viel energie für gute texte.

velofahren macht glücklich. drei monate im sattel machen noch glücklicher. und am glücklichsten machen drei monate per velo durch neuseeland. die kinder im anhänger, das gepäck in ortlieb verpackt, die seele bereit, in der ästhetik der natur aufzublühen. 

nun ist das textbüro manuskript wieder da. aufgetankt mit ideen, wörtern und viel kreativität. 

kurzer reisebericht zum otago central rail trail in der NZZ vom 21. juni 2013.

die reportage in der NZZ vom 8. november 2013.

 

working hard...

drei monate harte arbeit. nun ist mein traum erfüllt. das textbüro manuskript existiert nicht mehr nur in meinem kopf, sondern ist realität. eine kleine firma mit genügend arbeit und zufriedenen kunden. es denkt und schreibt bereits gehörig an meinem arbeitsplatz am waffenweg 9. die aufträge sind spannend, herausfordernd, kreativ. es hat sich gelohnt, den schritt ins ungewisse zu wagen.

IMG_1874.jpg
«Jungen Frauen fehlen die Vorbilder»
Bildschirmfoto 2012-10-31 um 17.14.43.png

Frauen in die Technik – das ist das Ziel der Mint-Klasse am Gymnasium Köniz-Lerbermatt, denn in der Forschung und in Firmen fehlt es an Fachkräften. Prorektorin und Projektleiterin Gabriele Leuenberger erklärt, wie sie junge Frauen für Technik begeistern will.

Frau Leuenberger, Sie sind Deutschlehrerin. Waren Sie als Kind an Glühbirnen und Motoren interessiert?

Gabriele Leuenberger: Ich weiss es nicht mehr. Als Mutter zweier Mädchen weiss ich jedoch, dass das Interesse an den Phänomenen der Natur bei allen Kindern vorhanden ist, nicht nur bei den Buben. Sie wollen alles ausprobieren und verstehen, sie bauen eine Seilbahn, ein Floss oder ein Bienenhotel. Diese kindliche Begeisterung für Technik muss  erhalten und gefördert werden, auch bei den Mädchen.

Die Zahlen sprechen aber eine klare Sprache: Nur 5 Prozent der technisch-naturwissenschaftlichen Lehrstellen werden von Mädchen besetzt. Auch am Gymnasium und im Studium sind Frauen in technischen Fächern stark untervertreten. Weshalb interessieren sich Frauen nicht für Technik?

Frauen interessieren sich für Technik! Aber sie interessieren sich vielleicht für  andere  Fragestellungen als Männer.

Wie erklären Sie sich dann, dass Frauen in technischen Berufen so stark untervertreten sind? 

Das hat eher mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten denn mit den Interessen der Mädchen zu tun. Es gibt zu wenige Vorbilder für die jungen Frauen. Ausserdem  haben technische Berufe ein negatives Image, und Fächer wie Mathematik, Biologie, Chemie und Physik gelten bei vielen als anspruchsvoll und schwierig. Viele junge Frauen schätzen sich falsch ein und trauen sich zu wenig zu. Und umgekehrt werden Frauen in technischen Belangen nicht gleich akzeptiert wie Männer. Da braucht es Aufklärungsarbeit. Und Visionen.

Das Gymnasium Köniz-Lerbermatt hat eine Vision und eröffnet im Herbst 2013 eine Mint-Klasse – im Rahmen des kantonalen Projekts «Bildung und Technik» (der Bund berichtete). Zur Frauenförderung?

Nicht nur. Wir wollen zum einen jene jungen Männer ansprechen, die dem Gymnasium heute den Rücken kehren – der Frauenanteil am Gymnasium liegt bei 60 Prozent. Zum andern wollen wir junge Frauen für Mint-Fächer begeistern – sie sollen dadurch bei der Studien- und Berufswahl echte Wahlmöglichkeiten erhalten. Das ist Gleichberechtigung, doch die muss ihnen vorgelebt werden.

Wie will die Mint-Klasse das Interesse der jungen Frauen an Technik wecken?

Erstens, indem die Mint-Klasse auch andere Interessen zulässt, da die Schwerpunktfächer nach wie vor frei gewählt werden können. Eine vielseitig begabte Gymnasiastin kann also als Schwerpunkt Musik belegen und gleichzeitig in der Mint-Klasse sein. Zweitens, indem die Themen ganzheitlich und vernetzt bearbeitet werden. Das Gymnasium soll sich modernisieren und einen Bezug zur Welt herstellen, Bildung soll relevant und nachhaltig sein. Ich bin überzeugt, dass sich junge Frauen dann viel eher für Technik begeistern lassen.

Was heisst das konkret?

Die Mint-Klasse erhält zusätzliche Lektionen. In diesen sollen fächerübergreifend  Themen bearbeitet und erlebt werden, die einen Bezug zum Alltag und zum Leben haben. Beispielsweise das Thema Energie. Naturwissenschaft und Technik sollen als Abenteuer erlebt werden: Fragen sollen die Schüler motivieren, etwas zu entdecken und die Realität erlebend zu begreifen. Sie sollen möglichst viel selber erforschen, herausfinden und experimentieren. Und über   Werte nachdenken.

Über Werte?

Wird etwa das Thema Solarenergie behandelt, geht es auch um Werte: Was streben wir für eine Welt an? Was ist für uns lebenswert? Wo wollen wir hin?

Inwiefern werden mit einem solchen Unterricht vermehrt Mädchen angesprochen?

Unser Ansatz beruht auf Vernetzung. Dies erlaubt den Mädchen, Zugang zu jenen Fragestellungen zu finden, die sie interessieren und die im sonstigen Unterricht vielleicht zu kurz kommen. Und die Praktika ermöglichen ihnen, Vorurteile abzubauen und Vorbilder kennen zu lernen. Beispielsweise Frauen in der Forschung. Wir sind bereits mit der  Gleichstellungsbeauftragten der Universität Bern im Gespräch.

Müssen Frauen denn zwingend die  gleichen Berufe ausüben wie Männer?

Es gibt auch Studien, die belegen, dass Mädchen halt doch lieber mit Puppen spielen als mit Autos. Für mich ist dies nicht relevant für den  Lebenslauf einer Frau. Ein Mädchen kann mit Puppen spielen und sich trotzdem für Technik interessieren. Die Wirtschaft  braucht Fachkräfte im technischen Bereich, und wir haben das Potenzial der Frauen noch lange nicht ausgeschöpft. Das ist gesellschaftlich bedingt und sollte auch angegangen werden. Man weiss heute, dass ein  erhöhter Frauenanteil gewinnbringend ist für ein  Unternehmen. Es ist wichtig, dass Frauen nun auch dort arbeiten.

Ein Maschinenbaubetrieb, der fast nur Männer beschäftigt und weder Teilzeit-Pensen noch Lohngleichheit anbietet, ist für eine Frau aber nicht  sehr attraktiv. Wie stark ist hier auch die Wirtschaft gefordert?

Unternehmen müssen die Strukturen  anpassen und den Frauen einen Anreiz bieten. Eine Frau soll die Vorteile sehen, bei einem Unternehmen zu arbeiten – sie soll nicht zuerst allen Nachteilen nachgehen müssen. Und sie muss sich  akzeptiert fühlen.

Der Kanton Bern hat nun die Initiative ergriff en. Wird nicht bereits heute zu viel in die Bildung hineingeredet?

Es ist wichtig, dass Bund und Kantone die Stossrichtung angeben und solche Projekte unterstützen. Nur so kann das öffentliche Bewusstsein verändert werden: Es braucht eine positive Grundeinstellung gegenüber der Technik und den  Willen, das Problem nun anzupacken. Das kostet aber Geld, und dieses muss nun zur Verfügung gestellt werden.

MINT - Novum im Kanton Bern

Die Mint-Klasse (Mint steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) am Gymnasium Köniz-Lebermatt – die erste im Kanton Bern – startet 2013. Vorgesehen sind zwei zusätzliche Lektionen pro Woche sowie Praktika in Unternehmen und Wissenschaft. Informationen: www.koeniz-lerbermatt.ch

Dieses Interview erschien am 22. Oktober im "Bund".

Noten für die Zirkusmusikanten
Bildschirmfoto 2012-10-31 um 16.28.40.png

Im Circus Monti werden nicht bloss Artistennummern aneinandergereiht – hier fügt sich das Programm zu einem Gesamtkunstwerk. Einen wichtigen Teil beigesteuert hat heuer der Berner Musiker Resli Burri.

Das Zelt des Circus Monti ist randvoll beider Berner Premiere gestern Nachmittag auf der Berner Allmend. Die Kinder sitzen still und gespannt da. Und dann kommen die drei Clowns, sie suchen den Anfang des Seils, das sie verbindet, und finden dessen Ende. Und sie merken: Sie sind nicht am Anfang und nicht am Ende, sondern im Mittelpunkt der Welt. Oder zumindest dieses Zelts.

Die Clowns sind philosophisch und romantisch, liebevoll und lustig. Und sie treffen den Humor der Kleinsten, indem sie nicht tun, als wären sie lustig, sondern indem sie authentisch sind. Wie die Kinder auch. Diese lachen, als hätten sie noch nie etwas so Lustiges gesehen.

Auch Resli Burri war gestern Abend wieder im Circus Monti. Weil er es geniesst, die «lieb gewonnenen Artisten» in der Manege schillern zu sehen. Weil er jedes Mal «überwältigt» ist von der «Magie» der Vorstellungen. Aber auch, weil es zur Aufgabe eines Zirkus-Komponisten gehört, sich die Vorstellung immer und immer wieder von Neuem anzusehen, um sicherzustellen, dass die Musik sich nicht verdreht hat von einer Vorstellung zur nächsten.

Massgeschneiderte Musik

Zirkusmusik war schon immer Thema in der Musik von Burri, heute bekannt durch die Comedy-Band Les trois Suisses. Bei Patent Ochsner schepperte und trötete Burri während acht Jahren an vorderster Front mit. Auch in seiner Theatermusik halten die Rhythmen und Klänge der Zirkusmusik immer wieder Einzug. Und dann kam der echte Zirkus und fragte nach seiner Musik.

Der Multiinstrumentalist lernte extra für den Zirkus Noten schreiben – ein wichtiges Kommunikationsmittel während der Vorstellung. «Zirkusmusik muss flexibel sein», sagt der 53-Jährige, «verliert der Jongleur einen Ball, muss die Musik mit einem Loop ausgedehnt werden.»

Burri zog für sechs Wochen ins Winterquartier  des Circus Monti nach Wohlen. Er sah den Artisten beim Proben zu, er führte Gespräche mit dem Regie-Team – und zog sich dann zurück in «seinen» Zirkuswagen, um zu komponieren. Bei Minustemperaturen. «Es war sehr nüchtern, und es wurde sehr hart gearbeitet», erzählt er. Von romantischer Zirkusstimmung sei nicht viel zu spüren gewesen. Der Einblick in die Zirkuswelt sei eine «irrsinnige Erfahrung» gewesen, sagt Burri: «Die Musik stand nicht im Zentrum, sondern war lediglich Teil eines grossen Ganzen.»

Die Artisten im Monti sind jung und kreativ und sie verbinden ihre Kunststücke  zu einem Ganzen. Die Clowns werden zu Artisten, die Akrobaten sind lustig. Und immer wieder sind sie alle gemeinsam in der Manege. «Der Monti ist der einzige Zirkus, der noch den Mut hat, poetisch zu sein», sagt Burri. Hier gebe es Kunst statt Bluff , und hier müsse auch nicht alles grösser, höher und lauter sein wie anderswo im Zirkuszelt. Im Monti dürfe es auch leise und sinnlich  sein.

Teil dieses kreativen Ganzen, das eher der Strassenkunst gleicht denn einer traditionellen Zirkus-Show, ist auch Burris Musik. Er lässt einen Clown Banjo spielen, lernte einem anderen die Singende Säge. Auch Burris Musik hat den Mut, leise zu sein. Zu überraschen, ohne zu übertönen. Und manchmal auch zu schweigen.

«Zirkusmusik soll die Emotionen der Artistik verstärken und sich nie in den Vordergrund drängen», sagt er. Seine Zirkusmusik ist mal jazzig, mal lieblich, mal lustig im Balkan-Groove. Sie verzichtet fast ganz auf Zirkus-Klischees. Wie die gesamte Vorstellung des Monti auch.

Dieser Artikel erschien am 11. Oktober im "Bund". 

Von Freiheit und verlorenen Kindern
Bildschirmfoto 2012-10-31 um 16.08.46.png

Das fahrende Volk der Jenischen lud von Freitag bis Sonntag zur vierten Fekker-Chilbi in Brienz  - und erinnerte an die Hunderten gestohlenen Kinder der Landstrasse.

