Stille, Sturm und der letzte Zopf

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Zibelemärit am Morgen, am Mittag und am Abend: Das Berner Konfetti-Glühwein-Zwiebelkuchenfest, beobachtet auf dem Bärenplatz.

Bedächtig und still ist es um halb fünf Uhr früh auf dem Bärenplatz. Die Zwiebeln liegen bereit, Zwiebelzöpfe, Zwiebelkörbchen, Zwiebelketten, Zwiebeligel. Die Erzeugnisse wochenlanger Arbeit flinker und kräftiger Hände. Der eine oder andere Zopf wird zurechtgelegt, fröstelnd stehen die Verkäuferinnen in der dunklen Nacht hinter dem Stand an der Ecke zur Spitalgasse und warten auf den grossen Ansturm.

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Händereibend werfen sie sich kurze Blicke zu, schenken sich aus der Thermosflasche heissen Kaffee ein und beobachten durch die aufgehängten Zwiebeln hindurch das leise Treiben auf dem Platz. Ein Stand säumt den anderen: Hier werden Kisten voller Zwiebeln unter den Ständen verstaut, dort die farbigen Zuckerzibeli-Ketten aufgetürmt. Die echten schmecken immer noch nach Pfefferminze.

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Erste Besucher tauchen auf, sie gucken sich die Zwiebeln flüchtig an und spazieren am Stand vorbei. Von schräg gegenüber duftet es nach heissem Glühwein und Chnoblibrot. Das passende Frühstück am Zibelemärit, wie jedes Jahr am vierten Montag im November. Links stapelt ein Mann Kisten - sie sind vollgepackt mit Gummihämmern und Konfettisäcklein, säuberlich abgepackt à je hundert Gramm. Bern schläft noch. Doch nicht mehr lange.

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Die fünfte Stunde hat noch nicht geschlagen, als sich die Strassen füllen. Immer mehr verschlafene Gesichter und leuchtende Kinderaugen sind zu sehen. Aus den Individuen wird eine Menschenmasse. Man schaut und staunt und zieht vorbei. Mit jedem einfahrenden Zug und Bus wird es enger und festlicher in den Berner Gassen. Der Lärmpegel steigt an, der Geruch von Glühwein und Knoblauchbrot vermischt sich mit dem von Käsekuchen und Marroni.

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Im Käfigturm schlägt es sechs, doch das Glockengeläut geht unter im Stimmengewirr, der Zibelemärit ist voll im Gang. Nur die gewohnte Kälte fehlt. Glühwein wird trotzdem reichlich getrunken. Und es wird gelacht. Wann darf man schon so viele Streiche spielen wie am Zibelemärit? Wie Piraten sehen die Konfettischützen aus in ihren wollenen Mützen, tief in die Gesichter gezogen. Die meisten schiessen aus dem Hinterhalt und zielen vorzugsweise auf offene Münder. Einige sind mit orangen Plastikpistolen ausgerüstet, oder sie attackieren mit quietschenden Hämmern. Jeder Volltreffer wird mit Kreischen oder Johlen, entschuldigendem Lächeln oder spöttischem Gegröle quittiert.

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Der Morgen graut und das silbrig-rot-blau-gelbe Konfettigemisch bedeckt wie frisch gefallener Schnee den Boden. Die müden Gesichter mit den Glühwein-geröteten Backen gehen zur Arbeit. Jetzt kommt die Stunde der Rentnerinnen und der Car-Touristen. Aus der Romandie, aus Deutschland und aus Frankreich kämen sie, sagt eine Zwiebelverkäuferin. Sie seien sehr interessiert am Zibelemärit, an dessen Tradition und Handwerk. Die Zwiebelzöpfe gehen weg wie warme Semmeln. Der kleine Zwiebeligel kostet 3.50, der grösste Zopf 70 Franken. Einen grossen habe sie schon verkauft, sagt die Verkäuferin. In ihren Haaren hängen silbrige Konfetti.

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Mit fortschreitender Zeit verdichtet sich auch die Menge auf dem Bärenplatz wieder. Herausgeputzte Jungs stehen cool herum, Kinder geniessen ihre Konfetti schmeissenden Väter und filmende Japaner dokumentieren das Schweizervolk. Hinter der Verkäuferin am Stand neben dem Vatter spielt ein Strassenmusiker lässig an die Wand gelehnt Akkordeon und schaut dem wilden Treiben zu, als gehöre er nicht in diese Welt. Seine Musik vermischt sich mit dem poppigen Sound von rechts und den Panflötentönen von links. Mit den Farben und Gerüchen. Die Verkäuferin betrachtet die farbigen Zwiebelzöpfe auf dem Tisch. Es sind die letzten.

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 23. November 2004 im "Bund". ​