. Auch wenn Zwahlen mit Strichen, Flächen und Konturen spielt - als Kunst bezeichnet sie ihre Gerichtszeichnungen nicht. Kunst brauche mehr Freiheit, sagt sie. Ein Anwalt sah das anders: Er fand ihre Zeichnungen vom Prozess gegen Werner K. Rey - ihrem ersten Prozess - so toll, dass er ihr die Originale gleich abkaufte.

Text: Manuela Ryter

Dieses Porträt erschien am 11. Oktober 2005 im "Bund".​

Von der Liebe zu Autos und Frauen
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Mit einem Tuning-Fan an der Auto-Emotionen-Messe in Bern.​

Violett schimmert Daniel Siegrists Auto. Das heisst, je nach Licht. Von hinten schimmert der tiefer gelegte Wagen mit dem futuristischen Heckflügel eher rötlich. Oder ist er blau? Kamäleon heisse diese Farbe - das sei ein Lack mit Goldstaub, 1000 Franken pro Liter, erklärt Siegrists Freundin Franziska Wernli. Sie ist Autolackiererin. Er ist Automechaniker. Das Auto war einmal ein blauer VW Vento 6 Zylinder. Nun ist der geheimnisvoll schimmernde Wagen ein Unikat. Genau wie all die anderen glänzenden, dröhnenden und tönenden Tuning-Autos auf dem Gelände der Auto-Emotionen-Messe an der BEA. Hier ging es drei Tage lang um breite Räder und verchromte Felgen, um Turbolärm und hämmernde Bässe. Und um Frauen. Doch dazu später.

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Ein richtiger Tuning-Freak kauft kein präpariertes Fahrzeug. «Ich habe die gesamte Carrosserie des Autos selbst zerlegt», sagt Daniel Siegrist und zeigt stolz seinen Wagen, den er als Besucher auf dem Ausstellungsplatz präsentiert. Er grüsst hier und dort, man kennt sich in der Szene. Der Kotflügel wurde verbreitert, damit die breiten Räder darunter passten. Siegrist schweisste auch eine neue Motorhaube an, wechselte Auspuff und Seitenspiegel für den Sportlook, entfernte alle Kennzeichen der Automarke. Auch Stossstangen und Seitenschweller seien neu, damit das Auto tiefer liege. Und im Innenraum fehlen natürlich auch die Sportsitze und eine 2500-Watt-Musikanlage mit Verstärker nicht. «Den Motor habe ich erst zum Teil verchromt», sagt Siegrist - ein Tuning-Auto sei nie fertig, da sei immer etwas zu verbessern. Er sei ein Perfektionist, «doch das geht ins Geld» - sechs Monate Arbeit und 25 000 Franken habe er bisher ins Aufpeppen dieses Autos investiert, sagt der 25-Jährige aus Reconvilier und lässt den Motor aufbrausen. «Ein schöner Lärm, nicht?» fragt er und lacht.

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Die Ausstellungshallen, in denen Tuning-Clubs ihre Wagen präsentieren und Firmen Felgen, Stossdämpfer und Hifi-Anlagen anbieten, hat sich Siegrist schon mehrere Male angesehen. Technobässe hämmern aus unzähligen Autoboxen und vermischen sich mit dem Stimmengewirr der Besucher - 22 000 waren es insgeamt, 7000 mehr als letztes Jahr. Es gebe nicht nur Sportwagen, sondern auch alte Autos, die getunt seien, sagt Siegrist und zeigt auf einen VW-Käfer. Schliesslich gehe es beim Tuning um schöne Autos und nicht um schnelle. «Rasen würde ich mit einem getunten Auto nie. Der Look ist wichtiger.» Man könne es aber auch übertreiben, sagt Siegrist und zeigt auf einen ausgestellten Wagen, der im Takt der Musik aufblitzt und den Boden blau beleuchtet. Ihm gefielen dezenter aufgepeppte Wagen besser. «Ich möchte lieber auf den zweiten Blick auffallen.» Aber jeder habe seinen Stil, sein eigenes Auto - das mache Tuning ja gerade so spannend.

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Liebe sei es nicht, die er für Autos empfinde, es sei eher Leidenschaft - «man liebt ja nicht Autos, sondern Menschen», sagt der Automechaniker und beobachtet, wie sich die Kandidatinnen der Miss-Auto-Emotionen-Wahl gerade auf den Formel-1-Wagen räkeln. Schöne Autos, schöne Musik und schöne Frauen, das passe zueinander, sagt er. Aber schliesslich zählten in der Liebe nicht nur äussere Werte. Beim Auto schon.

Text: Manuela Ryter

Dieses Feature erschien am 19. September 2005 im "Bund".​

Kinder, Küche und Karriere
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Drei Mütter wirken in der Leitung der Agentur Freiburghaus und Partner mit - ein Einzelfall in der Werbebranche

Das Kind auf dem Arm und die Präsentation im Kopf: Drei Frauen der Berner Werbeagentur Freiburghaus und Partner zeigen, dass mit Teamwork und viel Einsatz auch in der Werbebranche Kaderjob und Familie vereinbar sind.

Nächtelanges Tüfteln an der neuen Idee, unzählige Überstunden wegen der kommenden Präsentation, stete Verfügbarkeit für die Kunden: Wer in der Werbung arbeitet, tut dies voll und ganz - oder gar nicht. Der niedrige Anteil an Teilzeitarbeitenden in der Branche zeigt, dass am Klischee des Werbers als «Workaholic» etwas dran ist: Teilzeit ist in vielen Agenturen tabu, Frauen müssen sich deshalb oft zwischen Karriere und Familie entscheiden - gerade in der Werbebranche, in der Flexibilität gross geschrieben wird. Frauen mit Kindern sucht man in Kaderpositionen fast vergebens.

Dass es auch anders geht, zeigt die Berner Werbeagentur Freiburghaus und Partner. Inhaber und Creative Director Simon Freiburghaus arbeitet in der Geschäftsleitung mit drei Frauen zusammen, die neben Sitzungen auch Zeit für Hausaufgaben und Mukiturnen finden: Pascale Berclaz, Mutter von zwei Kindern, und Barbara Brügger, die gerade Mutterschaftsurlaub bezieht, beraten die Kunden und leiten die Produktion. Romy Freiburghaus ist für die Finanzen und das Personal zuständig - daneben betreut sie drei Kinder und arbeitet als Dozentin.

Das unkonventionelle Arbeitsmodell hat Erfolg: Die 1996 als Werbeduo Freiburghaus und Banderini gegründete Agentur hat heute 14 Angestellte und zählt zahlreiche grosse Firmen zu ihren Kunden, so zum Beispiel IP-Suisse, Novartis Consumer Health, Swiss Olympic Association, den Verband Schweizer Metzgermeister und das Stade de Suisse.

Teilzeit in Kaderjob unmöglich . . .

Dass das Arbeitsmodell der Berner Werbeagentur in der Werbebranche nicht üblich ist, bekamen die Frauen zu spüren: Als Romy Freiburghaus vor 14 Jahren ihr erstes Kind erwartete - sie arbeitete damals als Werbeleiterin -, hiess es: Vollzeit oder gar nicht. «Daraufhin habe ich gekündigt», erzählt die 41-Jährige. Hinter ihr prangt riesig ein Plakat, das eine unaufgeräumte Küche zeigt und mit dem Slogan «Schuhe zum Davonlaufen» für das Schuhhaus Botty wirbt. Auch heute sei Vollzeit in vielen Agenturen ein ungeschriebenes Gesetz, sagt Freiburghaus: «Das ist schade, denn so geht der Branche viel Know-how verloren.» Auch Pascale Berclaz bekam 1999, als sie trotz Kind den Kaderjob bei Freiburghaus und Partner annahm, von Berufskollegen zu hören, Teilzeit sei in dieser Position unmöglich. «Wir haben das Gegenteil bewiesen», sagt die zierliche, elegante Frau nicht ohne Stolz.

. . . oder Frage der Organisation?

Organisation und Teamwork, aber auch flachere Hierarchien seien das A und O. «Wenn wir nicht da sind, werden die Kunden von unseren Planern betreut», sagt Barbara Brügger - man müsse Verantwortung teilen und abgeben können und dem Team vertrauen. Pascale Berclaz bezeichnet das Arbeitsmodell als «Win-win-Situation», denn auch die Firma profitiere davon: «Sie bezahlt ein halbes Hirn und erhält ein ganzes.» In einer Führungsposition könne sie an Feierabend nicht den Stift ablegen und mit freiem Kopf nach Hause gehen: «Ich bin zwar physisch nicht immer anwesend, geistig aber hundertprozentig», sagt die 34-Jährige. Sie sei übers Handy jederzeit für ihre Kunden erreichbar, checke alle drei bis vier Stunden ihre E-Mails und denke sich mit dem Kind auf dem Arm und dem Kochlöffel in der Hand auch mal eine Idee für die neue Präsentation aus. Einzig wenn eine wichtige Präsentation anstehe - das sei etwa fünf- bis sechsmal im Jahr -, werde auch sie zum «Workaholic», «aber da wird die ganze Familie vorgewarnt», fügt sie lachend hinzu. Ihr Sohn schicke ihr jeweils ein SMS mit dem Text «Viel Glück Mami».

Das schlechte Gewissen

Die Doppelbelastung könne einen jedoch auffressen, sagt Pacale Berclaz. Das sei wohl auch der Grund, weshalb sich viele Mütter gar nicht auf eine leitende Funktion einliessen - «Agenturarbeit ist auch ohne Familie ein sehr stressiger Job.» Die grösste Herausforderung sei jedoch das «latent schlechte Gewissen». Gegenüber den Kindern, aber auch gegenüber dem Team. Berclaz erzählt, wie ihre kleine Tochter an diesem Morgen einen Schreikrampf hatte und partout nicht wollte, dass ihr Mami arbeiten geht. Oder von jenen Tagen, wo auf der Arbeit Stress ansteht und ausgerechnet dann ein Kind krank wird. In Krisensituationen komme das Kind an erster Stelle, sagen die drei Frauen einstimmig. Und auch wenn einmal nicht alles klappe, «Unverständnis von Seiten der Kunden gab es noch nie, im Gegenteil - sie zeigen jeweils Anteilnahme», sagt Berclaz.