Das Bild erscheint unwirklich. Hier die stolzen Chalets an der Brienzer Uferpromenade. Dort der See, der in die herbstliche Bergkulisse mündet. Und dazwischen der Wohnwagen von Martha Minster und ihrem Mann, welcher mit Ach und Krach zwei Zuckerwatten spinnt. Es ist Fekker-Chilbi in Brienz, der Märit der Jenischen, heuer bereits zum vierten Mal. Es ist die Chilbi, die zusammenbringt, was sich nicht kennt. Die Begegnungen ermöglicht zwischen den fahrenden und den sesshaften Schweizern. Denn dass sie Schweizer sind, betonen die Jenischen gerne. Dass sie genauso patriotisch sind. Wenn nicht gar eine Spur patriotischer, archaischer, urschweizerischer.

Die Marktstände der Fekker-Chilbi sehen aus wie aus dem Bilderbuch. Hier findet man nicht die immer gleichen Stände mit Magenbrot und Schuhwichse wie an den Dorfmärkten. Auch keinen Ramsch wie an den Trödlermärkten. An der Fekker-Chilbi verkaufen herausgeputzte jenische Frauen ausgesuchte Raritäten. Wertvolle antike Holzmöbel und alte Scherenschnitte. Retro-Spielautomaten und hochhackige Stöckelschuhe.

Es sind die Trouvaillen der Hausierer. Sie erzählen von der Freiheit der Fahrenden. «Wir sind frei wie die Vögel», schwärmt Alfred Werro. Er fährt wie die anderen 3000 bis 5000 Schweizer Jenischen, die noch nach ihrer traditionellen Kultur leben, von Frühjahr bis Herbst quer durch die Schweiz. Höchstens vier Wochen dürfen sie an einem Standplatz bleiben, dann ziehen sie weiter. An jedem neuen Ort gehen sie von Haustür zu Haustür, fragen nach Antiquitäten, Altmetall und nach Messern zum Schleifen.

Ein Hirsch steht ausgestopft und doch mit seiner gesamten Würde da und wartet, während am Stand gegenüber Hirschwürste verkauft werden. Von weitem erklingt Schwyzerörgeli-Musik. Ländler ist die Musik der Schweizer Jenischen, das Beweisstück ihrer helvetischen Tradition. Am Himmel dröhnen Kampjets und erinnern an das Böse.

Auch die Fekker-Chilbi erinnert in Filmen, mit Kunst und Diskussionen an ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte: 586 jenische Kinder wurden zwischen 1923 und 1972 vom «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute von ihren Eltern getrennt und in Heime, Psychiatrien oder Gefängnisse gesteckt. Sie sollten zu «brauchbaren Gliedern der Gesellschaft» erzogen werden. Die «Vaganität» musste ausgerottet werden. Wer seine Kinder noch hatte, war jahrzehntelang auf der Flucht. «Wir konnten nicht zur Schule, die Angst war immer da», erzählt Werro, an seinen Marktstand gelehnt.

Nicht nur er – fast alle Jenischen an der Fekker-Chilbi sind direkt oder indirekt betroff en. Die Angst vor den «Sesshaften» wird an die nächsten Generationen weitergegeben. Die Fekker-Chilbi sei deshalb auch da, um die Fahrenden den «Sesshaften» wieder anzunähern und nicht nur umgekehrt, sagt Organisatorin Sandra Bosshart von der Radgenossenschaft der Landstrasse. Gestoppt wurde das «Hilfswerk» erst vor 40 Jahren (siehe Interview). Doch da war es für die meisten Betroffenen schon zu spät. Zurück blieben irre Mütter und verwundete Seelen.Noch heute tauchten immer wieder ehemalige «Kinder der Landstrasse» auf, die auf der Suche nach ihren Wurzeln seien, sagt Werro.

In Martha Minsters Topf kochen Schweinswürste, und auf den Festbänken sitzen alte Bekannte. Auch sie war ihren Eltern gestohlen worden. Die 71-Jährige schluckt leer. Ihre Geschichte ist lang und traurig. Ihre Kindheit ein Drama. Die Familienzusammenführung ein Desaster. Immerhin hatte sie ihre Mutter noch kennen gelernt. «Ich konnte ihr die Frage stellen, die mich während meiner Kindheit auffrass: weshalb sie mich nie besucht hatte.»

Nebenan dreht das fast schon historische Karussell seine Runden. Drei Kinder kreischen vor Freude.

Zur Sache:

«Unter dem Teppich»

Herr Caprez, können Sie sich noch daran erinnern, als eine jenische Mutter 1971 bei Ihnen im Büro stand und ihre Geschichte erzählte?

Ja. Ich konnte nicht glauben, dass das wahr war: Die Pro Juventute habe ihr alle fünf Kinder weggenommen, weil sie eine Jenische sei und im Wohnwagen leben wolle. 1952 wurde sie schwanger verhaftet. Das Kind wurde ihr nach der Geburt umgehend weggenommen. 

Die Pro Juventute war damals eine angesehene Schweizer Institution. Die Frau hingegen war bereits vor Bundesgericht abgeblitzt. Weshalb glaubten Sie ihr?

Weil ich überzeugt war, dass sie nicht lügt. Sie erzählte alles so eindrücklich – solche Details kann man nicht erfi nden. Ausserdem fand ich bald glaubwürdige Zeugen.

Wie waren die Reaktionen auf den ersten Artikel im «Beobachter»?

Es gab extrem viele Reaktionen, und fast alle waren gegen mich. Auch die Presse

sprang nicht auf. 

Wann kam die Wende?

Erst in den 80er-Jahren. Der neue Generalsekretär der Pro Juventute zeigte mir den Aktenberg über die Kinder der Landstrasse: Jeder abgefangene Brief, jedes Detail über die knapp 600 Kinder war magaziniert. Da kam alles aus, und es ging eine Welle der Entrüstung durch die Schweiz.

Wie kam es, dass dieses Unrecht nicht vorher an die Öff entlichkeit gelangt war?

Die Pro Juventute war eine heilige Kuh, und das «Hilfswerk» wurde von Bund, Kantonen und Gemeinden getragen. Man schaute das Vagantentum als Krankheit an, die sich auf Kinder überträgt. Die Propaganda zeigte stark verwahrloste Kinder – die Bevölkerung meinte, das Projekt sei eine gute Sache. Die echten Fotos zeigten dann ein ganz anderes Bild der Jenischen.

Was passierte danach mit den auseinandergerissenen Familien?

Man führte einzelne Familien zusammen. Es war eine Katastrophe, eine riesige Enttäuschung. Den Kindern war bisher erzählt worden, ihre Mütter hätten sie verlassen. Dieses falsche Bild der Eltern liess sich nicht einfach so ändern.

Haben die Jenischen seither wieder an Selbstvertrauen gewonnen?

Ja. Die Alten sind zwar immer noch zusammengestaucht, aber die Jungen haben mehr Selbstbewusstsein. Insgesamt geht es dieser Minderheit jedoch nicht so gut. Es fehlt an Standplätzen – und damit an Lebensraum –, und die Industrialisierung hat ihre Tätigkeiten weggeputzt. Wer lässt heute noch Messer schleifen?

Heuer feiert die Pro Juventute das 100-jährige Bestehen. Das dunkle Kapitel wurde an der 1.-August-Feier auf dem Rütli am Rande thematisiert. Reicht das?

Nein, das Thema wird nach wie vor unter den Teppich gekehrt. Die Pro Juventute könnte sich beispielsweise einsetzen, die Kinder der Landstrasse in die Schulbücher zu bringen.  Denn dort gehört ihre Geschichte hin. (mry)

Dieser Text erschien am 8. Oktober im «Bund.» (pdf)

«Damals zählte das Talent, nicht der Trainingsaufwand»
kennel 2.jpg

Liselotte Kennel trainierte im Rheinbad Schaffhausen in einem 70-Meter-Becken flussabwärts. Und trotzdem schaffte sie es nach London an die Olympischen Spiele 1948. Olympia hat nicht nur ihre Liebe zu Amerika geweckt und damit ihr Leben verändert, sondern auch ihre Motivation, sich für den Sport – und insbesondere für die Rechte der Frauen im Sport – einzusetzen.

Hellblau schimmert das Wasser im Schwimmbad in Liselotte Kennels Garten am Sonnenhang Balsthals. Der Rasen ist frisch gemäht, die Rosen blühen. Unter einer Pergola warten weisse Plastikstühle auf den Sommer. Doch das kühle Nass stiehlt Blumen und Dekoration die Aufmerksamkeit. Das Wasser ist das Zentrum von Kennels Garten. Und der rote Faden in ihrem Leben. Liselotte Kennel – sie wird seit jeher «Lilo» genannt – setzt sich für das Fotoshooting auf den Rand des Beckens. Hier schwimmt sie an warmen Tagen ihre Runden und hält sich fit. Auch mit 82 Jahren noch.

Kennel blinzelt, es ist der erste sonnige Tag seit langem. In ihrem Gesicht verraten nur die Falten ihr wahres Alter. Ihr Blick hingegen zeigt eine Frau mit der Energie eines jungen Menschen. Einer Frau, die noch ganz viel vorhat im Leben. Die das Leben nicht hinnimmt, sondern dieses mitgestaltet. Die mit Fröhlichkeit und Nachdruck für ihre Anliegen kämpft. Sie lacht in die Kamera und erzählt von früher. Von ihrer Karriere als Schwimmerin. Von den Olympischen Spielen in London 1948 und Helsinki 1952. Von ihrer Laufbahn als eine der ersten Sportlehrerinnen ETH und als einzige Frau im Zentralvorstand des Schweizerischen Landesverbandes für Sport (SLS, heute Swiss Olympic). Es ist die Geschichte einer Frau, die mit Talent zum Sport kam und sich später mit Leidenschaft für den Sport einsetzte – und für die Rechte der Frauen im Sport.

Wer Talent hatte, kam weit

Naiv und stürmisch war der Sport damals in den 50er Jahren. Sportler genossen kein grosses Ansehen – Sportlerinnen schon gar nicht. Dafür war der Spassfaktor umso grösser. Von Leistungstests und Zeitlimiten redete noch niemand. «Nicht einmal Krafttraining kannte man», sagt Kennel, «es war eine schöne Zeit. Nicht verbissen, alles war spielerisch.»  Die Wettkämpfe von damals waren ein fröhliches Kräftemessen, es gewann nicht jener, der am meisten trainiert hatte, sondern wer am talentiertesten war. Solche Wettkämpfe findet man heute höchstens noch bei den Kindern. Oder in Randsportarten.

Liselotte Kobi, wie sie damals hiess, hatte Talent. Vor allem im Brustschwimmen. Als junges Mädchen war sie quirlig und bewegte sich viel. Eines Tages nahm sie an einem Schwimmwettkampf teil. Und gewann. Von da an schwamm sie im Schwimmklub Schaffhausen, Trainer war ihr Turnlehrer. Schwimmbad hatte es zwar kein richtiges, aber es gab das Rheinbad, in dem bei jeder Temperatur trainiert wurde. Wegen der Strömung mussten die Schwimmer am Ende des 70-Meter-Beckens aussteigen und zu Fuss zurückgehen. Länge für Länge. Eine Trainingseinheit über 600 Meter war «das höchste aller Gefühle». Die Wende musste sie in einem anderen Schwimmbad üben.

«Das waren Pfahlbauerzeiten»

Einmal pro Woche durfte die junge Schwimmerin in Thayngen mit den Männern trainieren. Das war eine Ehre für sie, denn in den Schwimmbädern waren Männer und Frauen sonst strikte getrennt. Kennel fuhr die 20 Kilometer mit dem Velo hin und wieder zurück. Und damit sie auch im Winter trainierten konnte, wünschte sie sich zu Weihnachten jeweils ein 10er-Abo für den Zug nach Zürich, denn dort gab es ein Hallenbad.

Bald gewann «Lilo» Regionalmeisterschaften. 1946 machte sie als 16-Jährige erste Schweizerrekorde, die jeweils am Radio verkündet wurden. Den Rekord in 200 m Brust unterbot sie gleich um 30 Sekunden. «Verglichen mit heute waren das Pfahlbauerzeiten!», sagt Kennel und lacht. Dafür habe man sich nicht geschunden wie heute, «das ist ja grauenhaft, wie die Schwimmer heute trainieren!» Niemals hätte sie das mitgemacht, sagt sie mit Nachdruck. 

Gute Betreuung dank «Megge» Lehmann

1947 ging es nach Monaco an die EM. Begleitet wurde das Schwimmteam von Max «Megge» Lehmann, dem späteren Radio- und Fernsehpionier, der von da an die treibende Kraft Elite-Schwimmerinnen war: «Er konnte uns begeistern», sagt Kennel. 

Lehmann war es denn auch, der aus den Olympischen Spielen ein unvergessliches Erlebnis machte für die drei Schweizer Olympia-Schwimmerinnen Liselotte Kobi, Doris Gontersweiler (heute Santschi), mit der Kennel bis heute gut befreundet ist, und der Tessinerin Marianne Ehrismann. Denn: «Die Vorbereitungsphase war lausig», sagt Kennel. 

Liselotte Kobi mit Doris Gontersweiler und Marianne Ehrismann: «Ein Wunder, dass wir keine wollenen Anzüge hatten!» ​

Liselotte Kobi mit Doris Gontersweiler und Marianne Ehrismann: «Ein Wunder, dass wir keine wollenen Anzüge hatten!» 

