Ski fahren auf Wolke 7

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13 Sehbehinderte sind mit dem Skikurs der Blindenskischule Frutigen auf der Piste

Sie fahren mal schnell und mal vorsichtig, geniessen den Wind in den Haaren und die Sonne auf dem Gesicht - einzig die Berge können sie nicht sehen. 13 Sehbehinderte aus der ganzen Schweiz fahren bis am Freitag mit der Blindenskischule Frutigen Ski - ein jeder im Team mit seinem Skilehrer.

Mit Sonnenbrille und roter Mütze steht Sabine Reist auf der Piste und fährt langsam los, ihre Skilehrerin Katrin Ramu dicht hinterher. Es ist noch früh, die Sonne wirft die ersten Strahlen in die verschneite Berglandschaft auf der Elsigenalp. Synchron fahren die beiden in grossen Bögen die Piste hinunter, Ramu wirft alle paar Momente einen kontrollierenden Blick nach hinten. Der Schnee knirscht laut unter den Skiern. Unten angekommen, lässt sich Sabine in den Schnee fallen. Sie lacht und geniesst die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Über der Skijacke trägt sie eine Weste mit der Aufschrift «Sehbehindert». Sabine ist fast blind - nur mit dem linken Auge kann sie Umrisse erkennen. Aber das bringe ihr beim Skifahren nichts.

Skilehrer und Blinde im Team

Ihre eigenen Augen können die 13 Sehbehinderten, die seit Freitag am Skikurs der Blindenskischule Frutigen teilnehmen, nicht oder kaum gebrauchen. Umso mehr sind sie auf jene ihrer Skilehrer angewiesen. Zu zweit fahren sie die Piste hinunter, mal schnell und mal vorsichtig, wie alle anderen auch, - aber eben im Team, mit nur einem Paar sehenden Augen.

Die Vertrautheit unter den Teilnehmern und Skilehrern ist gross, die Freude offensichtlich: «Es ist auch für uns eine Bereicherung, mit sehbehinderten Menschen zusammenzuarbeiten», sagt Urs Ramu, der die Blindenskischule Frutigen leitet. Er hat Erfahrung mit blinden Gästen: 1988 gründete er die Blindenschule mit anderen Skilehrern - das Know-how erlernten sie von Blindenskilehrern aus St. Moritz. Heute geben sie 320 Halbtageslektionen pro Jahr. «Das ist nur möglich dank einem Fonds der Skischule und dem Entgegenkommen der Bahnen - auf der Elsigen- und Engstligenalp sowie in Aeschi fahren die Blinden gratis.»

Schneller als mit Blindenhund

Blind Ski zu fahren ist für Sehende unvorstellbar: Mit Geschwindigkeit ins Schwarze zu brettern und eine Piste hinunterzukurven, deren Hangneigung, Buckel, Eisschichten und Schanzen man nicht sieht, einzig der Stimme des Skilehrers vertrauend? Schon beim kurzen Selbstversuch verliert man sofort Orientierung und Gleichgewicht, und die Skier verkanten im harten Schnee.

Für sie sei das ganz normal, sagt Sabine Reist. Sie sei nun schon zum vierten Mal mit dabei: «Ich stelle mir das Gelände - und auch die Bergwelt - dank den Beschreibungen vor, wie auf einem Foto», erklärt sie. Sie liebe die Geschwindigkeit, mit der sie die Pisten hinunterflitzen könne, sagt die 23-jährige KV-Angestellte aus Zuchwil. Sie geniesse es, einmal schneller unterwegs zu sein, als mit ihrem Blindenhund, und den Wind im Gesicht zu spüren. Angst habe sie dabei keine - Vertrauen in andere gehöre zu ihrem Alltag.

«3-2-1-Abbügeln»

Über einen Funk im Ohr erhält Sabine Reist die Anweisungen ihrer Skilehrerin: Auf das Kommando «3-2-1-Abbügeln» lässt sie den Bügel los, und als Katrin Ramu ihr sagt, sie könne «nach elf Uhr abfahren», fährt sie los, ein wenig links gerichtet. Wie beim Essen werden die verschiedenen Richtungen auch beim Blindenskifahren nach dem Zifferblatt angegeben: Zwölf Uhr ist dort, wo die Skier hinzeigen, neun Uhr ist 90 Grad links davon, drei Uhr rechts.

Sabine Reist fährt ohne Zögern los, Katrin Ramu dicht hinter ihr her: «Liiiinks, rechts, liiiinks, rechts», spricht diese in ihr Mikrophon. Je länger ein Wort ausgesprochen wird, desto grösser soll der Bogen werden. In leichter Rücklage erspürt sie mit den Skiern den Schnee, fährt die Kurven aus und carvt sogar - auf Kommando. «Blinde haben beim Skifahren eine andere Körperhaltung, denn sie agieren nicht wie Sehende, sondern sie reagieren», sagt Katrin Ramu. Der Kontakt dürfe deshalb nie abbrechen. Das sei auch für sie eine grosse Herausforderung: «Man muss den Gast auf alle Seiten abschirmen und ihm gleichzeitig exakte Anweisungen geben», sagt sie, das erfordere extreme Konzentration.

Dem schwarzen Strich hinterher

Sehbehinderte, die genügend sehen können, fahren dem Skilehrer nicht voraus, sondern hinterher. Roberta Angelini aus Basel sieht zwar nicht, ob nun Piste, Tiefschnee oder Eis vor ihr liegen, aber sie sieht einen schwarzen Strich, dem sie hinterherfährt - es ist ihr Skilehrer. Es gehe ihr jedoch nicht nur ums Skifahren, sagt die aufgestellte Italienerin mit den pechschwarzen Augen: Sie mache auch gerne mal eine Pause zum Plaudern oder geniesse die Sonne.

Fasziniert vom Skifahren sind sie alle: Die Tessinerin Marija Barsic erzählt, sie spüre beim Fahren ein riesiges Freiheitsgefühl. Für die Bernerin Doris Stalder ist Ski fahren nicht Freiheit - schon eher hartes Training: «In Bewegung kann man nicht alles ertasten - was unter meinen Skiern passiert, muss ich spüren», sagt sie. Sie gehe jeweils auch in die Tourenwoche und das Hochgebirgslager, die wie dieser Skikurs vom Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) ausgeschrieben und mitfinanziert werden. Durch dieses Training werde sie auch in der Stadt viel sicherer.

Und sie geniesse es, sich einfach mal führen lassen zu können, ohne Angst, irgendwo anzustossen: «Hier kann ich ausklinken. Die vielen Schwierigkeiten, die sich im Alltag tagtäglich stellen, gibt es hier nicht - es ist wie auf Wolke 7», schwärmt die medizinische Masseurin. Sie sei sehr dankbar, dass sich Sehende so viel Mühe geben, um ihnen dieses Erlebnis zu ermöglichen - «wir sind wie eine grosse Familie».

Text: Manuela Ryter

Diese Reportage erschien am 20. Januar 2005 im "Bund". ​