Im gesellschaflichen Umfeld stossen die drei Frauen allerdings häufig nicht auf Verständnis; «Rabenmutter» und «karrieregeil» seien immer wieder gehörte Bemerkungen. «Und wenn in der Schule etwas nicht läuft, heisst es immer gleich: Die Mutter arbeitet», sagt Pascale Berclaz, die auf dem Land wohnt und ihre Kinder von einem Au-pair betreuen lässt. Das Problem sei, dass «die Solidarität unter den Frauen fehlt», sagt Romy Freiburghaus - gerade auch am Arbeitsplatz.

Die Frau und die Emanzipation

Angesprochen auf die Mitarbeit der Männer in der Familie, verstummen die Frauen. Das sei ein delikates Thema, sagen sie. Wenn ein Kind krank sei, bleibe sie zuhause, sagt Romy Freiburghaus. «Die Frauen sind heute emanzipiert - sie tragen aber nach wie vor viel mehr Verantwortung für Haus und Kinder», sagt Barbara Brügger. Die 33-Jährige teilt die Betreuung ihrer Tochter mit ihrem Mann. Man müsse «Männer mehr ins Gebet nehmen», sagt sie. Bei ihnen stosse die Forderung nach Teilzeit allerdings auf noch mehr Widerstand als bei Frauen.

Die Frau und die Werbung

Sie seien keine Quotenagentur. Und dennoch - Frauen tun der Branche gut, davon ist man bei Freiburghaus und Partner überzeugt: «Frauen haben viel Einfühlungsvermögen und ein gutes Gespür für Kunden», sagt Barbara Brügger. Ausserdem sei die Werbung «eine aufgeblasene Branche» - als Mutter nehme man die Dinge gelassener. «Wenn ich abends mein Kind schlafen sehe, relativiert sich der Stress um die Werbekampagne», sagt Pascale Berclaz. Das spiegle sich auch in der Werbung wider: «Wir wollen keine schreierische, sexistische Werbung mit dem letzten Humor machen. Sondern ehrliche.»

Auch Simon Freiburghaus ist überzeugt, dass die «exotische Führungsstruktur» mit den Frauen in der Leitung die Agentur präge. «Nicht weil sie Frauen sind, sondern wegen ihrer Doppelverantwortung in Job und Familie», sagt er. Sie setzten die Investitionen der Kunden pragmatischer und zielorientierter ein als andere Agenturen: «Wir schlagen einen Vernunftsweg ein. Wir wollen keine Werbung als ,l’art pour l’art‘. Und bleiben trotzdem authentisch.»

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 6. September 2005 im "Bund".​

Keuchend den Alten Schyn hinauf
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BIKEN IN GRAUBÜNDEN

Nach jedem Aufstieg eine rasante Abfahrt, hinter jedem Berg eine neue Welt. Wer mit dem Bike durchs Bündnerland fährt, zieht an romantischen Auen vorbei, bezwingt steile Pässe und fährt durch malerische Dörfer. Nun soll der Gebirgskanton als Bikerhochburg vermarktet werden.

Es ist nicht nur das prächtige Schloss des SVP-Bundesrats, mächtig über dem Hinterrhein thronend, das den Bikertrupp zum Stoppen bringt. Es ist auch der Ausblick auf das sprudelnde, milchig-blaue Wasser, das in Rhäzüns über die Steine fliesst, es ist die kahle, steile Schlucht, es sind die tannengrünen Berge. Sie bieten eine lohnende Gelegenheit für ein erstes Ausschnaufen seit dem Beginn der Bike-Tour in Chur. Vier Tage soll die Reise dauern, quer durch die vielen Landschaften des gebirgigen Kantons.

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150 Täler zählt Graubünden, der flächenmässig grösste Kanton der Schweiz, und jedes davon hat seine eigene Landschaft und Geschichte. Diese Vielfalt macht das Bündnerland für den Biker interessant: Es gibt unzählige Pässe zu bezwingen, steile Abfahrten auf Schotterwegen oder schmalen Pfaden, Single-Tracks genannt, aber auch sanfte Wege entlang von Flüssen und Auen. Viel schneller als der Wanderer und doch in dessen Spur, kann der Biker inmitten der Natur in kurzer Zeit stattliche Distanzen zurücklegen. «So viele ungeteerte Strassen, Wander- und Forstwege gibt es in der Schweiz in kaum einer anderen Region», sagt Gerd Schierle aus Parpan, der als «Bike-Explorer» bekannt ist - unter diesem Label bietet er Tourenvorschläge, Infos und Bike-Karten an.

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Sanft führt der Weg ins hügelige Domleschg. Grasende Kühe beobachten mit gewohnter Gleichgültigkeit die keuchenden Biker. «Burgenland von Graubünden» wird das Tal genannt. Tomils, Paspels, Scharans - die schmucken Dörfer sind menschenleer, die Zeit scheint still zu stehen. Kein Laut ist zu hören, nur das Zirpen der Grillen und das Knirschen der Räder. Häuser und Menschen passen sich der Landschaft, ihrer Ruhe und Intensität, an.

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Wer mit dem Bike durch Graubünden fährt, kommt zwar auch wegen der Ruhe in den Bergen - sucht jedoch immer auch die Herausforderung: Er will Kilometer runterspulen, Höhenmeter bezwingen. «Viele Touren beginnen hier bereits auf 1000 oder 1500 Metern», sagt Schierle, «erst auf dieser Höhe wird es spannend.»

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Scharans liegt auf 760 Metern. Lenzerheide auf 1500. Fast bedrohlich ragt die Bergwand des Alten Schyn vor dem anfahrenden Biker in den Himmel. Der Weg wird steiler, schmaler und steiniger, im kleinsten Gang strampelt man in der brütenden Hitze langsam empor. Die Zeit, Schmetterlinge zu beobachten und die Landschaft zu bestaunen, findet man erst oben. Dieses Gefühl, den Gipfel erreicht und die Strapazen überwunden zu haben, ist es, was viele Biker überwältigt. Und dann die Abfahrt ins nächste Tal, in vollem Tempo den Abhang hinunter, das Fahrrad auf dem losen Geröll der Schotterwege balancierend. Einem Wanderer begegnet man so gut wie nie.

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Erstellt wurden die vielen Wege für Wanderer - erst in den letzten Jahren wurden sie von den Bikern erobert, was von der Wanderlobby nicht immer goutiert wurde. «Biken war bis vor einem Jahr ein rotes Tuch im Graubünden», sagt Claudio Duschletta von Engadin Tourismus. Das solle sich nun ändern, denn es komme fast nur im Tal zu Problemen zwischen Velofahrern und Spaziergängern, «in der Höhe gibt es kaum Konflikte».

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Von Lenzerheide führt der Weg auf schmalen Single-Tracks nach Alvaschein und ins Landwassertal, vorbei am berühmten, hundertjährigen Landwasserviadukt der Rhätischen Bahn. Man fährt durch tiefe Wälder, das Bike muss hier über einen Baumstamm getragen, dort über steile, verwurzelte Wegstücke gestossen werden. Wer schliesslich von Bergün ins Engadin gelangen will, hat die Wahl: Er nimmt die 900 Höhenmeter des Albulapasses unter die Räder - oder setzt sich zwischen die Touristen in der Rhätischen Bahn, die über viele Rundtunnels und Viadukte den Albula passiert: Die gemütliche Version, einen Pass zu überwinden.

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Nicht nur die Rhätische Bahn, die in fast allen Zügen Selbstverlad von Bikes anbietet, auch die Touristiker haben das Potenzial von Graubünden als Biker-Destination erkannt. Mit Bike-Karten, geführten und ausgeschilderten Touren, Bikeparcours, Downhillstrecken, GPS-Touren (Text unten), Rennen und Bike-Hotels wollen sie das Wanderparadies nun auch zur Bikerhochburg machen - in der Hoffnung, so den Sommertourismus anzukurbeln. Einzig die Bergbahnen machen nicht mit - viele Betreiber weigern sich, die sperrigen Bikes zu transportieren.

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Hinter dem Albula ist das Tor ins Oberengadin, in eine neue Welt - das Tal erstreckt sich mit sanften Steigungen von Pontresina nach Zernez, durch steile Bergketten hindurch. Ein Radweg dem Inn entlang führt an romantischen Auenseen vorbei, in denen sich die Berge spiegeln. Alte, schöne Häuser mit Sgraffito-Verzierungen stehen neben protzigen Ferienhäusern ohne Charme. Erst im Unterengadin in Lavin oder Guarda, Ardez oder Ftan findet man in die engen, malerischen Bündner Dörfer und zum sanfteren Tourismus zurück. Die Brunnen warten stets mit frischem Wasser - in Scuol sprudelt gar säuerliches Mineralwasser aus dem Dorfbrunnen.

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Biken boomt, und an Initiativen fehlt es nicht. Gute Karten und Infos zu Wegbeschaffenheit, Kondition- und Technikanforderung sind für den Biker von Auswärts ein Muss, denn nicht alle Wanderwege sind auch mit dem Bike passierbar. Zwar bietet die Dachorganisation «Graubünden Ferien» verschiedene Informationen an, doch der Individualbiker muss sich durch etliche Webseiten, Tourenangebote und Prospekte kämpfen - es sei denn, er fährt nach einem Führer, der Tourenvorschläge, Karten und Infos im Internet, als Buch oder auf DVD anbietet.

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Nicht nur um das Bike zu schonen verlässt man das Engadin wieder im roten Zug, diesmal durch den Vereina-Tunnel ins Prättigau. Hier ist alles grüner, die Berge sind hügeliger, die Häuser aus Holz, die Sprache wieder Deutsch. Und Chur rückt immer näher.