Noch heute strahlt Kennel, wenn sie von «Megge» erzählt. Die Schwarz-Weiss-Fotos im vergilbten London-1948-Album zeigen einen gutaussehenden Mann. Lehmann war der «Beschützer» der jungen Mädchen, er machte alles für sie und nannte sie «meine Töchter». Und sie himmelten ihn im Gegenzug an. Die meisten anderen Schweizer Athleten in London 1948 hatten da nicht so viel Glück und mussten ihre Wettkämpfe ohne jede taugliche Betreuung bestreiten, da die zuständigen Personen eher als VIP-Gäste denn als Betreuer in London waren.

Zusammenzug in der Männerbastion Magglingen

Für die Olympischen Schwimmwettkämpfe 1948 wurden alle Schweizer Landesrekordhalter selektioniert. In Romanshorn mussten sie bestätigen, dass sie «fähig» waren für Olympia. Sie erhielten eine Uniform, an die ihre Eltern bezahlen mussten, und in Magglingen, wo Sportler bereits damals im «Vorunterricht» als angehende Soldaten gefördert wurden, gab es einen einmaligen Zusammenzug des Olympia-Schwimmteams. 

«Das war ein Highlight», sagt Kennel: «Magglingen war sehr hoch im Kurs bei den Sportlern. Es war eine Männerbastion, fest in militärischen Händen. Wir fühlten uns wahnsinnig geehrt, dass wir dort bei 16 Grad Wassertemperatur trainieren durften.» Auch in Magglingen gab es damals noch kein Hallenbad. 

Nach langem hin und her gab auch das Lehrerseminar, das Kennel besuchte, grünes Licht. «,Megge‘ musste unterschreiben, dass er auf uns aufpasst», sagt Kennel und lacht. Sie war es gewohnt, von ihren Lehrern eher Spott als Anerkennung zur erhalten für ihre sportlichen Leistungen. Eine Erfahrung, die sich in der jungen Frau einbrannte und sie prägte.

Eröffnungsfeier war «enorm beeindruckend»

Und dann kam der Tag, an dem sie mit den anderen Athleten der Schweizer Delegation per Schiff nach London reiste, immer «lieb überwacht» von Lehmann. Auf der Fahrt lernte sie den Leichtathleten Armin Scheurer kennen, Schweizer Fahnenträger in London und laut Kennel «damals eine Kapazität». Es blieb zu ihrem Bedauern fast die einzige Bekanntschaft mit anderen Olympia-Athleten – insgesamt nahmen in London über 4100 Sportler teil, darunter 390 Frauen. Einzig vor der «enorm beeindruckenden» Eröffnungsfeier – sie mussten stundenlang im Park warten, bis sie ins Wembley-Stadion einmarschieren durften –, hatten sie noch einmal Gelegenheit austauschen.

Drei Schwimmerinnen auf Sightseeing-Tour in London... 

Drei Schwimmerinnen auf Sightseeing-Tour in London... 

Während den Spielen waren sie von den anderen völlig abgeschottet, ein olympisches Dorf gab es damals noch nicht: Alle Teams der Schweizer Delegation hatten andere Unterkünfte. Zuerst wohnten die drei Schwimmerinnen in einer Haushaltungsschule, weit weg von den Wettkampfstätten und von ihrem Betreuer Lehmann. Das Essen sei sehr schlecht gewesen, erinnert sich Kennel.  Die Lebensmittel seien – wie in der Schweiz – auch nach dem Krieg noch rationiert worden. «Zum Glück hatte ich noch eine Büchse Ravioli dabei.» Die Enttäuschung war gross. Lehmann sorgte dafür, dass die Mädchen umziehen konnten – in eine Unterkunft, wo Athletinnen aus Jamaika und Frankreich wohnten. 

Big Ben ist kein Mensch

«Einmal durften wir zu den Männern ins Camp Uxbridge, wo sie zusammen mit den Amerikanern wohnten», sagt Kennel, «dort hatten sie alles!» Bis heute sieht sie deren Buffet vor ihren Augen. Im Camp sangen die Schwimmerinnen mit den Amerikanern Lieder, begleitet von Megge Lehmann und seiner Gitarre.

Kennel sah sich auch viele Leichtathletik-Wettkämpfe an. Und an den Sonntagen standen Stadtrundfahrten auf dem Programm. Die drei Schwimmerinnen waren beeindruckt von der Grossstadt London, von der sie nichts wussten, «ausser dass der Big Ben kein Mensch ist». Sie hätten in den zwei Wochen so viele schöne Sachen gesehen in London, erzählt Kennel. «Wir standen einfach da und staunten.»

Die einzige Schweizerin im Halbfinal

Der Schwimmwettkampf fand gegen Ende der zwei Wochen in London statt. Einmal wurden die drei jungen Frauen – als einzige Passagiere – von einem doppelstöckigen roten Bus abgeholt und zum Empire Pool chauffiert. Lilo Kennel startete auf Bahn 4. 200 Meter Brust. Sie gab alles und landete – als einzige des Schweizer Schwimmteams – «glücklich im Halbfinal», wie sie mit der Unbeschwertheit von damals erzählt.

Schöne Erinnerungen: Liselotte Kennel (Mitte) nach der Quali mit Megge Lehmann und Doris Gontersweiler. ​

Schöne Erinnerungen: Liselotte Kennel (Mitte) nach der Quali mit Megge Lehmann und Doris Gontersweiler. 

Nervosität kannte Kennel nicht – auch nicht, als sie im Halbfinal auf dem «Böckli» stand. Sie sah Armin Scheurer am Bassinrand, er feuerte sie an, er schrie und ruderte mit den Armen. «Das kann man sich heute an Olympischen Spielen nicht mehr vorstellen!», lacht Kennel. Sie genoss es, sich mit anderen Nationen messen zu dürfen. In ihrem vergilbten Buch kleben die Ranglisten der Halbfinale. Kennel studiert die Zeiten. «Ich wurde jedenfalls nicht letzte», schmunzelt sie.

Amerikaner mit «Sexappeal»

Die Stars in London 1948 waren die Amerikaner. In Kennels Buch von damals sind sie in modischen Badeanzügen abgebildet. «Die hatten Sexappeal!», sagt Kennel und lacht. Die junge Frau bewunderte die muskulösen Athleten – und ihr gefiel die amerikanische Hymne: «Sie ist so lieblich sanft, um gleich darauf stark und prägnant zu ertönen.» Die Siegerehrungen in London wurden zu einem Schlüsselerlebnis in Kennels Leben: «Ich sagte mir damals in London: Ich will nach Amerika. Ich wollte wissen, ob auch die Menschen dort sind wie ihre Hymne.»

«Immer Amerika»: Die amerikanische Hymne ertönte in London 1948 häufig - und veränderte Kennels Leben.

Nach den Spielen absolvierte Kennel an der ETH als einzige Frau ein Sportstudium. Ihren späteren Ehemann, mit dem sie bis heute zusammenlebt und den sie seit 30 Jahren pflegt, lernte sie in der Studenten-Ski-Nationalmannschaft kennen. 1952 nahm sie an den Olympischen Spielen in Helsinki teil und beendete ihre Schwimmkarriere. Danach arbeitete sie als Primarlehrerin, um Geld zu verdienen für die Fahrt nach Amerika. 1955 machte sie ihren Traum war. Sogar die Zeitung berichtete über die junge Frau, die alleine nach Amerika reiste. In Rochester musste sie zuerst ein halbes Jahr in einem Haushalt helfen – das war vorgeschrieben. Danach ging sie in den Osten, wo sie einen Winter lang als Skilehrerin arbeitete. Im Sommer folgte Kalifornien, nun verdiente sie ihr Geld als Schwimminstruktorin. Sie war beeindruckt, welchen Stellenwert der Sport in Amerika genoss. 

Die Olympischen Spiele haben ihr Leben geprägt

«Die Olympischen Spiele haben mein Leben verändert», sagt Kennel heute. Die Spiele brachten sie nach Amerika und Amerika prägte die junge Frau fürs Leben. Sie setzte sich zeitlebens für den Sport und den Schwimmverband ein. Und für die Frauen: Sie übernahm die SLS-Kommission «Sport und Frau» und wurde darauf als einzige Frau in den Zentralvorstand des Landesverbandes für Sport einberufen. Sie kämpfte dafür, dass die Frauen selbstsicherer wurden. Dass auch sie Eishockey und Fussball spielen durften. Dass auch die Sportlerinnen gefördert wurden. Heute sei sie ruhiger geworden, sagt Kennel. Bei gesundheitlichen Schwierigkeiten zucke sie mit den Schultern und sage, sie sei halt «nicht mehr 80». 82 ist aber noch lange nicht 100. Und Lilo Kennel hat noch viel vor in ihrem Leben.

2012 finden die Olympischen Spiele in London statt – nach 1908 und 1948 bereits zum dritten Mal. Wir haben uns auf die Suche nach den Schweizer Olympioniken von London 1948 gemacht. Und haben einige von ihnen besucht.

Bereits erschienen sind die Beiträge über Turmspringer Ernst Strupler und die Herren des Rudervierers mit Steuermann.

Bilder: Manuela Ryter und zvg

Anmerkung: Dieser Artikel wurde für den Olympiablog verfasst.

Der Traum vom schwarzen Bändel

Wechä Gäggeler ist seit Jahren Gigathlet. Nun ist er einer von denen, die er immer mit viel Bewunderung und etwas Abscheu als Spinner bezeichnet hatte: ein Single. Mit Hilfe seiner Supporter, die in den Wechselzonen bei Hitze und Gewitter stundenlang warteten, um in den entscheidenden Minuten bereit zu sein. 

Es ist der schwarze Bändel am Handgelenk, der alles ausmacht. Wen Werner «Wechä» Gäggeler im Gigathon-Camp in Olten auch trifft, man blickt sich nicht in die Augen, sondern auf den Bändel. Hier ein ungläubiger Blick, dort ein Hauch von Erstaunen – Wechä Gäggelers Bändel ist schwarz. Nicht orange wie jene der Team-of-five-Athleten. Auch nicht grau wie bei den Couples. Er hat den Schritt gewagt: Nach etlichen Gigathlon-Jahren im Fünfer- und Zweierteam startet er nun alleine: Je fünf Etappen an zwei Tagen, insgesamt 92 Kilometer Inline, 12 Kilometer Schwimmen, 96 Kilometer Bike, 198 Kilometer Rad und 52 Kilometer Laufen. Über 7500 Höhenmeter. Ohne Ablösung. Fast ohne Pause. 

Wechä Gäggeler ist kein Hardcore-Athlet. Er ist auch kein geborener Ausdauersportler. Aber er ist einer, der eine Vision hatte. Und nun nur noch ein paar Stunden davon entfernt ist, seinen Traum zu realisieren. «Früher habe ich immer gedacht: ,Was sind das nur für Spinner!‘ Ich wollte mir beweisen, dass ich auch spinnen kann», sagt Gäggeler. Doch er weiss: Es ist nicht sicher, dass er das Ziel vor dem Besenwagen erreichen wird.

Jedes Ding an den richtigen Ort

Es ist Freitagabend. Gäggeler sitzt mit seinen zwei Supportern im Camper. Während rundherum hunderte Gigathleten darauf warten einzuchecken, sind sie hochkonzentriert am Packen. Für jede Disziplin gibt es einen Sack. Trikots, Ersatzpneus, Kraftgel, Salztabletten – jedes Ding muss an den richtigen Ort. Socken eingepackt? Startnummern angeheftet? Alles muss exakt geplant sein.

Gäggelers Supporter werden zwei Tage lang ganz in seinem Dienst stehen. «Die beiden sind massgeblich daran beteiligt, dass ich immer mehr will», sagt Gäggeler: Sein langjähriger Freund Michael Aebischer (43), Vater von vier Kindern, der 1999 mit dem TransSuisse die gemeinsame Gigathlon-Serie begann. Damals war Gäggeler sein Supporter. Und Simone Ryser (42), seine  Couple-Partnerin. Sie wäre eigentlich fit genug, um selbst am Gigathlon zu starten. Aber sie zögerte keinen Moment, ihn zu unterstützen. Sie freue sich, einmal auf dieser Seite des Gigathlon zu stehen, sagt sie. 

Stimmung zwischen Openair und Volkslauf

Vier Disziplinen-Wechsel gibt es pro Tag. Viermal umziehen, Schuhe wechseln, Nahrung tanken. Jedes Mal an einem anderen Ort. Während die Supporter den Gigathleten in vergangenen Jahren von Ort zu Ort im Auto hinterherreisten, ist der Gigathlon 2012 autofrei. Das heisst für die Supporter: Sie tragen das ganze Material von Wechselzone zu Wechselzone.


Das Team sucht sich einen Weg durchs Gigathlon-Camp. Durch die hunderten roten Zelte, die Stände der Sponsoren. Durch das Gewimmel von Musik, Farben und Gerüchen. Die Stimmung schwankt zwischen Openair und Volkslauf. Im Oltener Eishockeystadion wird der Gigathlon eröffnet. Wechä Gäggeler kennt fast jeden. Er ist immer gut gelaunt, hat immer gute Sprüche parat. Jeder freut sich, ihn zu sehen. Und jeder richtet als erstes den Blick auf den Bändel. Erstaunt, erfreut, neidisch. Gäggeler wird nervös. Aber er kann beruhigt schlafen - seine Supporter haben alles im Griff.