Zweittext:  

Mit GPS in die Berge

Biken fast ohne Karte - immer mehr Bike-Touren in Graubünden werden mit Navigationssystem angeboten

Wer seine Ferien in Lenzerheide mit Biken verbringen will, hat es einfach: Er sucht sich im Tourismusbüro oder Internet eine Tour aus, lädt sie für wenige Franken auf sein - oder das gemietete - GPS-Gerät und fährt los. GPS, kurz für Global Positioning System, ist Zukunftsmusik für den Biketourismus: Das Gerät ist nicht viel grösser als ein Handy, wird am Lenker befestigt und zeigt dem Biker via Satelliten Standort und Fahrtroute an - er muss einzig der roten, einprogrammierten Linie nachfahren. Regelmässiges Halten und Kartenlesen bei jeder Kreuzung gehört somit der Vergangenheit an, der Biker kann wortwörtlich «seiner Nase» nach fahren.

GPS ist im Grunde das Satelliten-Navigationssystem des US-Verteidigungsdepartements. 28 Satelliten kreisen um die Erde und senden Informationssignale aus. Das GPS-Gerät empfängt diese und errechnet so seine Standortkoordinaten aus - bei gutem Empfang bis auf 3 Meter genau. Was für Biker von Vorteil ist: Der virtuelle Führer berechnet auch zurückgelegte und noch zu bewältigende Distanz, Höhenmeter und Geschwindigkeit.

Der virtuelle Führer

Statt selber Touren zu planen und auf gut Glück abzufahren, bietet sich GPS also gerade für den ortsfremden Biketouristen an. Lenzerheide bietet insgesamt 20 Touren an, von einfach bis schwierig, von leicht bis anstrengend. Ausführliche Angaben zum Schwierigkeitsgrad der Route, Aussichtspunkten und Wegbeschaffenheit wird in einem handlichen Führer mitgeliefert. GPS-Touren werden auch in Savognin und im Münstertal angeboten, in anderen Bündner Ferienorten wird das Angebot aufgebaut. GPS-Touren sind auch im Internet herunterladbar, Vorsicht ist jedoch geboten bei Anbietern, die ihre Tourenvorschläge nicht selber abgefahren sind.

«GPS ersetzt die Karte nicht»

So einfach das System ist - es darf nicht überschätzt werden, sonst steht man bald ratlos an der nächsten Kreuzung. «Wer GPS benutzt, muss wissen, was es kann und was es nicht kann», sagt «Bike-Explorer» Gerd Schierle, der seit 15 Jahren Biketouren recherchiert und diese nun auch als GPS-Touren anbietet. «Wenn es regnet, hat man im Wald keinen Empfang», sagt er. Schlecht sei der Satellitenempfang auch in Schluchten oder an Hängen mit steiler Neigung, «da ist man schnell einmal um 30 Meter verschoben». Nicht zu vergessen sei auch ein möglicher technischer Defekt oder ganz einfach leere Batterien. «GPS wird immer nur ein Zusatzhilfsmittel sein, die Karte ersetzt es nicht», sagt der ehemalige Profirennradfahrer und -biker. Er sieht denn auch eine Gefahr, wenn unerfahrene Touristen per GPS durch Berge und Wälder kurven. Denn wenn das Gerät versagt, können sie froh sein, wenn sie den Weg zurück wiederfinden.

Infos für Biker

Bike-Touren: www.graubuendenferien.ch; Biken o. Gepäck: engadinferien.ch, daroserheide.ch; Gourmet-Tour: bike-gourmet-tour.ch; rad-bike-arena.com; Nationalpark-Bike-Tour/Wellness-Tour: scuol.ch.

Bike-Führer: bike-explorer.ch (Graubünden, Top of Graubünden, Mittelbünden, Unterengadin); Veloland Schweiz (Band 6); MTB-Bikeführer von Vital Eggenberger; Cycline MTB-Guide Engadin.

Bike-Karten: graubuendenferien.ch, biketrailmap.ch.

GPS-Touren: bikerheide.ch, bike-explorer.ch. Miete GPS: 25 Franken.

Bike-Hotels: Mit Bikekeller, Werkstatt, Bikernahrung, Wäscheservice: bikehotels.ch, Lenzerheide: bikerheide.ch, Scuol: bellaval-scuol.ch, Pontresina: sporthotel.ch.

Bike-School: frischibikeschool.ch

Bike-Park: In Samedan und Scuol.

Bike-Events: Swisspower Cup, Samedan, 20.-21. Aug.; Nationalpark Bike-Marathon, Scuol, 15. Aug.

Bike-Transport: Tageskarte RhB: 15/10 Franken (o./m. Halbtax).

Text: Manuela Ryter

Diese Reisereportage erschien am 11. Juli 2005 im "Bund". 

 

Wenn Amors Pfeil durchs Netz schiesst...
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. . . trifft er nur gelegentlich - wie im richtigen Leben auch: Partnersuche via Internet boomt, beglückt und bricht einsame Herzen

Unzählige Singles suchen im Internet die grosse Liebe. Ob sie sie auch finden, hängt jedoch nach wie vor vom Zufall ab. Yuly und Andreas Kohli haben sich im Netz gefunden. Claudia Meyer zieht ernüchtert Bilanz.

Es begann am 26. Juli 2001. Andreas Kohli, wohnhaft in Niederwangen und seit einem halben Jahr Single, surfte im Internet, hielt Ausschau nach einer Partnerin. Es war sein 30. Geburtstag. Auf amigos.com stiess er auf eine «bezaubernde» Frau mit dunkelbraunen Augen und sanft gewelltem Haar. Er klickte ihr Lächeln an. Profil: Kolumbianerin, Verwaltungsangestellte und - genau wie er - am 26. Juli 1971 geboren. Er schrieb ihr ein Mail und gratulierte zum Geburtstag. Drei Monate später, im Flughafen von Bogotà, gab Andreas Yuly den ersten scheuen Kuss auf die Wange. Dann ging alles schnell.

«Ich sehnte mich nach Kolumbien, das ich vom Reisen gut kannte. Da dachte ich: Wenn ich schon nicht gehen kann, suche ich mir eben eine Bekanntschaft über Internet», erzählt Andreas. Yuly arbeitete viel und ging selten aus - eine Freundin hatte sie deshalb überredet, ihr Profil ins Internet zu stellen. Sie wurde mit Mails überschwemmt, doch es ergab sich nichts - bis jenes von Andreas kam. «Ich antwortete ihm, obwohl sein Foto schlecht war», erzählt sie und lacht. Sie sitzt auf dem sonnigen Balkon der Wohnung in Niederwangen, in die sie vor knapp vier Jahren - nur gerade 12 Tage nach dem ersten Treffen in Bogotà - mit dem ihr noch fremden und doch so nahen Mann gezogen war. Dem ersten Mail folgten täglich weitere, sie schickten sich Fotos, erzählten von Freunden und Familie. «Wir merkten schnell, dass da mehr war», sagt Yuly und sieht Andreas strahlend an. Wenn die beiden ihre Geschichte erzählen, so ist es, als erzählten sie ein Märchen. Etwas, das sich viele wünschen, aber nicht finden. Etwas, das viele nicht für möglich halten, aber trotzdem suchen: Die Liebe über Internet.

Der Boom der (virtuellen) Liebe

Die Partnersuche via Internet boomt, das Angebot für einsame Singles wird immer grösser. Es gibt auch Seiten für Teenies, solche für Betagte, für HIV-Positive, für Homosexuelle, für Leute, die nicht Liebe, sondern One-night-stands oder nur Freundschaften suchen. Laut Schätzungen der Anbieter besuchen täglich rund 200 000 Schweizer und Schweizerinnen Single-Börsen im Internet. Seit 2002 verdreifachten sich die Benutzerzahlen des Gratisportals singles.ch auf 30 000, Durchschnittsalter ist 34. Ähnliche Erfolge verzeichnen auch kostenpflichtige Anbieter wie swissfriends.ch.

Während die Hemmschwelle, sich im Internet den geeigneten Partner zu suchen, sinkt, steigt die Bereitschaft, mit der (virtuellen) Liebe zu spielen. Besonders Männer - sie machen drei Viertel der Anzeigen auf singles.ch aus - nutzten die Partnerbörsen oft aus, sagt Daniel Hauri, der singles.ch vor fünf Jahren gegründet hat: «Für viele Männer ist das Portal wie ein Weihnachtsbaum - sie wollen so viele Päckli wie möglich auspacken.» Auch «Spinner», die den Frauen unanständige Mails zuschickten, seien ein Problem: «Ein einziger Mann kann so hundert Frauen vom Netz vertreiben.»

Das Spiel mit der Liebe

«Viele Männer sehen das Ganze nur als Spiel und wollen gar keine feste Beziehung eingehen», sagt auch Claudia Meyer (Name geändert) aus Münsingen. Die Internetportale seien zwar eine gute Sache, denn man lerne schnell viele Leute kennen. «Vielleicht zu schnell», sagt sie. Ihr sei die Lust, die Liebe im Internet zu suchen, jedenfalls vergangen. Ein halbes Jahr lang hat sich die 27-Jährige nach der Auflösung ihrer langjährigen Beziehung auf Partnerbörsen registriert. Sie hatte immer wieder Dates, mit dem einen oder anderen Mann kam es zum Techtelmechtel. Es klappte jedoch nicht: «Entweder waren die Männer nicht mein Typ oder sie nahmen die Sache nicht ernst», sagt die Sachbearbeiterin. Die Erwartungen seien grösser als bei einem normalen Rendez-vous, «denn hier ist es beiden klar, worum es geht». Nach mehreren Enttäuschungen änderte Meyer die Strategie: Sie suche nun nach Freundschaften. Vielleicht lerne sie in einem neuen Freundeskreis eher einen Partner kennen als über die Suchkriterien im Internet. Denn: «Ich suchte Männer zwischen 25 und 35 Jahren. Vielleicht war der Richtige aber 36.»

Liebe lasse sich nicht über Datenbank-Kriterien steuern, sagt auch Jörg Eugster von swissfriends. ch, der grössten Dating-Seite der Schweiz. Trotzdem fänden viele Paare via Internet zueinander: Laut eigener Umfrage unter Swissfriends-Benutzern und Benutzerinnen waren es seit 2002 über 10 000 Paare, 800 haben geheiratet «und 547 Babys wurden dank Swissfriends geboren».

Die Tücke der Liebe

Auch bei Yuly und Andreas Kohli begann die Liebe mit dem virtuellen Spiel «Der gefällt mir, dieser nicht». Doch als Amors Pfeil am 26. Juli 2001 durchs Netz schoss, hat er die zwei getroffen. Für viele andere ging die Routinesuche am Computer mit den oft frustrierenden Blinddates weiter. Denn die Liebe ist tückisch. Auch im Internet.

[i] Die Liebe im Internet

findet sich auf folgenden Seiten (Liste unvollständig): singles.ch, swissfriends.ch, parship.ch, friendscout24.ch, partnerwinner.ch

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 18. Juni 2005 im "Bund".​

Schönheitsputzete und Schmusestunde
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Tierisches Aufwachen an der BEA

Putzen, füttern, striegeln, streicheln - auf dem BEA-Gelände geht der Tag schon lange vor den ersten Besuchern los. Kühe werden gemolken, Rennschweine auf Trab gehalten - nur die Fohlen bleiben liegen.

Lilian, von edler Rasse - «Red Holstein», steht auf der Tafel über ihr -, macht grosse Augen, dreht den Kopf und schaut im BEA-Zelt umher, blinzelt und schnuppert am Stroh, in welches sie weich gebettet liegt. Gleichgültig schaut sie zu ihrer Nachbarin hinüber - es ist eine Simmentaler Fleckviehkuh - und gibt keinen Laut von sich. Es ist noch früh, die BEA-Hallen sind fast menschenleer, doch Lilian ist schon gemolken, gewaschen und gestriegelt, ihr Bauch ist gefüllt, das Stroh gewechselt. Lilian ist eine gemütliche Kuh. Und gemütliche Kühe kauen auch gemütlich vor sich hin, wenn sie herausgeputzt mit rund hundert Hinterwäldler Chälbli, Eringer Kampfkühen und Charolais-Rindern in einer Ausstellungshalle liegen, in Auslaufboxen oder, wie Lilian, schön in einer Reihe.

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Ganz so gemütlich nimmt es die Stallmannschaft zwei Stunden vor Türöffnung der BEA nicht, doch auch sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Gemächlich führen die Landwirte Neptun, Blümchen und Coletta nach draussen, duschen und schrubben sie, bis sie dampfen, während der Tierarzt seine Runden macht. Punkt 9 Uhr müssen die Tiere bereit sein für den Ansturm tierliebender Städter, fachsimpelnder Landwirte und kreischender Kinder, doch noch ist es still, ja fast bedächtig still in den Hallen. Nur aus der Ecke der Jungzüchter trällert leichte Popmusik.

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Die Musik sei zur Unterhaltung, sagt Adrian von Känel aus Aeschiried, während er das Melkgeschirr abspült. Und für die Kühe sei sie ein Signal, «dass es losgeht». Bereits um 4 Uhr werden die Tiere gemolken, damit sie um 16 Uhr für das grosse Schaumelken bereit sind. Das mache ihm nichts aus, sagt der 20-jährige von Känel - schliesslich sei es eine grosse Ehre, ja gar der Bubentraum eines jeden Landwirts, einmal BEA-Melker zu sein. Nicht nur Melken und Ausmisten - auch Streicheln gehöre zur morgendlichen Tätigkeit, sagt Tabea Kobel, denn «auch Kühe brauchen Zuneigung». Einige seien richtige «Hätschelis», sagt die junge Landwirtin, manche Tiere stellten sich ihr jeweils gar in den Weg, damit sie sie «chräbele».

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In der Pferdehalle ist der Betrieb lebhafter, es wird gewiehert und geschnaubt - nur die Fohlen liegen noch schläfrig im Stroh. Nicht so Darkys Reckless: Das schwarze «Füli» tollt sich übermütig aus - es werde mit jedem BEA-Tag frecher, sagt seine Besitzerin. Ein Fohlen leckt die letzten Flocken aus dem Futtertrog, während nebenan Flamenco wütend schnaubt: Tarifa, «seine» trächtige Stute, wurde kurz aus ihrer Box entführt, damit diese gereinigt werden kann. Das BEA-Gelände erwacht langsam, auch wenn die Wege zwischen den Hallen noch leer sind. Aussteller, Züchter und Brezelbäcker putzen ihre Stände, die Rennschweine werden auf Trab gehalten, und auch die wolligen Lamas stellen sich allmählich auf ihre Beine und knabbern am saftigen Gras.

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Die Uhr schlägt neun, und schon kommen Familien, ältere Ehepaare, pubertierende Jugendliche, Landwirte in Helly-Hansen-Jacken. Kinder mit roten Backen drängeln zu den Berner Sennenhunden, streicheln die Geissen, quetschen sich zu den rosaroten «Säuli» und kraulen sie hinter den Ohren, langen durch die Gitterstäbe zu den «Fülis», streicheln die Hasen im Gehege. Und als um 10 Uhr das Säulirennen losgeht, wird um freie Plätze gekämpft. Draussen hat sich das Areal gefüllt, das Riesenrad dreht seine Runden, es riecht nach Bratwurst und Magenbrot. Eine Hexe krächzt aus einem Lebkuchenstand und ein Werbe-Gemüseschnetzler schnetzelt Zwiebeln und Karotten. Hunderte Besucher warten am Eingang, drängeln und drücken.

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Lilian zerkaut indes ein neues Büschel Heu. Sie lässt sich mustern und bewundern, macht grosse Augen, kaut und blinzelt. Gleichgültiger als je zuvor.

Text: Manuela Ryter

Dieses Feature erschien am 6. Mai 2005 im "Bund".​

Ski fahren auf Wolke 7
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13 Sehbehinderte sind mit dem Skikurs der Blindenskischule Frutigen auf der Piste

Sie fahren mal schnell und mal vorsichtig, geniessen den Wind in den Haaren und die Sonne auf dem Gesicht - einzig die Berge können sie nicht sehen. 13 Sehbehinderte aus der ganzen Schweiz fahren bis am Freitag mit der Blindenskischule Frutigen Ski - ein jeder im Team mit seinem Skilehrer.

Mit Sonnenbrille und roter Mütze steht Sabine Reist auf der Piste und fährt langsam los, ihre Skilehrerin Katrin Ramu dicht hinterher. Es ist noch früh, die Sonne wirft die ersten Strahlen in die verschneite Berglandschaft auf der Elsigenalp. Synchron fahren die beiden in grossen Bögen die Piste hinunter, Ramu wirft alle paar Momente einen kontrollierenden Blick nach hinten. Der Schnee knirscht laut unter den Skiern. Unten angekommen, lässt sich Sabine in den Schnee fallen. Sie lacht und geniesst die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Über der Skijacke trägt sie eine Weste mit der Aufschrift «Sehbehindert». Sabine ist fast blind - nur mit dem linken Auge kann sie Umrisse erkennen. Aber das bringe ihr beim Skifahren nichts.

Skilehrer und Blinde im Team

Ihre eigenen Augen können die 13 Sehbehinderten, die seit Freitag am Skikurs der Blindenskischule Frutigen teilnehmen, nicht oder kaum gebrauchen. Umso mehr sind sie auf jene ihrer Skilehrer angewiesen. Zu zweit fahren sie die Piste hinunter, mal schnell und mal vorsichtig, wie alle anderen auch, - aber eben im Team, mit nur einem Paar sehenden Augen.

Die Vertrautheit unter den Teilnehmern und Skilehrern ist gross, die Freude offensichtlich: «Es ist auch für uns eine Bereicherung, mit sehbehinderten Menschen zusammenzuarbeiten», sagt Urs Ramu, der die Blindenskischule Frutigen leitet. Er hat Erfahrung mit blinden Gästen: 1988 gründete er die Blindenschule mit anderen Skilehrern - das Know-how erlernten sie von Blindenskilehrern aus St. Moritz. Heute geben sie 320 Halbtageslektionen pro Jahr. «Das ist nur möglich dank einem Fonds der Skischule und dem Entgegenkommen der Bahnen - auf der Elsigen- und Engstligenalp sowie in Aeschi fahren die Blinden gratis.»

Schneller als mit Blindenhund

Blind Ski zu fahren ist für Sehende unvorstellbar: Mit Geschwindigkeit ins Schwarze zu brettern und eine Piste hinunterzukurven, deren Hangneigung, Buckel, Eisschichten und Schanzen man nicht sieht, einzig der Stimme des Skilehrers vertrauend? Schon beim kurzen Selbstversuch verliert man sofort Orientierung und Gleichgewicht, und die Skier verkanten im harten Schnee.

Für sie sei das ganz normal, sagt Sabine Reist. Sie sei nun schon zum vierten Mal mit dabei: «Ich stelle mir das Gelände - und auch die Bergwelt - dank den Beschreibungen vor, wie auf einem Foto», erklärt sie. Sie liebe die Geschwindigkeit, mit der sie die Pisten hinunterflitzen könne, sagt die 23-jährige KV-Angestellte aus Zuchwil. Sie geniesse es, einmal schneller unterwegs zu sein, als mit ihrem Blindenhund, und den Wind im Gesicht zu spüren. Angst habe sie dabei keine - Vertrauen in andere gehöre zu ihrem Alltag.

«3-2-1-Abbügeln»

Über einen Funk im Ohr erhält Sabine Reist die Anweisungen ihrer Skilehrerin: Auf das Kommando «3-2-1-Abbügeln» lässt sie den Bügel los, und als Katrin Ramu ihr sagt, sie könne «nach elf Uhr abfahren», fährt sie los, ein wenig links gerichtet. Wie beim Essen werden die verschiedenen Richtungen auch beim Blindenskifahren nach dem Zifferblatt angegeben: Zwölf Uhr ist dort, wo die Skier hinzeigen, neun Uhr ist 90 Grad links davon, drei Uhr rechts.

Sabine Reist fährt ohne Zögern los, Katrin Ramu dicht hinter ihr her: «Liiiinks, rechts, liiiinks, rechts», spricht diese in ihr Mikrophon. Je länger ein Wort ausgesprochen wird, desto grösser soll der Bogen werden. In leichter Rücklage erspürt sie mit den Skiern den Schnee, fährt die Kurven aus und carvt sogar - auf Kommando. «Blinde haben beim Skifahren eine andere Körperhaltung, denn sie agieren nicht wie Sehende, sondern sie reagieren», sagt Katrin Ramu. Der Kontakt dürfe deshalb nie abbrechen. Das sei auch für sie eine grosse Herausforderung: «Man muss den Gast auf alle Seiten abschirmen und ihm gleichzeitig exakte Anweisungen geben», sagt sie, das erfordere extreme Konzentration.