Gigathleten zelebrieren Leidenschaft zum Sport

Samstagmorgen, 3.30 Uhr. Heute ist Gäggelers Geburtstag. Ein Müesli zum Frühstück. Die lange Inline-Strecke geht in die Beine. Simone Ryser wartet bei der Wechselzone in Altreu, wo sie Gäggeler in den Neopren steckt und ihn motiviert fürs Schwimmen, seine schwächste Disziplin. 9 Kilometer aareabwärts bei schwächster Strömung sind jedoch ein harter Brocken. So weit ist er noch nie am Stück geschwommen. Irgendwann kann er nicht mehr, hält bei einem Boot und fragt, wie weit es noch sei. Er ist erst in der Hälfte.

Michael Aebischer wartet derweil bereits in Solothurn. Mountainbike, Notvorräte, Sonnencreme und Handy liegen in der dicht gedrängten Wechselzone am Boden. Neben Campingstühlen, Rucksäcken und Helmen. Warten ist eine der Hauptaufgaben der 820 Supporter. Stundenlanges Warten, um dann in den entscheidenden Minuten parat zu sein. Aebischer ist jedoch nicht allein. Man kennt sich in der Single-Wechselzone. Man hilft sich aus. Hält zusammen in der mörderischen Hitze. 

Aebischer beobachtet die Singles, die nun zahlreicher in die Wechselzone kommen, um sich gleich wieder mit dem Bike den Weg durchs Gewimmel zu bahnen. Es wurmt ihn nur zuzusehen, wie die anderen Vollgas geben und ihre Leidenschaft zum Sport zelebrieren. Er, der sich seit langem am Biennathlon mit Gäggeler duelliert. Doch der Gigathlon 2012 war für Aebischer kein Thema - er hatte im November seine Achillessehne gerissen. Ein guter Grund, stattdessen seinen Freund zu betreuen.

Dank Supportern kurz abschalten

Und dann kommt er. Aebischer lotst Gäggeler zum seinem Platz im Chaos der Wechselzone. Gäggeler strahlt. Die Schwimmstrecke habe ewig gedauert, sagt er. Raus aus dem Neopren, abtrocknen, Velotrikot an, Schuhe, Trinken, Sonnencreme. Gäggeler setzt sich gelöst auf den Campingstuhl. Plaudert, isst ein paar Nüsse. Er ist zufrieden mit seiner Form. Müde, aber motiviert. Dank seinen Supportern kann der Gigathlet in der Wechselzone kurz abschalten. Und sie sind es, die ihn wieder auf die Piste schicken und es nicht zulassen, dass er in der Wechselzone liegen bleibt.

Aebischer nimmt Gäggelers Bike und die beiden verschwinden im Gewimmel. Vier Stunden wird der Gigathlet für die nächste Etappe haben. Vier Stunden auf und ab, ohne Unterbruch. Und das in der grössten Mittagshitze und zum Teil durch den Morast, bis nach Oensingen. Danach folgen über fünf Stunden auf dem Rennvelo, während die Schnellsten schon lange im Camp am Duschen sind.

Weshalb tut er sich das an? Vielleicht macht er es für sein Ego. Um sich zu beweisen, dass er mit seinen 43 Jahren noch zu so etwas fähig ist. Vielleicht wegen der Anerkennung. Vielleicht ist es die Angst vor dem Älterwerden. Wann, wenn nicht jetzt?, hatte er sich am letztjährigen Gigathlon gefragt. 

Im Ziel ist am Start

Es ist 18 Uhr in Sissach. Gäggeler ist noch auf dem Rennvelo unterwegs. Das Warten geht weiter, zu Swing und Sonne. Es ist nach sieben Uhr, als er eintrifft. Er nimmt es gemütlich, er hat keinen Stress mehr. Das einzige Ziel ist jetzt, noch die letzte Etappe zu schaffen, die 24 Kilometer Laufen. Er lacht noch immer, doch er ist erledigt. Zu hart war die Strecke. Die fiesen Steigungen, immer und immer wieder. Zu heiss die glühende Hitze. Er kann kaum etwas essen und trinken. Aebischer besteht aber darauf, drückt ihm ein Biberli und ein Becher Cola in die Hände. Gäggeler muss sich hinlegen. Er beginnt zu zweifeln, ob sein Traum noch realistisch ist. Aebischer befiehlt ihm, weiterzukämpfen. Aufgeben ist kein Thema. Heute nicht. Aber morgen?

Endlich läuft Gäggeler los. Aebischer würde ihn gerne begleiten. So wie früher, als die Supporter die Gigathleten noch mit dem Bike begleiten und auf der Strecke betreuen durften. Er würde ihn beschwatzen und mit ihm lachen. «Wir hätten es lustig», ist er überzeugt. Nun wird Gäggeler alleine durch den Wald rennen, im Dunkeln  – ohne die dringend nötige Stirnlampe, die im Camper blieb. Er wird daran zweifeln, ob er es noch bis ins Camp schafft. Die Beine wollen sich nicht an den Rhythmus des Laufens gewöhnen. Es ist 23.15 Uhr nachts, als Wechä Gäggeler nach über 17 Stunden im Ziel einläuft, Arm in Arm mit zwei anderen Läufern. Er strahlt, ist glücklich. Aber zuversichtlich ist er nicht. «Morgen könnt ihr ausschlafenl», sagt er seinen Supportern. Unvorstellbar erscheint es ihm, in ein paar Stunden schon wieder loszufahren, das Ganze von vorne. Geburtstagsparty wird es keine mehr geben.

Der Besenwagen im Rücken

Es ist Sonntag. Der blaue Punkt auf dem Tracker bewegt sich vorwärts, es sind Gäggelers Lebenszeichen. Simone Ryser und Michael Aebischer reisen wieder von Wechselzone zu Wechselzone. Sie wechseln sich wie immer ab, damit die Wege mit dem Zug kürzer werden. Von Olten nach Nottwil, über Sursee nach Rothrist, dann nach Oensingen und wieder zurück nach Olten. Dieses Mal nicht durch die Hitze, dafür durch Blitz und Donner. Ein Hagelsturm deckt die Inline-Strecke zu, Bäche fliessen über die Bike-Singletrails. Der blaue Punkt bleibt nie stehen, das ist ein gutes Zeichen. Der zweitletzte Wechsel klappt nicht gut, es regnet in Strömen, Aebischer ist nicht parat. Der Camelbag mit dem Wasser für die Laufstrecke bleibt liegen. Doch Wechä Gäggelers blauer Punkt im GPS kriecht weiter, den Besenwagen im Rücken seinem Ziel entgegen. Seinem Traum, nicht nur einen schwarzen Bändel zu tragen, sondern mit ihm das Ziel vor Wettkampfschluss zu erreichen. Um sich danach noch höhere zu stecken. Seine Supporter erwarten ihn im Dunkeln.

Text und Fotos: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 1. Juli 2012 im Olympiablog und auf www.gigathlon.ch.

Freundschaft statt Ergometer

An den Olympischen Spielen in London 1948 sassen fünf junge Schweizer Ruderer im gleichen Boot und hielten sich für unschlagbar. 64 Jahre später sitzen sich vier von ihnen als alte Herren wieder gegenüber. Und ihre «tiefe Kameradschaft», die ihnen damals Olympiasilber bescherte, ist schlagartig wieder da.

Die Wasserverhältnisse waren gut, ein leichter Gegenwind wehte über das Wasser der Themse bei Henley, im Sommer 1948. Die Boote der Vierer mit Steuermann im olympischen Ruderfinale wurden ins Wasser gesetzt. Am Start waren Amerika, Dänemark und die Schweiz. Die Schweizer gingen sofort in Führung. Vier kräftige Ruderer Mitte zwanzig und ein blonder Jüngling am Steuer. Er schrie den Takt in den Wind und feuerte die Ruderer an.

In der Hälfte führten die «Zürcher Seeklübler» mit einer halben Länge auf Amerika und mit einer ganzen auf Dänemark. «Doch dann legten die Yankees einen langen Zwischenspurt ein», schrieb ein Reporter. Es kam zum Kopf-an-Kopf-Rennen.

Der junge Steuermann nahm das amerikanische Boot im Blickfeld wahr, verzweifelt versuchte er, seine Kameraden zu noch kräftigeren Zügen anzufeuern. Doch das gegnerische Boot zog an ihnen vorbei. «Der Endkampf war hinreissend», stand danach in der Zeitung. «Nach grossem Ringen blieben die Überseer [sic] mit einer halben Länge siegreich.»

Der Schock sass tief bei den fünf Schweizer Ruderern. Dabei hatten sie sich für unschlagbar gehalten. Sie sassen noch ausser Atem im Boot, als ihnen bereits die Silbermedaille übergeben wurde. Sie war in diesem Moment eine einzige Enttäuschung.

Wiedersehen nach 64 Jahren

Das war vor 64 Jahren. Vieles haben Emil Knecht (88), Erich Schriever (87), André Moccand (81) und Rudolf Reichling (87) in dieser Zeit vergessen. Nicht aber diesen Moment, als die Amerikaner kurz vor dem Ziel an ihnen vorbeizogen.

«Ich kämpfte und versuchte noch mehr Dampf zu geben. Ich sah nichts mehr, doch ich ruderte weiter», erzählt Emil Knecht. Seine Augen leuchten. «Wir wollten nur eines: gewinnen», sagt Erich Schriever. Und Steuermann André Moccand habe sich im Ziel «richtig aufgeregt».

Sassen in London 1948 im selben Boot: André Moccand, Emil Knecht, Rudolf Reichling und Erich Schriever (v.l.).

Nun sitzen die ehemaligen Ruderer bei Rudolf Reichling im Esszimmer. Ein jeder von ihnen ist vom Alter gezeichnet. Doch die Erinnerungen sind noch lebendig. Sie sind zusammengekommen, um über die Olympischen Spiele in London 1948 zu erzählen. Um Erinnerungen zu wecken und Andenken auszutauschen. Fotos, die attraktive junge Männer zeigen, Zeitungsartikel, vergilbte Ranglisten, ja gar die olympischen Silbermedaillen und ein blauer Trainer aus Zellwolle liegen verstreut auf dem Tisch neben Speckkuchen und frischem Most. Die Geschichten von damals, die Anekdoten, die Emotionen liegen wie ein Schleier in der Luft. Genauso wie die Gedanken an den fünften im Team, Peter Stebler, der vor wenigen Jahren verstorben ist. 

London 1948 (fast) nur für Amateure

«Die Amerikaner hatten eine sehr starke Mannschaft», sagt Erich Schriever. Man habe sie bewundert, sagt Moccand, «das waren richtige Fetzen!» Die hätten sich aber auch ganz anders auf Olympia vorbereitet. «Die studierten alle und konnten den halben Tag Sport treiben!», sagt Reichling empört. Was damals mit den amerikanischen Studenten begann, ist dem ehemaligen Nationalratspräsidenten und Weinbauer bis heute ein Dorn im Auge: die Professionalisierung des Sports. 1948 galt noch die Klausel von Coubertin, welche Profis an Olympischen Spielen ausschloss. Die Olympioniken mussten unterschreiben, dass sie Amateure waren. «Es war der grösste Blödsinn, diese Klausel abzuschaffen», sagt Reichling, «das ist nicht Sport, wenn jemand den ganzen Tag trainiert und dafür bezahlt wird.» Schriever ist da anderer Meinung. 

Auch für Reichling war Olympia das «höchste Ziel jedes Sportlers». Doch die Arbeit kam zuerst. Als er kurz nach den Olympischen Spielen den Hof des Vaters in Stäfa übernahm, blieb denn auch keine Kraft mehr fürs Rudern übrig. «Gesundheitsrudern war nichts für mich. Ich mag keine halben Sachen.» 

«Extrem gut befreundet»

Die jungen Ruderer des Zürcher Seeklubs waren Athleten aus Leidenschaft. Und sie waren Freunde. «Es verband uns eine enge Kameradschaft», sagt Knecht, der später als Kaufmann arbeitete, «wir freuten uns jedes Mal, ins Boot zu steigen.» Eine eingefleischte Mannschaft, die durch dick und dünn ging. «Das war unser Erfolgsgeheimnis», sagt Schriever. Auch Knecht ist überzeugt, dass es diese Freundschaft war, die das Team so erfolgreich machte. Die sie bereits «als Juniorboot» die Schweizer Olympiamannschaft von 1936 schlagen liess und sie nach London brachte. «Heute werden die Rudermannschaften aufgrund des Ergometers zusammengestellt. Ich behaupte, dass so nie dieses Mannschaftsgefühl aufkommen kann, welches damals  zu unserem Erfolg geführt hatte.»

Dieser Trainer war das einzige Bekleidungsstück, das die Schweizer Olympioniken, hier Rudolf Reichling, nicht selber bezahlen mussten.