Dem schwarzen Strich hinterher

Sehbehinderte, die genügend sehen können, fahren dem Skilehrer nicht voraus, sondern hinterher. Roberta Angelini aus Basel sieht zwar nicht, ob nun Piste, Tiefschnee oder Eis vor ihr liegen, aber sie sieht einen schwarzen Strich, dem sie hinterherfährt - es ist ihr Skilehrer. Es gehe ihr jedoch nicht nur ums Skifahren, sagt die aufgestellte Italienerin mit den pechschwarzen Augen: Sie mache auch gerne mal eine Pause zum Plaudern oder geniesse die Sonne.

Fasziniert vom Skifahren sind sie alle: Die Tessinerin Marija Barsic erzählt, sie spüre beim Fahren ein riesiges Freiheitsgefühl. Für die Bernerin Doris Stalder ist Ski fahren nicht Freiheit - schon eher hartes Training: «In Bewegung kann man nicht alles ertasten - was unter meinen Skiern passiert, muss ich spüren», sagt sie. Sie gehe jeweils auch in die Tourenwoche und das Hochgebirgslager, die wie dieser Skikurs vom Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) ausgeschrieben und mitfinanziert werden. Durch dieses Training werde sie auch in der Stadt viel sicherer.

Und sie geniesse es, sich einfach mal führen lassen zu können, ohne Angst, irgendwo anzustossen: «Hier kann ich ausklinken. Die vielen Schwierigkeiten, die sich im Alltag tagtäglich stellen, gibt es hier nicht - es ist wie auf Wolke 7», schwärmt die medizinische Masseurin. Sie sei sehr dankbar, dass sich Sehende so viel Mühe geben, um ihnen dieses Erlebnis zu ermöglichen - «wir sind wie eine grosse Familie».

Text: Manuela Ryter

Diese Reportage erschien am 20. Januar 2005 im "Bund". ​

«Nervös wie vor der Hochzeit»

Rania Bahnan Büechis erste Sitzung im Berner Stadtrat.​

Auf der Treppe des Berner Rathauses wartet Rania Bahnan Büechi mitten im stolzen, um fünf Mitglieder gewachsenen GFL-Stadtratsgrüppchen. Etwas verloren steht sie da, elegant gekleidet in Jupe und Bluse, und lächelt verkrampft in die Kameras. Wie die anderen drei «Neuen» hält sie das grüne Pflänzchen, ein Begrüssungsgeschenk ihrer Fraktion, fest in ihren Händen.

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Sie sei unglaublich nervös, sagt sie, «wie vor meiner Hochzeit». Rania Bahnan Büechi lacht beim Reden und schaut sich aufgeregt um. Der Platz vor dem Rathaus füllt sich allmählich, die Politiker trudeln ein und begrüssen sich zur ersten Sitzung des neu besetzten Stadtrats. Sie kenne kaum jemand von ihnen, sagt Bahnan. Kurz zuvor habe sie bei einer Einführung die 21 weiteren neuen Stadträte und Stadträtinnen kennen gelernt. Sie sei etwas zu spät gekommen, in der Aufregung an den falschen Ort gegangen. Sie sei heute sowieso etwas zerstreut - den Sitzplan habe sie vergessen, das Handy auch.

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Bisher habe sie immer gedacht, es gehe ja erst im Januar los, jetzt aber gelte es ernst. Bahnan betritt das Rathaus, in der einen Hand die violette Jacke, in der anderen das Pflänzchen, und schaut sich etwas unsicher in der riesigen Eingangshalle um. «Schön ist es hier», sagt sie, als sie die Treppe hinaufsteigt und in die Wandelhalle mit den roten Sesseln kommt. Ein Hauch von Stolz gleitet über ihr Gesicht.

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«Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Politikerin werde», sagt Bahnan. Mit ihrer Wahl habe niemand gerechnet, weder sie noch die Partei. Bis im Frühling 2004 war die Palästinenserin, die in Libanon aufgewachsen ist, in den USA studiert hat und 1992 mit ihrem Mann - einem Appenzeller - nach Bern kam, parteilos. Dann wurde sie von der GFL für eine Kandidatur angefragt. «Die Partei wollte Migrantinnen ein Gesicht geben», sagt sie.

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Bahnan wurde überrumpelt. Heute freut sich die 41-Jährige jedoch, dass es so gekommen ist: «Es ist eine grosse Herausforderung, aber genau das mag ich.» Zwei Fraktionssitzungen hat sie schon hinter sich - die Themen «Wie halte ich eine Rede» oder «Wie mache ich ein Postulat» stehen noch an. Bahnan geht langsam in den Ratssaal, sucht ihre Parteikollegen und setzt sich an ihren Platz neben GFL-Fraktionspräsident Ueli Stückelberger. Das grüne Pflänzchen stellt sie vor sich aufs Pult. «Ich hoffe, dass es in den vier Jahren wachsen wird.»

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Als Politikerin kennt man Bahnan in Bern noch nicht - als Expertin in Migrationsfragen hat sie sich jedoch einen Namen gemacht: In einem IKRK-Interventionszentrum fand sie ihren ersten Job in der Schweiz, dann wechselte sie zum Migrantinnenprojekt Wisdonna des Christlichen Friedensdienstes. Sie gründete die Fachstelle für Medizinische Hilfe für illegalisierte Frauen «MeBif», gibt neben ihrer Arbeit als Psychotherapeutin Kurse zum Thema Migration, ist in Vereinen für palästinensische Migranten aktiv, und bis vor kurzem sass sie in der Fachkommission für Integration der Stadt Bern.

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«Migration und die Sans-papiers werden auch im Stadtrat meine Anliegen sein», sagt Bahnan. Sie habe nicht die Illusion, als Stadträtin die Welt zu verändern, «aber es wäre schön, in Bern etwas zu bewegen». Bei ihrer Arbeit mit den Migrantinnen sei sie immer wieder an «strukturelle Barrieren» gestossen, das habe ihr Bedürfnis, etwas zu verändern, geweckt.

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Nun sitzt Rania Bahnan Büechi aber noch ruhig an ihrem Pult und hört gespannt der Begrüssungsrede des neu gewählten Stadtratspräsidenten Philippe Müller zu. Und als die Kommissionen gewählt werden, streckt sie mit den anderen ihre Hand hoch. Hilfsbereit deckt Stückelberger seine «Neuen» mit Erklärungen ein.

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Als Migrantin Berner Politikerin zu sein, darauf ist Rania Bahnan Büechi stolz. Die Kandidatur habe sie jedoch viel Überwindung gekostet, «ich war - wie die meisten Migrantinnen - zu scheu», sagt sie. Die Hemmschwelle, in einem fremden Land politisch aktiv zu werden, sei riesig. Bern sei heute ihre Heimat. Politik sei eine Art, diese Heimat kennen zu lernen. «Ich will dort, wo ich wohne, auch partizipieren.» Bisher habe sie dazu nie Gelegenheit gehabt, denn: Seit ihrer Geburt lebte sie als Migrantin im Ausland - in Palästina war sie noch nie.

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Früh ist die erste Stadtratssitzung beendet. Beim Apéro plaudert Bahnan gelöst und ruhig mit «bekannten Gesichtern» - die meisten aus der SP. Es sei schon eine andere Welt, sagt sie und lacht - sie fühle sich jedoch wohler, als sie gedacht habe. Sie lasse nun alles auf sich zukommen. Und dann werde auch sie etwas dazu beitragen, «dass ein neuer Wind aufkommt». Denn in Sachen Migration könne Bern diesen gebrauchen.

Text: Manuela Ryter
Dieses Feature erschien am 14. Januar 2005 im "Bund".​
Die Generation Erasmus
Kasten: 

Schweiz «stille Partnerin»

Das EU-Programm Erasmus gibt es seit 1987. Es ermöglicht Studentinnen und Studenten, ein bis zwei Semester in einem anderen EU-Land zu studieren. Die EU will damit die «europäische Dimension» in die akademische Welt einbringen und die Hochschul-Zusammenarbeit verbessern. 1995 wurde Erasmus in das EU-Bildungsprogramm Sokrates integriert. Die Schweiz nimmt seit 1992 am Programm teil. 1995 kündigte die EU der Schweiz jedoch die Teilnahme aufgrund des EWR-Neins von 1992. Seither unterstützt der Bund die «stille Partnerschaft» mit 6,2 Millionen Franken pro Jahr. Mit den bilateralen Verhandlungen II wird ab 2007 wieder eine offizielle Teilnahme erwartet. 

Texte: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 13. Dezember 2004 im "Bund".​

Stille, Sturm und der letzte Zopf
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Zibelemärit am Morgen, am Mittag und am Abend: Das Berner Konfetti-Glühwein-Zwiebelkuchenfest, beobachtet auf dem Bärenplatz.

Bedächtig und still ist es um halb fünf Uhr früh auf dem Bärenplatz. Die Zwiebeln liegen bereit, Zwiebelzöpfe, Zwiebelkörbchen, Zwiebelketten, Zwiebeligel. Die Erzeugnisse wochenlanger Arbeit flinker und kräftiger Hände. Der eine oder andere Zopf wird zurechtgelegt, fröstelnd stehen die Verkäuferinnen in der dunklen Nacht hinter dem Stand an der Ecke zur Spitalgasse und warten auf den grossen Ansturm.

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Händereibend werfen sie sich kurze Blicke zu, schenken sich aus der Thermosflasche heissen Kaffee ein und beobachten durch die aufgehängten Zwiebeln hindurch das leise Treiben auf dem Platz. Ein Stand säumt den anderen: Hier werden Kisten voller Zwiebeln unter den Ständen verstaut, dort die farbigen Zuckerzibeli-Ketten aufgetürmt. Die echten schmecken immer noch nach Pfefferminze.