Und dann packen sie ihre besten Geschichten aus. Etwa jene von Knecht und Stebler, die am Vortag eines Wettkampfs wegen einer Frau ihr Boot im Wasser vergassen und es am nächsten Tag nirgends mehr fanden. Oder jene von Reichling, der in neuen Wettkampfunterkünften regelmässig auf die Betten der anderen hechtete und diese demolierte, um sie danach brav wieder zu flicken.

Vier Freunde ohne Steuermann

Die Freunde hatten sich schon früh gefunden. Politikersohn Reichling, der spätere Architekt Schriever und Peter Stebler gingen in dieselbe Mittelschule. Ihr Turnlehrer war Ruderer und spornte das Trio an. Emil Knecht kam später dazu: «Ich ging immer einen anderen Weg als alle anderen», sagt er mit einem breiten Lachen auf dem Gesicht. 

Wegen Schwierigkeiten in der Schule kam Knecht in ein «Institut zum Nachstudieren». Eigentlich war er Velorennfahrer. Doch dann nahm ihn ein Bekannter mit zum Rudern. Im Seeklub befreundete er sich «ganz eng» mit Peter Stebler. So eng, dass sie später sogar zwei Schwestern heirateten. Es war diese Freundschaft, die Knecht vom Velorennfahrer zum Ruderer und «dem Rekruten im Team» machte.

Knecht hatte einen Trumpf: «Das ,Bibi‘, sein Auto», sagt Reichling. «Er wusste sogar, wie man den Kilometerzähler ausschaltet, damit sein Vater nicht sah, wie viel Benzin wir verbrauchten!»Knecht lacht laut los mit seiner leisen und glucksenden Stimme. Mit einem Schlag spürt man, was die Männer in jungen Jahren verbunden hatte. Man spürt ihre Lebenslust und den Teamgeist. Die jugendliche Sorgenlosigkeit und Unbeschwertheit. Und die tiefe Freundschaft, die sie damals verband. Vier Freunde, die ruderten statt sich in Krieg und Schrecken zu verlieren.

Genau 50 Kilo Steuermann

Das Boot des Zürcher Vierers war schnell. Bei der olympischen Hauptprobe, der berühmten Henley-Regatta, scheiterten die Ruderer jedoch. Zu eng war der Kanal ohne Steuermann. Der Ruderverband machte sich deshalb auf die Suche nach einem fünften Teammitglied. An den nächsten Schweizermeisterschaften wurde der 17-jährige André Moccand, der erst zwei Jahre zuvor mit Rudern begonnen hatte, vom Speaker aufgerufen. Ahnungslos wurde er gewägt. 50 Kilo, das war perfekt. Die Verbandsherren eröffneten ihm, er werde in Kürze an den Olympischen Spielen in London das Steuer übernehmen.

Sie nahmen Moccand mit zu den Trainings auf dem Stausee in Wettingen, auf dem die Limmat ein ähnliches Fliessverhalten aufwies wie in Henley. Er blieb jedoch immer «der Kleine» im Boot, der sich seinen Platz in der «eingefleischten Mannschaft» erkämpfen musste. 

Für Moccand war es «ein gewaltiges Ereignis», an den Olympischen Spielen teilnehmen zu dürfen. Auf den vergilbten Kartonseiten mit sorgfältig eingeklebten Zeitungsartikeln, Ranglisten und Fotos haftet noch der Stolz des jungen Laboranten-Lehrlings an. Auf einer Seite ist die Abbildung eines Swissair-Flugzeugs eingeklebt. «Mit dem Flugzeug nach London! Das war etwas», erinnert sich der spätere Chemiker und Politiker. 

Der erste «Televisor»

In London logierten die jungen Ruderer wie Fürsten. Während die anderen 27 Rudernationen in Armeeunterkünften und Turnhallen untergebracht waren, wohnten sie dank guten Beziehungen sehr nobel als Gäste im Hause Gilette – dem Chef des gleichnamigen Unternehmens. «Er schenkte sogar jedem von uns einen Rasierapparat!», erzählt Knecht. Auch Schriever erinnert sich: «Es war ein wunderbares Haus in der Nähe der Themse. Mit kurzgeschnittenem Rasen bis hin zum Wasser, typisch englisch eben.»

Vor und nach den Wettkämpfen genossen sie die freie Zeit im guten englischen Hause. Im Garten, wo sie erstmals einen «Televisor» laufen sahen. Oder in einem «netten Beizli», wo man ein «Spiel mit Pfeilen» spielte. Sie tranken im Garten Whiskey und gossen damit die Blumen, wenn sie dabei gestört wurden. Schliesslich hatten sie sich verpflichtet, während Olympia keinen Alkohol zu trinken und nicht zu rauchen. Die schönen Blumen im Garten Gilettes seien im Verlauf der Olympischen Spiele leider eingegangen, sagt Knecht. 

Prinzessin Elisabeth, die Schöne

Für die fünf Schweizer Ruderer unterschieden sich die Olympischen Spiele nicht stark von einer anderen Regatta. «Es war ein grosser Vorteil, so gediegen zu wohnen», sagt Schriever. Zu anderen Olympioniken hatten sie jedoch keinen Kontakt. Von der Eröffnungs- und der Schlussfeier sowie von anderen Sportarten bekamen sie nichts mit. Auch die Stadt bekamen sie nie zu Gesicht. 

Dafür sahen sie Prinzessin Elisabeth, die heutige Königin Englands. «Sie war im Motorboot gekommen, um unser Rennen zu sehen!», erzählt Reichling. Knecht lacht: «Sie hat mir sehr gut gefallen!»

Die vier Herren geniessen es, sich an ihre Jugend zu erinnern. Und Moccand, der seine Kameraden seit über 60 Jahren nicht mehr gesehen hat, ist die Freude ins Gesicht geschrieben. Er nimmt die Medaille hervor, ein schönes, schweres Stück Silber, Olympia und die griechischen Helden sind darauf abgebildet. Sie erhielten sie ohne Hymne oder Feier. Damals sei man noch nicht als Sieger gefeiert worden. Damals ging es laut Coubertin schliesslich ums Mitmachen, nicht ums Siegen. 

«Man denkt gerne daran.» Mehr nicht.

Zurück in der Schweiz kam ein Gratulationsschreiben des Militärdepartements. Der Zürcher Seeklub machte eine kleine Siegesfeier. Und hie und da rief danach eine Schule an und wollte sich eine der Medaillen ausleihen. 

Keiner der fünf Ruderer vergass je, dass er in jungen Jahren an den Olympischen Spielen teilgenommen hatte. Bis heute erhalten sie Post von Olympiasammlern, die eine Unterschrift von ihnen wollen. Und sie sind stolz, als Medaillengewinner im Olympischen Museum in Lausanne verewigt zu sein. Ihr Leben haben die Spiele jedoch nicht geprägt. «Man denkt gerne daran», sagt Schriever. Mehr nicht.

2012 finden die Olympischen Spiele in London statt – nach 1908 und 1948 bereits zum dritten Mal. Wir haben uns auf die Suche nach den Schweizer Olympioniken von London 1948 gemacht. Und haben einige von ihnen besucht.

Bereits erschienen ist der Beitrag über Turmspringer Ernst Strupler. Lesen Sie auch das Porträt der Schwimmerin Liselotte Kennel-Kobi.

Bilder: Manuela Ryter und zvg

Anmerkung: Dieser Text wurde für den Olympiablog verfasst.

Markus Osterwalder: «London 2012 - Design ohne Seele»

Sieben Tage lang durfte ich den Fackellauf durch Griechenland begleiten, von der Entzündung des olympischen Feuers in Olympia  bis zur Übergabe an Sebastian Coe, den Präsidenten des Organisationskomitees von London 2012. Ich bin sehr glücklich, dass ich dieses ganze Ereignis einmal erleben durfte. Es waren sieben interessante und für mich als Olympiasammler sehr bereichernde Tage. Eine grosse Enttäuschung bleibt aber, denn ich hatte gehofft, dass auch ich einen Teil mit der Fackel in der Hand absolvieren dürfte, aber das Versprechen seitens des Griechischen Olympischen Komitees wurde leider nicht eingehalten. Ich hatte es mir einfacher vorgestellt, doch sie hatten bereits alles durchgeplant. Mein Trost: In Rio 2016 werde ich auf jeden Fall Fackelläufer sein, das habe ich bereits in die Wege geleitet. Wahrscheinlich werde ich durch den Urwald rennen.

Wir - zwei weitere Olympiasammler und ich - hatten eine Akkreditierung, mit der wir überall rein und raus konnten. Wir konnten deshalb sehr vieles erleben. Wir lernten Griechenland kennen, es ist ein wunderschönes Land. Es ist unglaublich, welche Logistik hinter dem Fackellauf steckt. Der Ablauf war jeden Tag ähnlich: Der Auto-Konvoi des Fackellauf-OKs fuhr ins nächste Städtchen, durch das der Fackellauf führte und sich die lokale Prominenz zusammengefunden hatte, stellte als erstes die grosse Schüssel auf und bereitete alles vor. Dann wartete man auf den Fackelläufer, der das Feuer entzündete.

Und dann begann das Rahmenprogramm, meistens folkloristische Tänze. Und die Reden. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Reden in so kurzer Zeit gehört! Die Griechen lieben Reden! Am Schluss der Zeremonie entzündete der nächste Fackelläufer seine Fackel und lief los. Und die Festlichkeiten zogen weiter: Alles wurde eingepackt, um am nächsten Ort gleich wieder ausgepackt und aufgestellt zu werden. So ging es sieben Tage lang, täglich zwei bis drei Mal. Wir drei Olympiasammler fuhren immer am Schluss des Auto-Trosses. Das passte, denn jedes der 16 Autos hatte seine Funktion: In einem waren die Sicherheitsleute, im nächsten die Organisatoren der Zeremonien oder jene, die die Unterkünfte organisierten. Und am Schluss eben wir, die «Touristen».

Leider haben wir nicht allzu viele Beteiligte des Fackellaufs näher kennengelernt. Die Griechen nahmen uns als Störfaktor wahr, was die Kommunikation mit ihnen erschwerte. Erst gegen Schluss war es möglich, Gespräche mit ihnen zu führen.

Abends hatten wir unser eigenes Programm. Und manchmal liessen wir auch eine Zeremonie aus. Und machten stattdessen das Postamt der Stadt ausfindig. Mein Sammlerkollege, mit dem ich unterwegs war, ist Olympia-Philatelist. Das heisst, er sammelt Olympia-Briefmarken und alles darum herum. In den grösseren Städten, durch die die Fackel getragen wurde - insgesamt sieben -, gab es einen Olympia-Sonderstempel. Mein Kollege setzte alles daran, jeden einzelnen dieser Stempel zu erhalten. Mitsamt Sonderumschlag und spezieller Olympia-Briefmarke (wenn auch die olympischen Ringe wegen den IOC-Gebühren jeweils nicht drauf waren). Er war unglaublich hartnäckig und machte auch vor einem geschlossenen Postbüro nicht Halt. So auch an jenem Sonntagabend, als er den Postchef, der in Athen weilte, überredete, die Postfiliale nur für uns öffnen zu lassen. Diese philatelische Schatzjagd war ein Teil unserer Reise. Ich kenne nun wohl jedes Postamt Griechenlands. Das war natürlich auch für mich spannend. Aber ich bin kein Philatelist - mich interessiert das Olympia-Design. Das Darum-Herum von Olympischen Spielen. Ich sog auf der Reise jedes Detail auf.

So etwa alles rund um die Fackel. Wie die Kisten mit den Fackeln am neuen Ort aus dem Lastwagen gehoben wurden. Oder wie der Engländer - er war Mitdesigner der Fackel - jede Fackel eigenhändig zusammenschraubte. Er hatte eigens dafür ein Gestell gebaut, damit es schneller ging. Das fand ich unglaublich spannend. 600 Fackelträger durften das Feuer in Griechenland weitergeben. 8000 werden es in England sein, bis das Feuer am 27. Juli in London ankommen wird. Insgesamt wurden 12 000 Fackeln produziert. Die 8600 Fackelträger dürfen ihre Fackel behalten, die restlichen 3400 werden an wichtige Leute verschenkt. Ich habe leider noch keine ergattert für mein Olympia-Museum. Noch sind sie zu teuer.

Als «Olympic Design»-Kenner interessiere ich mich natürlich sehr fürs Design der Fackel. Ich finde sie ok. Sie ist kein Traum, aber auch nicht schlecht. Solides Design, aber ohne richtige Idee dahinter. Sie ist golden, das ist ein Novum, das hat es noch nie gegeben. 8000 Löcher stehen für die 8000 Läufer in England, das Dreieck steht für die drei olympischen Grundideen Höchstleistung, Respekt und Freundschaft. Das ist nicht sehr kreativ. Vor allem, wenn man sie mit früheren Fackeln vergleicht!