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Erste Besucher tauchen auf, sie gucken sich die Zwiebeln flüchtig an und spazieren am Stand vorbei. Von schräg gegenüber duftet es nach heissem Glühwein und Chnoblibrot. Das passende Frühstück am Zibelemärit, wie jedes Jahr am vierten Montag im November. Links stapelt ein Mann Kisten - sie sind vollgepackt mit Gummihämmern und Konfettisäcklein, säuberlich abgepackt à je hundert Gramm. Bern schläft noch. Doch nicht mehr lange.

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Die fünfte Stunde hat noch nicht geschlagen, als sich die Strassen füllen. Immer mehr verschlafene Gesichter und leuchtende Kinderaugen sind zu sehen. Aus den Individuen wird eine Menschenmasse. Man schaut und staunt und zieht vorbei. Mit jedem einfahrenden Zug und Bus wird es enger und festlicher in den Berner Gassen. Der Lärmpegel steigt an, der Geruch von Glühwein und Knoblauchbrot vermischt sich mit dem von Käsekuchen und Marroni.

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Im Käfigturm schlägt es sechs, doch das Glockengeläut geht unter im Stimmengewirr, der Zibelemärit ist voll im Gang. Nur die gewohnte Kälte fehlt. Glühwein wird trotzdem reichlich getrunken. Und es wird gelacht. Wann darf man schon so viele Streiche spielen wie am Zibelemärit? Wie Piraten sehen die Konfettischützen aus in ihren wollenen Mützen, tief in die Gesichter gezogen. Die meisten schiessen aus dem Hinterhalt und zielen vorzugsweise auf offene Münder. Einige sind mit orangen Plastikpistolen ausgerüstet, oder sie attackieren mit quietschenden Hämmern. Jeder Volltreffer wird mit Kreischen oder Johlen, entschuldigendem Lächeln oder spöttischem Gegröle quittiert.

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Der Morgen graut und das silbrig-rot-blau-gelbe Konfettigemisch bedeckt wie frisch gefallener Schnee den Boden. Die müden Gesichter mit den Glühwein-geröteten Backen gehen zur Arbeit. Jetzt kommt die Stunde der Rentnerinnen und der Car-Touristen. Aus der Romandie, aus Deutschland und aus Frankreich kämen sie, sagt eine Zwiebelverkäuferin. Sie seien sehr interessiert am Zibelemärit, an dessen Tradition und Handwerk. Die Zwiebelzöpfe gehen weg wie warme Semmeln. Der kleine Zwiebeligel kostet 3.50, der grösste Zopf 70 Franken. Einen grossen habe sie schon verkauft, sagt die Verkäuferin. In ihren Haaren hängen silbrige Konfetti.

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Mit fortschreitender Zeit verdichtet sich auch die Menge auf dem Bärenplatz wieder. Herausgeputzte Jungs stehen cool herum, Kinder geniessen ihre Konfetti schmeissenden Väter und filmende Japaner dokumentieren das Schweizervolk. Hinter der Verkäuferin am Stand neben dem Vatter spielt ein Strassenmusiker lässig an die Wand gelehnt Akkordeon und schaut dem wilden Treiben zu, als gehöre er nicht in diese Welt. Seine Musik vermischt sich mit dem poppigen Sound von rechts und den Panflötentönen von links. Mit den Farben und Gerüchen. Die Verkäuferin betrachtet die farbigen Zwiebelzöpfe auf dem Tisch. Es sind die letzten.

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 23. November 2004 im "Bund". ​

Psychiatrie oder Antibiotika
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Punkto Ausmass und Behandlung der «Zeckenkrankheit» Borreliose scheiden sich die Geister

Forscher und Mediziner streiten über Diagnose und Behandlung der von Zecken übertragenen Krankheit Lyme-Borreliose - und verunsichern damit Patienten: Sind deren unerklärliche Symptome, die von Müdigkeit bis zu Lähmungserscheinungen reichen, auf die «Zeckenkrankheit» zurückzuführen?

Es war im März 1998, als Frau S.* zum ersten Mal wegen unerklärlicher Gelenkschmerzen zum Arzt ging. Diagnose: eine bakterielle Infektion durch Streptokokken. Doch die Symptome blieben trotz Behandlung: Ständig hatte sie leichtes Fieber, Gelenk- und Muskelschmerzen, Augenbrennen, Halsweh, Kopfweh oder Konzentrationsstörungen - und niemand wusste recht warum. Im Dezember machte der Hausarzt Blutuntersuchungen. Aber auch sie brachten keine neuen Erkenntnisse. Die Krankheit wurde mit jedem Tag schlimmer. Im April 1999 wurde die selbständige Biologin - bereits seit Monaten bis zu 50 Prozent arbeitsunfähig - ins Spital eingewiesen. «Die Laborwerte ergaben jedoch auch nichts. Die Ärzte sagten, ich sei in den Wechseljahren. Aber ich war knapp 44. Man zweifelte an meiner psychischen Gesundheit, das war der Tiefpunkt meiner Krankheitsgeschichte», sagt Frau S.

Durch Bekannte kam sie zu Laurence Meer, einer Ärztin in Flamatt, die zur «Zeckenkrankheit» Lyme-Borreliose forscht. Diese untersuchte die Blutproben, und im Februar 2000, zwei Jahre nach dem ersten Arztbesuch, kam die Diagnose: Lyme-Borreliose, eine bakterielle, von Zecken übertragene Infektion, bereits im chronischen Stadium (siehe Kasten rechts).

Streit unter Experten

Borreliose-Diagnosen sind der unspezifischen Symptome der Patienten wegen häufig nicht ganz eindeutig und deshalb umstritten. Universitätsmediziner glauben, dass es kaum chronische Borreliose-Patienten gibt. Zeckenspezialisten sehen das anders - punkto Behandlung sind jedoch auch sie untereinander zerstritten.

«Den Verdacht auf Borreliose hatte ich immer, denn ich hatte etliche Zeckenbisse», sagt Frau S. Die typische Wanderröte, einen kreisförmigen Ausschlag um die Stichstelle, hat die Biologin jedoch nie bemerkt. Und ein weiterer Bluttest sei nach dem ersten negativen nie zur Diskussion gestanden. Seither ist Frau S. bei Meer in einer Langzeit-Antibiotikabehandlung. Nun gehe es ihr besser, sagt sie.

Das könne nicht sein, sagt Norbert Satz, der in Zürich eine Praxis für «Zeckenkrankheiten» führt: «Chronische Patienten kann man nicht mit Antibiotika behandeln, da hilft nur Symptombekämpfung, zum Beispiel mit Schmerzmitteln», sagt er. Frau S. würde es seiner Meinung nach ohne Antibiotika genauso gut gehen. Und Stefan Zimmerli, Infektiologe am Inselspital in Bern, geht noch weiter: «Chronische Borreliose-Patienten sind höchst selten», sagt er. Die Diagnose werde von «so genannten» Spezialärzten viel zu häufig gestellt.

Krankheit nicht beweisbar

Ob zu häufig oder zu selten - die Krankengeschichten von chronischen Lyme-Borreliose-Patienten sind fast immer gleich: jahrelanges Leiden, eine Odyssee von Arzt zu Arzt, unterschiedliche Diagnosen und Therapien, verwirrte Betroffene. Denn ohne Wanderröte, die nur bei jedem Dritten auftritt, wird die Krankheit oft nicht oder zu spät erkannt, da der Zeckenbiss in den meisten Fällen nicht bemerkt wird.

Wenn die Infektion sofort behandelt wird, ist sie gut heilbar. Bereits nach mehreren Monaten werden jedoch sowohl Diagnose als auch Behandlung schwieriger: Die Symptome könnten auch andere Ursachen haben, und die Bakterien sind schlechter durch Antibiotika bekämpfbar. Ausserdem haben rund zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung Borrelien-Antikörper im Blut - die das Immunsystem zur Bekämpfung der Erreger produziert - und sind dennoch gesund. Ein positiver Bluttest ist somit kein Beweis für die Krankheit. «Eine Ja- oder Nein-Diagnose ist nicht möglich: Es braucht ein typisches Beschwerdebild, positive Laborwerte und einen Ausschluss aller anderen möglichen Krankheiten», sagt Borreliose-Arzt Norbert Satz.

Gerade die Einschätzung, ob chronische Schmerzen psychisch bedingt sind oder nicht, fällt jedoch von Arzt zu Arzt unterschiedlich aus. Psychiatrie oder Antibiotika - eine für den Patienten schwer wiegende Entscheidung, die nicht selten zu Problemen mit Versicherungen und Krankenkassen führt (siehe Text unten links).

Wie heikel die nicht beweisbare Diagnose und das somit nicht abschätzbare Ausmass der Borreliose ist, zeigt ein Blick ins Internet, Hauptinformationsquelle vieler Patienten: Weltweit gibt es etliche Selbsthilfegruppen und Organisationen, die vor der «Gefahr Borreliose» warnen, unzählige Websites mit Informationen und Foren. Die Kranken fühlen sich von den Ärzten im Stich gelassen.

Gefahr oder Bagatelle

«Die Lyme-Borreliose ist eine meist harmlose, problemlos behandelbare bakterielle Infektion, die nur in seltensten Fällen zu langen Krankheitsverläufen führt», sagt Infektiologe Stefan Zimmerli zur Haltung der Universitätsmediziner. Die Borreliose-Krankheit werde von Randgruppen «hochstilisiert und mit unbestimmten Symptomen in Zusammenhang gebracht, die nichts mit der Lyme-Borreliose zu tun haben - dies ist ein Trugschluss», so der Oberarzt. Wenn ein Patient nach einer Antibiotikatherapie Beschwerden habe, seien diese mit Ausnahme von ganz wenigen Fällen nicht auf ein Weiterbestehen der Infektion zurückzuführen - chronische Borreliose-Patienten würden somit kaum existieren.

Diese Aussage findet Norbert Satz «völlig daneben»: Chronische Fälle seien in der Schweiz ein sehr grosses Problem. «Wer dies nicht wahrhaben will, sitzt in einem Elfenbeinturm.» Seiner Meinung nach werden etwa zehn Prozent der 3000 bis 5000 Personen, die sich jährlich mit dem Bakterium infizieren, chronisch und zum Teil ernsthaft invalidisiert.