Athen: Die Fackel hatte die Form von Olivenbaumblättern in getrockneter Form. Sydney: Das Design der Fackel war inspiriert von den Bögen des Opera House. Und von einem Boomerang. Peking: Die Fackel als Papyrus, diese Fackel war wahnsinnig schön. Sie alle hatten eines gemeinsam: eine Geschichte. Die Geschichte des jeweiligen Landes. Die Fackel von London hat keine Geschichte. Sie ist eine funktionstüchtige Fackel und fertig. Das gleiche gilt übrigens auch für die weiss-goldene Uniform. Das enttäuscht mich, da hätte ich von London mehr erwartet. Alles ist konservativ, etwas langweilig, ohne Geschichte dahinter. Auch die Medaille! Über die Medaille von Peking 2008 könnte man ein Buch schreiben. Jene von London: ohne Geschichte. Dabei gäbe es in London viele gute Designer. An früheren Olympischen Spielen versuchten die Designer, den Sachen eine Seele zu geben. In London sind sie einfach nur eines: nüchtern. Am schlimmsten sind die Piktogramme. Jene von Athen waren wunderschön, antiken Vasenmalereien nachgebildet. Jene von London sehen aus, als hätte sie ein Kindergartenkind gezeichnet. Keine schönen Formen, unausgeglichen. Das ist schlimm.

Ein persönliches Highlight der Reise war für mich die Begegnung mit der Design-Chefin von Athen 2004. Mit ihr konnte ich ewig über Olympiadesign, Ideen und Visionen fachsimpeln. So habe ich beispielsweise die Idee, ein Designprogramm für Olympische Spiele aufzugleisen. Bisher musste jeder Austragungsort von Null anfangen. Dabei könnte das neue OK von den früheren Austragungsorten profitieren. Ich habe in meinem Olympiamuseum alle nur möglichen Informationen zum Design von allen Olympischen Spielen gesammelt. Diese Informationen möchte ich zugänglich machen.

Grundsätzlich bin ich beeindruckt, wie professionell die Griechen - entgegen ihrem Ruf – den Fackellauf organisierten. Man merkte, dass sie dies nicht zum ersten Mal machten. Ich habe insbesondere das Ambiente im Panathinaiko-Stadion, dem ersten Olympiastadion der Neuzeit, ganz tief in mich einwirken lassen. Ich konnte mir richtiggehend vorstellen, wie die Spiele damals, 1898 waren. Und auch hier interessierten mich natürlich insbesondere die Details: Wie waren damals die Stühle nummeriert? Wie organisierte man die Eintrittskarten? Wo sass die Königin?

Sehr speziell war auch die Zeremonie an der türkischen Grenze. Wir drei Olympiasammler waren die einzigen Zuschauer, die restlichen Leute waren alles ranghohe Offizielle oder Polizisten. Das Ganze war skurril, insbesondere, wenn man an das angespannte Verhältnis zwischen den Türken und den Griechen denkt. Da war auf der einen Seite die griechische Fahne, auf der anderen die türkische, zwei Wächter und dazwischen ein Fluss und eine Brücke. Mitten in der Pampa. Die Türken kamen über die Brücke, es wurden Hände geschüttelt und in der Mitte der Brücke das Feuer angezündet. Ich rechnete damit, dass die Griechen den Türken eine Fackel schenken würden. Das wäre doch ein guter Moment gewesen, ein Zeichen zu setzen, schliesslich ist Freundschaft einer der Hauptpfeiler der Olympischen Spiele. Doch der OK-Chef des Fackellaufs drückte dem türkischen NOK-Präsidenten einen Pin in die Hand. Einen Pin!! Ob das eine Provokation war?

In der Schlusszeremonie in Athen kamen dann die Stars. David Beckham war da. Und Prinzessin Anne, die Tochter von Königin Elisabeth II., sie ist IOC-Mitglied. Es war sehr schön, so nah dran sein zu dürfen. Der Präsident vom Griechischen Olympischen Komitee erhielt das Feuer von der Oberpriesterin, die bereits bei der Entzündung des Feuers am ersten Tag dabei war. Dann entzündete er mit der Fackel zusammen mit Prinzessin Anne ein Lämpli und ging mit ihr Hand in Hand aus dem Stadion. Und schon ging der Fackellauf weiter. Nun aber in England.

Markus Osterwalder ist Grafiker und Olympiasammler. Sport ist für ihn Nebensache - sein Herz schlägt für das Design von Olympischen Spielen. In London 2012 wird er wie an vergangenen Olympischen Spielen erneut auf die Suche gehen nach den kleinen Details.

Bilder: Markus Osterwalder​

Text: aufgezeichnet von Manuela Ryter

Anmerkung: Dieser Artikel wurde für den Olympiablog verfasst.​

«Wir haben gefroren in London»

An den Olympischen Spielen in London 1948 flog und fror Turmspringer Ernst Strupler um die Wette. 40 Jahre später noch bestieg der damals 70-Jährige den 10-Meter-Turm. Nun macht er seine waghalsigen Sprünge nur noch mental – dafür umso perfekter.

Es war kalt im Sommer 1948. Es war einer der kältesten Sommer überhaupt, an die sich Ernst Strupler erinnern kann. Und das sind doch immerhin ein paar, mit seinen 94 Jahren. Es war so kalt, dass das Schwimmbad in Baden, in dem der damals knapp 30-Jährige seine kunstvollen Sprünge vom 10-Meter-Turm trainieren konnte, geschlossen blieb. Strupler bekam einen Schlüssel und trainierte trotzdem. Für einmal nicht beobachtet von vielen jungen Frauen, die der athletische Mann mit den blonden Locken sonst mit Doppelsalti und komplizierten Schrauben- und Handstandsprüngen beeindruckte, sondern im leeren Bad unter Aufsicht seiner Frau.

«Sie sass am Bassinrand, mit unserem Ältesten im Kinderwagen – für den Fall, dass mir etwas passiert wäre», erinnert sich Strupler und lacht verschmitzt. Es ist ein schüchternes, fast zahnloses Lachen. Passiert ist dann zum Glück nichts Aussergewöhnliches. «Ausser dass mein Sohn bei jedem Sprung herzzerreissend schrie und erst aufhörte, wenn ich wieder auftauchte.» 

Auch im kriegsversehrten London war es kalt. Durch den «Wembley Empire Pool», die olympische Schwimmhalle unmittelbar neben dem riesigen Stadion, zog ein eisiger Wind. «Wir haben gefroren», sagt Ernst Strupler. Dies ist die stärkste Erinnerung, die er an die Olympischen Spiele von 1948 hat. Mit Zug, Schiff und Bus waren die 165 Athleten und sieben Athletinnen der Schweizer Delegation an die Spiele gereist. Für den jungen Turmspringer sollten sie zur grossen Enttäuschung werden. Der mehrfache Schweizermeister, der es gewohnt war zu den Besten zu gehören, erreichte in London nur den 25. Rang. 

«Miserable Umstände»

In London war alles anders, als es der talentierte junge Schweizer gewohnt war. «Die Umstände waren miserabel», sagt Strupler heute, 64 Jahre später. Zwar gelangen ihm in der ersten Runde «ordentliche» Sprünge. Der «Handstand Durchschub» etwa oder der «fliegende Doppelsalto». Die Schweizer Schwimm-Delegation sei aber schlecht vorbereitet gewesen, «eine völlige Nietenbande!».

Und so kam es, dass die Athleten anderer Nationen bequem mit dem Auto an die Spielstätten chauffiert wurden, Ernst Strupler und Willy Rist, der zweite Schweizer Turmspringer, hingegen in aller Frühe mit der «Untergrund» anreisen mussten. Einen Beutel Milch und ein Stück Brot, am Abend zuvor beim Nachtessen entwendet, im Sack. «Dabei hätte ich mich doch gerne vor dem Wettkampf aufgewärmt und ein paar Sprünge gemacht!» 

Ernst Strupler mit seinem Sohn Ueli.

Ernst Strupler mit seinem Sohn Ueli.

Vergessen hat er das bis heute nicht. Auch nicht, dass er mit den Österreichern, den einzigen Athleten, die er in London kannte, hätte mitfahren können. Doch deren Delegationschef sei mit jenem der Schweizer zerstritten gewesen und habe ihm die Mitreise verweigert. Auch während des Wettkampfs war niemand da für die zwei Schweizer. Die ungewohnt langen Wartezeiten machten dem ehrgeizigen Athleten mental zu schaffen. Sein Unverständnis gilt noch heute dem damaligen Delegationschef der Schweizer Schwimmer, der es laut Strupler unterlassen hatte, für seine Athleten zu sorgen. «Er ging lieber ins Pub, als uns zu betreuen.»  

Ernst Strupler schüttelt den Kopf. Er, der heute im Altersheim in der Nähe von Bern ein sonniges Zimmer bewohnt und manchmal tagelang nicht redet, kommt richtig in Fahrt, obwohl er nur noch leise und langsam sprechen kann. Man spürt den Kampfgeist, der den ehemaligen Spitzensportler und leidenschaftlichen Turnlehrer früher antrieb. Der ihm sogar einen Prozess bescherte, weil er am Ende der Olympischen Spiele gegen besagten Delegationschef aufmüpfig wurde und statt an einem Länderwettkampf teilzunehmen ohne Pass und Geld die Rückreise in die Schweiz antrat. Doch davon später.

Mit dem Ägypter in der Badewanne

Denn da war noch das mit den Badewannen. Jenen Wannen, die andere Nationen für ihre Athleten mieteten. In denen die Athleten dann in den langen Wartezeiten sassen und sich aufwärmten. Die Schweizer hatten keine Badewanne, «auch das hat der Delegationschef versäumt», sagt Strupler. «Die anderen Athleten badeten und wir Schweizer standen da und schlotterten.» Irgendwann hatte ein Ägypter Mitleid und lud Strupler in seine Badewanne ein. Er blieb einer der wenigen Athleten, die Strupler während den Spielen kennenlernen durfte. 

Vom olympischen Geist, vom völkervereinenden Mythos, der die Olympischen Spiele bis heute umgibt, sei nicht viel zu spüren gewesen. Dabei hatte sich Strupler, der leidenschaftliche Turnlehrer und Trainer, der sich sogar in seiner Dissertation mit Sport und Olympia befasst hatte, darauf fast am meisten gefreut.

Die Amerikaner sprangen schöner

Dafür kam der ehrgeizige Athlet in London mit einem anderen Phänomen in Berührung: den Amerikanern. Noch nie zuvor hatte er die Amerikaner springen sehen. Und als er dann in London in der ersten Wettkampf-Runde zuschaute, wie unglaublich elegant und schön die Amerikaner vom Turm sprangen, wie präzise sie Absprünge und Rotationen ausführten, so anders und so viel perfekter als die Europäer, war er fasziniert. Die Amerikaner waren eine andere Dimension. 

«Und dann machte er seinen grössten Fehler», erzählt Ueli Strupler, der älteste Sohn, dem der Olympionike während seines langen Lebens viele seiner Geschichten anvertraut hat: «Statt sich zwischen der ersten und der zweiten Runde zu erholen, trainierte er.» Er wollte so gut wie die Amerikaner springen, war übermotiviert. Und scheiterte. Beim «Doppelsalto rückwärts gehechtet» erhielt er eine Null. Der elfte Rang aus der ersten Runde ging verloren.

«Zeitlebens hat er danach als Trainer gepredigt, dass man kurz vor oder während eines Wettkampfs nicht mehr trainiert», sagt der Sohn. Und noch heute ist der alte Mann fasziniert davon, mit welch professionellem Team die Amerikaner damals antraten. Strupler streicht sachte und stolz über das Foto, das ihn mit dem Olympiasieger Sammy Lee zeigt. «Der kam mir bis zur Achselhöhle!», sagt Strupler, «er sprach mich an und fragte mich, ob ich Ringer sei – gross und muskulös wie ich war.» Beide wurden sie in London dreissig Jahre alt.

Rückreise ohne Pass und ohne Geld

London 1948 waren die ersten Spiele der Nachkriegszeit. Deutschland und Japan durften nicht teilnehmen, die UdSSR verzichtete. Strupler, der im Militär Fünfkampf trainiert hatte und somit auch während des Kriegs immer viel Sport machen konnte, erinnert sich jedoch nicht an die zerbombte Stadt. Dafür umso besser an seine abenteuerliche Heimreise von den Spielen: Mit der Delegation ging er weiter nach Amsterdam. Strupler weigerte sich vor dem Wettkampf, «auch nur einen weiteren Tag» unter dem verhassten Delegationschef zu starten. Doch dieser gab Geld und Pass für die Rückreise nicht heraus.

Strupler setzte sich trotzdem ab. Auf einer «Rundfahrt durch die Kanäle» pumpte er eine Schweizerin an. Durch sie kam er zu einem Hotel-Pianisten, der Geld in die Schweiz transferieren wollte. Und tatsächlich: Der Pianist vertraute Strupler sein Geld an und dieser konnte damit in die Schweiz reisen. «Dank der Olympia-Uniform und meinem Armee-Ausweis kam ich auch ohne Pass weiter.» Der alte Mann schüttelt den Kopf, als könne er die Geschichte heute noch nicht glauben.

Der Sport lebt im Kopf weiter

Strupler räuspert sich, er rückt seinen gelähmten Arm zurecht, versucht sich im Rollstuhl aufzurichten. London 1948 rückt plötzlich in weite Ferne. Doch dann blitzt es in seinen Augen auf. In Peking 2008, sagt er, dort sei er viel besser gewesen. In Peking habe er vier Goldmedaillen geholt. Er sagt es mit Stolz.

Ernst Strupler hat sein Leben dem Sport gewidmet. Er hat den Sport gelebt. Und als Spitzensportler und Politiker für den Breitensport gekämpft. Als erster Sportprofessor der Uni Bern baute er dort das Sportinstitut auf und arbeitete gleichzeitig mit voller Leidenschaft als Turnlehrer. Er war Sportdirektor der Stadt Zürich. Und er nahm noch als 70-Jähriger, als er wegen Hüftproblemen kaum mehr gehen konnte, auf dem 10-Meter Anlauf, um einen seiner Sprünge zu zeigen (und wurde mit seiner veralteten Springmanier als «Acapulco-Springer» berühmt). Seine Frau war Turnlehrerin. Und auch seine sechs Kinder wurden mit einer Ausnahme alle Turnlehrer.

Und alle – ausser Ueli, dem Ältesten, «wahrscheinlich von den Olympia-Vorbereitungen des Vaters traumatisiert» – wurden sie Turmspringer. Wie auch viele der Enkelkinder. Sport war der rote Faden in seinem Leben. Strupler bildete gar als 80-Jähriger noch Turmspringer aus und schlief mit ihnen im Trainingslager im Massenlager. Bis ihn ein Hirnschlag aus seinem bewegten Leben katapultierte und kurz darauf ein schwerer Autounfall ihn endgültig an den Rollstuhl fesselte. 

Seither übt der belesene Mann seine sportlichen Abenteuer im Kopf aus. Er besteigt den Himalaya. Er nimmt in Peking an den Olympischen Spielen teil und gewinnt vier Medaillen. Wehe, wenn jemand sagt, dass er das nur erfunden hat. Er kann sich an jedes Detail erinnern. Ist dies die Verwirrung eines alten Mannes? Vielleicht. Oder ist es die Überlebensstrategie eines vom Alter gezeichneten Spitzensportlers und Bewegungsmenschen? Wohl eher. Aber das spielt eigentlich keine Rolle. Es ist die Leidenschaft für den Sport, die zählt.

Strupler wird nie aufhören mit Turmspringen. «Es ist eine schöne Sportart. Sie verlangt Mut und Körperbeherrschung. Das Fliegen ist einfach schön. Und die Angst, die macht es gerade aus: Man macht den Sprung trotzdem und ist danach zufrieden mit sich selbst.» Welche Sprünge Ernst Strupler wohl für London 2012 geplant hat?

Mehr Informationen zu Ernst Strupler, der die Entwicklung des Sports in der Schweiz mitgeprägt hat, lesen Sie in seiner Biographie.

2012 finden die Olympischen Spiele in London statt – nach 1908 und 1948 bereits zum dritten Mal. Wir haben uns auf die Suche nach den Schweizer Olympioniken von London 1948 gemacht. Und haben einige von ihnen besucht.

Lesen Sie auch den Artikel über die fünf Ruderer, die in London 1948 dank enger Kameradschaft Silber gewonnen haben. Oder das Porträt über die Schwimmerin Liselotte Kennel-Kobi.

Bilder: Manuela Ryter und zvg

Anmerkung: Dieser Artikel wurde für den Olympiablog verfasst.

Vom Höchststand der Technik und anderen Dingen

Was das Archiv eines Olympischen Komitees nicht alles hergibt... Folgende Textpassage habe ich im Schweizer «Erinnerungswerk» zu den Olympischen Spielen in London 1948 aufgelesen. Ich möchte sie unseren Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten... Es handelt sich um die Einleitung des Textes zu den «Olympischen Wettkämpfen im Schwimmen» von Fred Jent.

«Im grossen und ganzen haben auch die Olympischen Spiele 1948 bewiesen, dass die Technik in den verschiedenen Schwimmarten ihren Höchststand erreicht hat und wesentliche Änderungen nicht mehr zu erwarten sind. Dagegen werden Temperament und physische Voraussetzungen weiterhin den Stil des Einzelnen bestimmen. Aufgefallen ist uns bei den Amerikanern die starke Betonung des körperlichen Einsatzes besonders dort, wo dieser vorhanden ist. Ein Smith zum Beispiel, der, wenn er auf dem Startblock steht, einem Schwerathleten gleicht, entwickelt einen Armzug, der mit voller Kraft ausgeführt wird. Dagegen wird der Rhythmus zwischen Spannung und Entspannung gleichwohl beachtet; weshalb derjenige Arm, der nach vorne geführt wird, eine Sekunde lang entspannt und fast ausgestreckt vor dem Körper hergleitet, ehe er wieder zum ,Zug' eingesetzt wird. Das elegante Schwimmen der Japaner haben wir allerdings vermisst. Der Franzose Jany, der diesen mit seinem Stil am nächsten kommt, verlor für spätere Rennen die Nerven, als er im 100m-Final zu weit hinten landete. Auch im Rückencrawl dominierte der kräftige Einsatz. Und was das Brustschwimmen betrifft, so ist zu melden, dass die Zeit des Gleichschlags vorüber ist, solange nämlich die Butterfly-Technik in den gleichen Rennen erlaubt sein wird. Ob die 200 m in 2:30 oder weniger geschwommen werden, ist nur noch eine Frage der Kraft und deren Training. Verdeur, der amerikanische Sieger, brachte nämlich den Sieg mit einem relativ schwachen Beinschlag an sich. Sogar die Damen haben sich dem Butterfly verschrieben. Wenn sie auch, durch ihre Veranlangung bedingt, diese Technik weicher zu bieten vermögen als die Herren, so ist es doch wieder eine Frage der Kraft, was dem fraulichen Schwimmen auf die Dauer nicht allzu bekömmlich sein wird. Klar, dass unter den erwähnten Umständen das Schwimmen, leistungsmässig besehen, den Angelsachsen deshalb auch besonders liegen muss, weil sie noch Rennen weiter zu bestreiten vermögen, auch wenn sie in ungünstiger Position liegen, was von den weichern Europäern nicht im gleichen Masse behauptet werden kann. Daher auch die Verlagerung der ersten Ränge im Verhältnis von acht ersten, acht zweiten und vier dritten Plätzen für die Angelsachsen, während Europa nur drei erste, drei zweite und dafür sieben dritte Plätze an sich brachte. Hinsichtlich des Wendens ist zu sagen: die Saltowende wird sowohl beim Rücken- als auch Brustcrawl ganz angewendet, nachdem noch 1936 Kiefer im Rückencrawl nur eine halbe Saltowende gezeigt hatte. Dagegen wenden vorab die Amerikaner die ganze Saltowende nur auf den Sprintstrecken an, vermeiden sie auf den mittleren und langen Strecken. Der Grund mag darin zu suchen sein, dass das ,alte Wenden' eine längere Atempause gestattet, was besonders auf längeren Strecken nicht verachtet werden darf. [sic]»

Nach diesem schönen Schlusssatz möchte ich noch einmal zum Anfang verweisen und diese schöne Aussage wiederholen: «Im grossen und ganzen haben auch die Olympischen Spiele 1948 bewiesen, dass die Technik in den verschiedenen Schwimmarten ihren Höchststand erreicht hat und wesentliche Änderungen nicht mehr zu erwarten sind.»

Diese Aussage möchte ich nicht weiter kommentieren. Aber vielleicht lohnt sich ein Blick in die Videotheken von damals (siehe oben) und heute.

Quelle: Schweizerisches Olympisches Komitee (1948), XIV. Olympiade, Die Olympische Spiele St. Moritz - London 1948, Hermes-Verlag Zürich.

Enrico De Maria: Olympia zum Dritten

Wir – Flavio Marazzi und ich – waren nun gerade in der Schweiz für zweieinhalb Wochen. Das ist eine Ausnahme in unserem Segler-Alltag. Normalerweise sind wir immer auf Achse. Von Regatta zu Regatta. 

Wir trainieren immer mehrere Wochen am Austragungsort des nächsten Segelwettkampfs. Meine Freundin bleibt jeweils in der Schweiz – ich bin ja schliesslich am Arbeiten –, wir sehen uns also nicht häufig. Das ist der Hauptgrund, weshalb ich langsam etwas müde bin von meinem Jetsetter-Leben. Flugzeug, Auto, Hotel, Hafen – viel mehr kriegen wir in unserem Alltag nicht zu sehen. Und meist ist nicht gerade Badehosenwetter... Die Olympischen Spiele in London dürfen deshalb nun kommen. Weitermachen werde ich danach wahrscheinlich nicht, ich glaube, nach London reicht es. Und wahrscheinlich wird die Starboot-Klasse künftig gar nicht mehr olympisch sein, dann stellt sich die Frage sowieso nicht mehr.

«London 2012» werden bereits meine dritten Olympischen Spiele zusammen mit Flavio sein. In Athen 2004 und in Peking 2008 verpassten wir das Podest mit dem vierten, respektive fünften Platz nur knapp. Unser erklärtes Ziel ist nun ganz klar eine Medaille. Den Nationenplatz für die Schweiz haben wir bereits gesichert. Falls an den Weltmeisterschaften nicht noch ein anderes Schweizer Team besser ist, sind wir in London dabei.

Den ganzen Blogbeitrag von Enrico De Maria lesen Sie im Olympiablog von Swiss Olympic.​ Text aufgezeichnet von Manuela Ryter.

«Ich liebe die Geschwindigkeit»

Mit feinsten Körperbewegungen bringt «Swiss Olympic Top Athlete» Martina Kocher ihren Rodel auf Geschwindigkeiten bis zu 140 Stundenkilometern. Und sie wird immer schneller: Die 25-jährige Bernerin kommt der Weltspitze mit jedem Rennen etwas näher.

Martina Kocher ist jung, hübsch und vor allem: schnell. Mit ihrem Rodel jagt sie mit weit über 100 Stundenkilometern den Eiskanal hinunter. Und wäre sie nicht Rodlerin geworden, dann wahrscheinlich Skirennfahrerin. Oder sie hätte sich dem Motorsport gewidmet. Denn: «Hauptsache schnell», sagt die 25-Jährige. So sei sie schon immer gewesen – ob im Rodel oder auf den Ski.

Auf dem Rodel muss Kocher mit kleinsten Bewegungen auf die Geschwindigkeit reagieren können: «Ich muss sie fühlen», sagt die Bernerin. Es sei ein «cooles» Gefühl, so schnell im Eiskanal unterwegs zu sein: «Man spürt den Druck in jeder Kurve und nimmt den Zug mit – ich kann die Geschwindigkeit richtig geniessen.»

«Immer so ehrgeizig»

Kocher sitzt in einem Stadtcafe in Bern. Sie liebe die Berner Innenstadt. Die Gassen und Lauben. «Ich könnte mir nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu wohnen.» Dabei ist Martina Kocher immer auf Achse. Seit sie als 15-Jährige alles auf die Karte Sport setzte, lebt sie aus dem Koffer. Offiziell wohnt sie in Hinterkappelen bei Bern. Als Zeitsoldatin trainiert sie in Magglingen (siehe Kasten). Und seit 10 Jahren trainiert sie zusätzlich mit den deutschen Rodlerinnen im Militärsportzentrum in Oberhof in Deutschland. Und im Winter zieht sie von Rennen zu Rennen. Die Tage in Bern sind rar.

Am Tag zuvor flitzte Kocher an den Weltmeisterschaften in Turin auf den achten Rang, das zweitbeste Resultat ihrer Karriere. «Zuerst war ich enttäuscht», sagt sie, «im Training war ich überzeugt, dass der vierte bis sechste Rang drin liegt.» Aber eigentlich sei der achte Rang «ganz ok», sagt sie und fügt fast entschuldigend an: «Man ist halt immer so ehrgeizig.»

Kocher gegen Goliath

Im Rennzirkus kämpft Kocher gegen Goliath: die Deutschen, ihre Trainingskolleginnen und seit langem die Leaderinnen im Rodeln. Aber eigentlich kämpfe sie – im Gegensatz zu den restlichen Rodlerinnen – mit den Deutschen, nicht gegen sie, sagt die Start-Spezialistin: «Sie sind mein Team und meine Freundinnen, ich fiebere immer mit ihnen mit.» Allerdings mit einem klaren Ziel vor Augen: Sie eines Tages zu schlagen.

Diesem Ziel kommt Kocher immer näher. Im Training hat sie die Deutschen schon mehrmals geschlagen. Und im Januar zeigte sie am Weltcuprennen in Oberhof mit dem fünften Platz, dass man an der Spitze schon bald mit ihr rechnen muss. Technisch ist sie den Besten schon jetzt häufig überlegen. Wäre sie zehn Kilo schwerer, würde sie im Eiskanal schon lange wie in Juniorinnenjahren um die Podestplätze fahren. Denn eine perfekte Rodlerin ist gross, schmal und schwer. Kocher ist gross, schmal, aber sie ist ganz klar das Leichtgewicht unter den Rodlerinnen. Für eine gute Zeit muss sie besser fahren und darf sich weniger Fehler erlauben. Sie habe noch viel Potenzial, sagt Kocher. Und genau das sei ihr Antrieb, nicht die Medaillen: «Ich will mich stetig verbessern.» Bis Sotschi 2014 vergehen immerhin noch drei Jahre. Es wären ihre dritten Olympischen Spiele.