«Es fehlt Schlüsselstelle»

Laurence Meer, die zu Langzeitbehandlung und Zusatzinfekten forscht und publiziert, arbeitet zusammen mit der technischen Hochschule Biel an einem Programm zur Erfassung der Patienten. «Es fehlt eine Schlüsselstelle, wo Patienten über längere Sicht beobachtet werden - sie sind bei Hautärzten, Rheumatologen, Psychiatern oder Neurologen verzettelt», sagt Meer.

Auch bei den Testverfahren sieht sie Lücken: Entgegen der Meinung anderer Ärzte teilt sie die Ansicht, dass ein Bluttest trotz Krankheit negativ sein könne, da die Bakterien ihre Eiweissoberfläche laufend änderten, was die Antikörperbildung und damit den Nachweis erschwere. «Deshalb sollte der PCR-Test, der Teile der DNA nachweist, verbessert werden», so Meer. Es sei jedoch schwierig zu wissen, in welchem Gewebe das Erbgut am ehesten zu finden sei.

Doch auch an diesem Testverfahren scheiden sich die Geister. Und der Streit um die nicht sicher beweisbare Krankheit Lyme-Borreliose geht weiter.

* Name der Redaktion bekannt

Interview mit Hanspeter Zimmermann, Epidemiologe beim Bundesamt für Gesundheit BAG.

«Keine harmlose Krankheit»

«Bund»: Es herrschen grosse Meinungsverschiedenheiten zur Diagnose, Behandlung und zum Ausmass der von Zecken übertragenen Krankheit Borreliose. Wie schätzen Sie die Situation in der Schweiz ein?

Hanspeter Zimmermann: Das Ausmass der Borreliose-Krankheit ist nicht ganz klar. Man kann jedoch nicht sagen, es sei eine harmlose Krankheit: Sie ist weder einfach noch selten. Die Schwierigkeit liegt bei der Diagnosestellung: Ein einzelner Labortest reicht nicht aus, um sie klar zu bestimmen. Die Diagnose Borreliose wird von Teilen der Ärzteschaft zu häufig, von andern zu selten gestellt. Wir rechnen mit schätzungsweise 3000 Erkrankungsfällen pro Jahr. Aber der grösste Teil davon sind Patienten mit Erythema migrans, der Wanderröte, einer grundsätzlich harmlosen Krankheit. Die Schwierigkeit kommt bei den Patienten ohne Wanderröte, denn viele Leute haben Antikörper und hatten nie Borreliose-Symptome. Gemäss Spitalstatistik gibt es im Schnitt jährlich 200 bis 300 Spitaleinweisungen mit der Diagnose Borreliose.

Nimmt das BAG zum herrschenden Konflikt unter Medizinern und zwischen Ärzten und Patienten Stellung?

Nein, das BAG kann zu dem Konflikt nicht Stellung nehmen. Unsere Aufgabe ist es, die Krankheit zu überwachen: Wie häufig ist sie, bei wem und wo taucht sie auf? Wir machen Empfehlungen, wie Krankheiten verhütet werden können, aber wir mischen uns nicht in die Behandlung der Patienten ein.

Ist die Überwachung der Lyme-Borreliose beim BAG ein Thema?

Ja, die Lyme-Borreliose ist auch für uns ein Thema. In einer Arbeitsgruppe wird zurzeit überlegt, wie wir die Krankheit besser überwachen können. Wir wollen abschätzen können, was diese Krankheit in der Schweiz bedeutet, denn sie kann sehr schwer verlaufen. Bis im Jahr 2003 bestand obligatorische Meldepflicht. Die Ergebnisse sind jedoch nur von begrenzter Hilfe, da damit die schwereren Erkrankungen, wie etwa die neurologischen Erscheinungen, nicht erfasst werden konnten.

Die chronischen Borreliose-Fälle könnten mit verbesserten Testverfahren einfacher bestimmt werden. Unterstützt das BAG solche Forschungsprojekte?

Wir unterstützen primär Forschung im Bereich der Überwachung der Epidemiologie, dazu gehören in gewissen Fällen auch PCR-Untersuchungen. Im Falle der Borreliose ist dieses Testverfahren jedoch nicht das Mittel, um die Problematik aufzuarbeiten. Zur Erfassung der schweren Borreliose-Fälle müssen weitere Hilfsmittel angewendet werden, wie zum Beispiel ein mehrseitiger Fragebogen wie in den USA.

Konnten in der Schweiz gewisse Risikogebiete lokalisiert werden?

Die ganze Schweiz unterhalb von 1200 bis 1500 Metern über Meer ist Risikogebiet. Der Anteil der infizierten Zecken schwankt jedoch stark, auch lokal: von 5 bis 50 Prozent. Bisher konnte man jedoch keine speziellen Gebiete aussondern. Die geografische Lokalisation, also die Verteilung der Borreliose-Patienten, würde sicherlich auch in die neuen Untersuchungen kommen.

Kasten: ​

Kostenfrage: Unfall oder Krankheit?

Chronische Borreliose-Patienten sind teuer: Über Jahre hinweg sind Arzt- und Spitalbesuche, Medikamente und aufwändige Laboruntersuchungen nötig. Dazu kommt die häufige Erwerbsunfähigkeit und nicht selten sogar Invalidität. Grundsätzlich gilt ein Zeckenstich als Unfall - also muss die Unfallversicherung bezahlen. Bei Patienten mit Wanderröte ist der Fall klar. Schwieriger wird es jedoch bei chronischen Patienten, die sich an keinen Zeckenstich erinnern.

Hier erschweren die unklaren Diagnosemöglichkeiten und der Konflikt um das Ausmass der Krankheit (siehe Text oben) auch die rechtliche Beurteilung, wer für die hohen Kosten aufkommen muss: Kann der Arzt die Diagnose Borreliose glaubhaft beweisen, bezahlt die Unfallversicherung. Wird die Diagnose jedoch angezweifelt, bezahlt die Krankenkasse, wobei die Leistungen im Falle eines Unfalls viel grösser sind als bei Krankheit.

Streit bis vor den Richter

«Viele chronische Borreliose-Patienten stehen in ständigem Streit mit Versicherungen», sagt Borreliose-Ärztin Laurence Meer. Das Versicherungsdossier ihrer Patienten sei mindestens gleich dick wie das der Krankenberichte.

Für Beat Cartier, Facharzt für Arbeitsmedizin bei der Suva, ist der Fall klar: Chronische Borreliosen sind selten. «In unklaren Fällen wird die schulmedizinische Fachmeinung durch universitäre Gutachten eingeholt», sagt er. Diese stünden zum Teil im Widerspruch zu den Arztberichten der behandelnden Ärzte - auch solcher, die sich auf eine grosse Borreliose-Erfahrung beruften. In einigen Fällen pro Jahr ende der Streit vor dem Richter.

Wenn die Unfallversicherung den Fall ablehnt, bezahlt die Krankenkasse - teure und umstrittene Therapien kann sie jedoch ablehnen. Wie verschiedene Krankenkassen bestätigten, sind solche Problemfälle jedoch höchst selten. (mry)

«Zeckenkrankheiten»

Die durch Zecken übertragene Krankheit Lyme-Borreliose, die durch das 1983 vom Schweizer Willy Burgdorfer entdeckte Bakterium Borrelia burgdorferi hervorgerufen wird, verläuft in drei Stadien: Im Lokalstadium kann ein Hautausschlag, das so genannte Erythema migrans, auftreten. Erste Anzeichen sind zudem grippeähnliche Symptome. Antibiotika sind sehr wirksam. Im Akutstadium befallen die Bakterien die Organe, besonders Gelenke, Haut und Nervensystem. Im chronischen Stadium können bleibende Schäden auftreten wie Arthrose oder Lähmungen. Daneben können Müdigkeit, Kopf-, Nacken- und Muskelschmerzen, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie Depressionen und Rheuma auftreten. Die Vielzahl an Symptomen macht die Diagnose sehr schwierig. Die Borreliose darf nicht mit der FSME-Hirnhautentzündung, einer Vireninfektion, die ebenfalls von Zecken übertragen wird, verwechselt werden. FSME-Fälle sind seltener, aber es ist keine Behandlung möglich. Es existiert eine Impfung, die Bewohnern in Risikogebieten empfohlen wird.

Risikogebiete für Borreliose sind bisher kaum erforscht (siehe Interview). Im Schnitt ist jede dritte Zecke infiziert. Eine Impfung gibt es nicht. Die Gefahr, nach einem Zeckenstich an Borreliose zu erkranken, wird zurzeit an der Universität Neuenburg erforscht. Um Zeckenstiche zu vermeiden, soll man im Wald lange Kleidung tragen und danach den Körper absuchen. Zecken (ein bis sechs Millimeter gross) leben nicht auf Bäumen, sondern im Unterholz. 

Text: Manuela Ryter

​Diese Hintergrundseite erschien am 13. September im "Bund". 

Spiel im tanzenden Wasser
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DER NEUE BUNDESPLATZ 

Spiel im tanzenden Wasser

Entworfen wurde das Wasserspiel auf dem Bundesplatz aus Angst vor einem menschenleeren Platz. Nun wird es zum Publikumsliebling: Tagtäglich ziehen die Fontänen Scharen von Touristen und Einheimischen an - begeistert spielen sie im sprudelnden Wasser.

«Ob die Stadt dieses Mädchen extra für die Show engagiert hat?» fragt ein spanischer Tourist seine Freunde und beobachtet fasziniert den Solotanz eines braun gebrannten Mädchens in den rhythmisch in die Höhe sprudelnden Fontänen des neuen Bundesplatzes. Die Arme in der Luft, wie eine Ballerina, hüpft und springt es in einem türkisfarbenen Badeanzug durch die Wasserspritzer und geniesst sichtlich das kühle Nass und das staunende Publikum: Rund 200 Leute stehen um das Wasserspiel und schauen ihrem kindlich-sorglosen Tanzen zu. Manch einer wird sich in diesem Moment wünschen, ein Kind zu sein.

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Das 18-minütige Wasserspiel auf dem neuen Bundesplatz ist zu einem Spiel zwischen Zuschauern und Wasser geworden. Es spielt immer von 11 bis 23 Uhr, nur dienstags und samstags erst ab 14 Uhr, und wird jede halbe Stunde wiederholt. Die sprudelnden Fontänen folgen einer Choreografie und verändern sich laufend.

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Mit Sprüchen und auffordernden Blicken drängt die Spaniergruppe ihren Freund, Ivan aus Madrid, sich auch auf das nasse Feld zu wagen. Doch er lehnt den Vorschlag ab - er habe keine anderen Kleider dabei - und bleibt in der sommerlichen Hitze stehen. Reizen würde es ihn schon, gibt er zu. Auf jeden Fall sei dieser Platz phantastisch, er sei begeistert von der Schönheit dieser Stadt.

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Die Wasserfontänen sprudeln im Takt, mal schneller und höher, dann wieder langsamer und tiefer. Jetzt spritzt es hier, jetzt dort und jetzt aus allen Düsen gleichzeitig. Das Wasser schiesst direkt aus dem nassen Stein in die Höhe - «bis dört obe», sagt die vierjährige Anaïs, streckt die Arme und zeigt zum Dach der Kantonalbank. Mit der Körpergrösse verschieben sich die Dimensionen. Die Wassertropfen, so weit oben angelangt, glitzern in der Sonne und plätschern wieder zu Boden. Anaïs freuts und fragt die Mutter immer wieder: «Darf i no mal?», doch diese will gehen. «Jetzt muss ich jedes Mal, wenn ich in die Stadt komme, die Badesachen mitnehmen», sagt sie. Dieses Mal hätten es die Unterhosen getan - auch wenn einige Leute gemeckert hätten, dass dies eine Sauerei sei.

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Die Kleine im türkisfarbenen Badeanzug hüpft noch immer allein durch die Fontänen - keiner hat es gewagt, ihr die Schau zu stehlen. Andere Kinder, denen verboten wurde, nass zu werden, beobachten sie mit neidischem Blick. Doch auch ausserhalb der sprudelnden Fläche haben sie ihren Spass: Zwei japanische Knirpse wagen sich von aussen heran und kreischen vor Freude, sobald sie die Düsen berühren. Da sprudeln die Fontänen gleichmässiger. Der Vater nimmt die beiden an den Händen und rennt mit ihnen über den Platz, ohne dabei nass zu werden. Die Menschentraube lacht. Das Wasserspiel ist zu einem kollektiven Plausch geworden. Noch nie habe er solche Begeisterung für ein Projekt erlebt, sagt Paul Müller, Direktionsadjunkt der Direktion für Planung, Verkehr und Tiefbau der Stadt Bern. Der Platz rege die Emotionen der Menschen an.

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Diese Euphorie für den Platz hatten weder Politiker noch die Architekten erwartet: Das Wasserspiel wurde aus Angst vor einem menschenleeren Platz entworfen - um ihm Bewegung zu geben, hiess es. Sie wollten etwas Schlichtes, kein Denkmal - schliesslich sei das Bundeshaus Denkmal genug. Nun stehlen die Fontänen dem Bundeshaus die Schau.

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Jetzt wagt sich auch die Menge näher ran: Da rast einer mit dem Fahrrad, ein anderer mit dem Kinderwagen über den spritzenden Platz, durch Fontänen und die Schar kreischender Kinder in Unterhosen. Ein Junge steht laut lachend mit dem Fuss auf eine Düse, so dass sie seinem Vater ins Gesicht spritzt; ein anderer Knirps macht ein paar unbeholfene Schrittchen auf eine Fontäne zu und quietscht vor Freude - seine Grossmutter rennt ihm ängstlich hinterher und zieht ihn vom Wasser weg. Der Grossvater nimmts gelassen. «Wir sind extra wegen dem neuen Wasserspiel aus Freiburg gekommen», sagt er. Das Berner Wasserspiel wird zum beliebten Ausflugsziel.

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Fotoapparate und Videokameras werden gezückt; zaghaft stehen auch die Erwachsenen zwischen die Fontänen, lächeln fürs Foto und riskieren dafür einige Spritzer. Auch Ivan, der Spanier, und seine Freunde stehen plötzlich mitten im Platschen und Rauschen, rufen «España, España», posieren für ein Erinnerungsfoto und werden nass. «Dieser Brunnen ist nicht zur Dekoration da, sondern damit die Leute Spass haben», ruft Ivan. Die 18 Minuten gehen dem Ende zu, am Schluss spritzt das Wasser bis weit in die Höhe - die Menschen flüchten sich ins Trockene. Nur das braungebrannte Mädchen tänzelt noch immer mit ausgestreckten Armen zwischen den Fontänen.

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 13. August 2004 im "Bund".​


Immer mit einem Lächeln auf den Lippen
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WANDERGESELLEN AM GURTENFESTIVAL

Zwei Zimmermänner «auf der Walz» machten auf dem Gurten halt: Rolandsbruder Beat Lampart und Freiheitsbruder Ivo Tognella packten beim Aufbau des Festivals hart an - und geniessen nun zwischen den anfallenden Arbeiten die ausgelassene Festivalstimmung.

Stolz und mit einem immerwährenden Lächeln auf den Lippen bahnen sich zwei Wandergesellen einen Weg durch die Menschenmassen auf dem Gurtengelände. Wie immer tragen sie ihre grossen schwarzen Hüte, die schwarzen Schlaghosen aus Kord und die schwarze Weste über dem weissen kragenlosen Hemd. Und wie immer fallen sie auf. In ihrer schwarz-weissen Kluft stechen sie aus der farbig-hippen Festivalmenge hervor, als wären sie die Stars auf dem Gurten. «Hei, bisch du ä geile Siech», ruft ein leicht torkelnder Festivalbesucher beim Vorübergehen Ivo Tognella zu, der seit einem halben Jahr als Fremder Freiheitsbruder auf Wanderschaft ist. «Ich weiss», ruft er zurück und lacht leise vor sich hin.

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Die zwei Zimmermänner sind nicht wegen der Musik auf dem Gurten. Oder besser gesagt: nicht nur deswegen. «Wir sind zum Arbeiten hier», erklärt Beat Lampart aus Römerswil im Kanton Luzern, aber ein bisschen Spass müsse schon sein, das gehöre zum Wanderleben. Der 23-Jährige gehört der Gesellenvereinigung der Rolandsbrüder an, auch Schacht genannt. Im deutschsprachigen Raum existieren etwa acht solcher Vereinigungen, in die eintritt, wer auf Wanderschaft gehen will. «Die Rolandsbrüder gibt es seit 1891», sagt Lampart nicht ohne Stolz. Und dieser gehört zur Wanderschaft wie die so genannte Ehrbarkeit, eine farbige Krawatte und der obligate Ring im Ohr.

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Seit fast einem Jahr ist Beat Lampart unterwegs: Er arbeitete längere Zeit in Deutschland und Österreich, reiste durch die Schweiz bis nach Toulouse und landete letzten Dienstag nach einem kürzeren Aufenthalt in England und Deutschland auf dem Gurten. «Alles, was auf dem Festivalgelände aus Holz ist, wurde von uns und ehemaligen Wandergesellen angefertigt», sagt Lampart. In strömendem Regen hätten sie letzte Woche gearbeitet: «Kleider und Schuhe waren immer durchnässt», erzählt sein Kollege Ivo Tognella. Auch der nasse Boden sei tückisch gewesen, etwa beim Aufbau der Böden für die Dusch- und Toilettencontainer in der schrägen Sleeping-Zone.

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Mindestens drei Jahre und einen Tag dauert die Wanderschaft der Handwerker. «Manchmal erscheint mir die Zeit fast zu kurz», erzählt Lampart - bei all den Plänen, die er noch hege. Bereits im Mittelalter war es Brauch, dass Zimmerleute von Baustelle zu Baustelle reisten. Sesshaft wurden sie erst später. Heute sind weltweit etwa 600 Wandergesellen unterwegs. «Wir dürfen überall hin, nur nicht nach Hause», sagt Ivo Tognella aus Thayngen im Kanton Schaffhausen. Das sei extrem hart - vor allem, wenn man der Heimat so nah sei wie jetzt auf dem Gurten.

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«Unbefleckt» müssen die Gesellen sein, wenn sie auf Reisen gehen: Unter 27-jährig, ledig, kinderlos, schuldenfrei - und trinkfest: «Wir sind keine Kinder von Traurigkeit», schmunzelt Beat Lampart. «Aber unser Ziel ist es, gute Arbeit zu verrichten - wir haben einen Ruf zu verteidigen», betont er. Und wahrhaftig: «Es ist unglaublich, wie schnell und professionell die Wandergesellen ihre Arbeit verrichten», schwärmt Matthias Kuratli, Medienchef des Gurtenfestivals. Die «Fremden Brüder», die Cowboys unter den Handwerkern, ziehen von Zimmerei zu Zimmerei. Nicht hoch zu Ross, sondern auf Schusters Rappen oder per Autostopp. Ihr Hab und Gut für drei lange Jahre tragen die Gesellen im Charlottenburger, liebevoll «Charlie» genannt. Geradezu winzig klein erscheint das Bündel neben den aufgetürmten Rucksäcken der aufs Gelände strömenden Festivalbesucher.

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Mit den von der Arbeit zerfurchten Händen zieht Beat Lampart seinen Hut etwas tiefer ins Gesicht und schaut nachdenklich - oder gelangweilt? - in das Treiben hinter den Kulissen. Sein Kamerad Ivo spricht derweil jedes annähernd hübsche Mädchen an und lässt sich genüsslich seinen spontan von der Tracht befreiten Rücken mit Sonnenmilch einmassieren. Sunnyboymässig schief sitzt sein Hut auf dem Kopf und flirtend ist sein Blick: «In jedem Städtchen ein Mädchen», etwa so lautet sein Spruch zu diesem Thema.

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Ivo Tognella kam eigens wegen des Gurtenfestivals in die Schweiz. «Es ist spannend, hinter die Kulissen zu blicken», sagt er. Nächstes Jahr will er wiederkommen: woher ist ungewiss. Unbekümmert und zufrieden schaut er in die Zukunft: «Es kann nur (noch) besser werden», findet er und mischt sich wieder unter die bunte Masse - immer mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

Text: Manuela Ryter

​Dieser Artikel erschien am 17. Juli 2004 im "Bund".