Karriere nur dank Zusammenarbeit mit deutschem Team

Für Kocher ist klar: Ohne das deutsche Team wäre sie nicht dort, wo sie heute ist. Dank des Engagements des Internationalen Rodlerverbandes übernehmen grosse Nationen Patenschaften für kleine Nationen – und trainieren sozusagen ihre Konkurrenz. Kocher, die das Zimmer jeweils mit Olympiasiegerin Tatjana Hüfner teilt, profitiert dank der Integration ins deutsche Team von perfekter Infrastruktur und Know-how. Denn in Deutschland ist Rodeln eine traditionell beliebte Sportart mit viel Ansehen. Es gibt viele Nachwuchsathleten und immer wieder Ausnahmetalente. Und wenn ein Talent entdeckt ist, kommt es schon im frühen Alter ins staatliche Fördersystem, welches «bis aufs Letzte ausgereizt wird», sagt Kocher: «Die Grundvoraussetzungen, damit ein Talent sich entfalten kann, sind vorhanden.»

Und dies ist im Rodelsport entscheidend. Denn ganz anders als im Bobsport, zu dem ein Sportler auch noch mit 25 wechseln kann, muss ein Talent bereits im Kindesalter voll aufs Rodeln setzen. Es brauche enormen Aufwand, um die Sensibilität, mit der der Rodel gesteuert wird, aufzubauen, sagt Kocher: «Ich zucke ganz leicht mit der Schulter und der Rodel reagiert.» Rodeln sei deshalb mit dem Skisport vergleichbar. Nur dass das Rodeln weniger gefährlich sei: «Bei uns fliegt bei einem Sturz nicht gleich alles durch die Gegend.» Das Handeln der Organisatoren vor dem tödlichen Unfall des Rodlers während den Olympischen Spielen in Vancouver sei «massiv fahrlässig» gewesen, sagt Kocher – die besten Athleten der Welt hätten schon lange im Vorfeld auf die Gefahr der zu schnellen Bahn hingewiesen und Verbesserungsvorschläge erarbeitet. «Wir wurden jedoch ignoriert.»

Weinend in den Eiskanal

In der Schweiz ist Rodeln eine Randsportart. Zum Rodeln komme man nur durch Beziehungen, sagt Kocher. So war ihr Vater Bobfahrer und später Trainer der Rodler. Als sie neun Jahre alt war, nahm er sie mit an ein Rennen. Das aufmüpfige Mädchen forderte sogleich: «Ich will auch!» Und der Vater nahm sie ernst. Noch am gleichen Tag organisierte er eine Rodelfahrt für seine Tochter. «Als ich dann oben stand und in den Eiskanal hinuntersah, begann ich zu weinen und wollte nicht mehr», erzählt Kocher lachend. Doch der Vater akzeptierte den Rückzieher nicht, setzte sie in den Schlitten und liess los. «Noch während der Fahrt wichen die Tränen einem Strahlen», erzählt Kocher. Sie wollte mehr. Seither hatte sie im Eiskanal nie mehr Angst. Seither ist Rodeln ihr Leben.

Auch heute muss Kocher für ihre Karriere kämpfen. Während ihre Freundin Tatjana Hüfner «alles auf dem Silbertablett serviert bekommt» und in ihrem Alltag kaum Entscheidungen treffen muss, organisiert Kocher ihren Trainings- und Wettkampfalltag selbst. Auch in finanzieller Hinsicht. Dafür sei sie sich «die Belastung des Alltags gewohnt», sagt Kocher, die 2009 ihr Sportstudium abgeschlossen hat und seither in ihrer trainingsfreien Zeit wochenweise arbeitet. Diese Belastung sei auch ein Vorteil, sagt sie: «Ich werde nicht auf die Welt kommen, wenn ich nach meiner Sportkarriere ins Berufsleben einsteige.»

Mehr Unterstützung seit Vancouver 2010

Seit den Olympischen Spielen in Vancouver 2010 sei vieles einfacher geworden, sagt Kocher: «Ich spüre viel mehr Anerkennung aus der Schweiz.» Dank dem Olympiadiplom – in Turin 2006 hatte sie es um nur 18 Tausendstelsekunden verpasst – wird sie heute als «Swiss Olympic Top Athlete» finanziell unterstützt. Und der Schweizerische Bobsleigh-, Schlitten- und Skeletonverband hat jemanden angestellt, der ihr viel Organisatorisches abnimmt.

Ein weiterer Meilenstein ist für Kocher die 50-Prozent-Anstellung als Zeitsoldatin in der Schweizer Armee (siehe Kasten). Damit ist Kocher gewissermassen eine der ersten «Berufssportlerinnen» der Schweiz – ein Luxus, sagt sie. Denn schiessen und durch den Dreck robben musste sie nur während der Spitzensport-RS. Nun heisst Militär für sie Trainieren. Zum Glück, sagt sie, denn sie habe enorme Angst vor dem Schiessen, einzig einrücken müsse sie in Uniform. «Die RS war sehr ungewohnt – und trotzdem war ich am Schluss stolz, meine Angst überwunden zu haben.» 

​Dieses Porträt erschien im Olympiablog von Swiss Olympic.

Text und Porträtbilder: Manuela Ryter

Fabian Cancellara: «Nicht von einem anderen Planeten»
Bildschirmfoto 2013-05-03 um 14.43.51.png

Es geht mir sehr gut nach den Ferien. Ich war weit weg am Strand, ich bin richtig «umeplegeret» - genau das habe ich gebraucht. Und ich hatte endlich Zeit für meine Familie – und das ist das Wichtigste. Auch wenn ich Mühe hatte abzuschalten, nach dieser hektischen, schnellen Saison und dem WM-Titel in Australien. Dem ganzen Stress vor den Ferien. Sobald man «richtig angekommen» ist, sind die Ferien ja meist schon fast vorbei. 

Den ganzen Blogbeitrag von Fabian Cancellara lesen Sie hier im Olympiablog von Swiss Olympic. Text aufgezeichnet von Manuela Ryter.

Manuela RyterComment
Auf der Spur von Olympia
image.axd.jpg

Maskottchen, Fackeln, Medaillen, Uniformen, Plakate – die Trouvaillen vergangener Olympischer Spiele erzählen die Kunst-Geschichte des 20. Jahrhunderts. Für Olympia-Sammler und Graphiker Markus Osterwalder ist Sport an Olympia deshalb nur eine schöne Nebensache.

Es ist, als hätte er selbst eine Olympia-Medaille gewonnen. Markus Osterwalder steht vor einem der vielen Regale, alle gefüllt mit Maskottchen, Büchern, Papieren und Merchandise-Artikeln vergangener Olympischer Spiele. Aus einer Schublade nimmt er eine bronzefarbene Medaille hervor: Paris 1924. Diese Medaille ist sein Stolz. Sie ist ein Stück Olympia-Geschichte, das ihm vor kurzem anvertraut wurde. Ihm, dem Olympia-Sammler, dem Olympia-Freak.

Es war kurz nach seinem Auftritt in Kurt Aeschbachers TV-Sendung, als sich eine Frau bei ihm meldete: Ihr Vater, Paul Schmiedlin, habe in Paris als Captain der Schweizer Fussballmannschaft Silber gewonnen – völlig unerwartet, was das Team in arge Bedrängnis brachte. Osterwalder besuchte sie und freute sich über die Geschichte. Und über die Fotos, das Tagebuch, die Medaille. «Diese Silbermedaille ist nun das wertvollste Stück meiner Sammlung», sagt der 46-Jährige. Denn sie sei nicht nur ein Stück Metall, «sie ist eine Geschichte». Und diese will Osterwalder um jeden Preis vor dem Vergessen bewahren.

Der Reiz eines hässlichen Maskottchens

Es sind mehrere Zehntausend Artikel, mit denen Osterwalder die olympische Vergangenheit am Leben erhält. In einem Raum in der Herisauer Altstadt hat er seine Schätze schön sortiert, alle fotografiert und archiviert. Mehrere Tausend Pins sind in Schubladen exakt eingeordnet. Eine Schaufensterpuppe trägt die grau-pinke offizielle Uniform von Lillehammer. Grosse, kleine, originelle und hässliche Maskottchen sind in Regalen aufgereiht. Glocken, Krawatten, Portmonees und Tassen, die an den Spielen als Merchandise-Artikel verkauft wurden. Briefmarken und Plakate. Hunderte Diplome, die von vergangenen Glücksmomenten zeugen. Und Fackeln, auf Säulen aufgereiht, die das olympische Feuer einst von Olympia aus zu den Spielen getragen hatten.

All diese Artikel sind Überbleibsel vergangener Olympischer Spiele. An ihnen haften Erinnerungen und Ereignisse, ihre Farben und Formen erzählen die graphische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sie konservieren die Botschaften, mit denen sich die Austragungsländer in der Welt vermarkten wollten. Und genau das ist es, was Osterwalder so fasziniert: Es ist die graphische Planung und Umsetzung der Spiele, die Idee und die Botschaft, die sich im hässlichen Maskottchen von Atlanta 1996, in der altmodischen Volunteer-Uniform von Calgary 1988 und dem für jene Zeit enorm modernen Plakat von München 1972 versteckt. «Mich interessiert, wie sich das Thema Olympia über die Jahre im Design verändert hat», sagt Osterwalder, «vom Jugendstil der 20er-Jahre über die bunten Farben der 70er bis heute.»

Faszination Eröffnungsfeier

Für Osterwalder findet Olympia deshalb nicht nur an den Wettkampfstätten statt. Wenn er an Olympischen Spielen ist, sammelt er alles, was ihm in die Hände kommt und fotografiert alles, nur keine Sportler. Die sportlichen Resultate sind für ihn Nebensache. Er sieht sich jeweils zwar täglich einen Wettkampf an; er sah Défago gewinnen und er war dabei, als Lambiel in Turin Freudentränen vergoss. Diese Momente werden für ihn unvergesslich sein. Doch noch viel mehr interessiert ihn vor Ort, wie das graphische Olympia-Konzept umgesetzt wurde. Auf Plakaten, Abfalleimern, Namensschildern, Wegweisern. «Es ist, als würde ich nach dem olympischen Geist suchen», sagt Osterwalder.

Seit Lillehammer 1994 ist Osterwalder an alle Olympischen Winter- und Sommerspiele gereist. «Es ist jedes Mal ein neues Erlebnis», sagt er. Seine ersten Spiele bleiben ihm in besonderer Erinnerung: «Das Design war schön und die Stimmung gut.» Atlanta sei ernüchternd gewesen, kommerziell und anonym. Nagano keine tolle Stadt. Sydney ein neuer Höhepunkt. Turin war «mässig», Peking «exotisch». In Vancouver durfte Osterwalder erstmals ins olympische Dorf. Olympia sei für ihn ein Highlight der Gefühle. Diese aussergewöhnliche, positive Stimmung finde nur, wer die Spiele selber erlebe.

Höhepunkt ist für ihn jeweils die Eröffnungsfeier. Er hat seit München 1972 mit einer Ausnahme jede gesehen – vor Lillehammer im Fernsehen, nachher immer live. Die Eröffnungsfeier von München, die er als Achtjähriger in Ecuador, wohin seine Eltern ausgewandert waren, am TV sah, «war bombastisch», erinnert sich Osterwalder. Als Sechzehnjähriger erhielt er vom Vater eines Freundes einen Pin aus Moskau 1980. Es war das erste Stück seiner Sammlung. Und der Beginn einer Leidenschaft, die ihn seither nicht mehr losgelassen hat.

Sammlerei heute refinanziert

Auf seiner über 20-jährigen Suche nach olympischen Trouvaillen wurde Osterwalder nicht nur Olympia-Spezialist, sondern lernte nebenbei auch die Welt kennen. «Und sehr, sehr viele Leute.» Heute hat der St. Galler, der seit 1983 wieder in der Schweiz wohnt und in Herisau ein Graphikerbüro führt, Kontakte auf der ganzen Welt. Und auf die komme es an, sagt er, denn «vor und während den Spielen kommt man zu keinen wertvollen Sammlerobjekten». So geht die Suche jeweils erst zuhause richtig los. Nach Leuten, die haben, wonach er sucht. Oder die vielleicht verhindern können, dass das für ihn so Wertvolle im Müll landet.

Etwa 300 Olympia-Sammler gibt es. 150 von ihnen treffen sich jedes Jahr irgendwo auf der Welt. Sie reden, tauschen, handeln. Osterwalder ist bekannt für die weltweit grösste Maskottchen-Sammlung. Auch Fackeln haben es im angetan. Die Fackel von Vancouver ersteigerte er auf Ebay. Von den 23 000 chinesischen Fackeln hingegen landete keine einzige auf dem Markt. Osterwalder fand aber einen Franzosen, der bei einem Wettbewerb eine gewonnen hatte, und kaufte sie ihm ab. Andere Fackeln sind für ihn unerschwinglich – bis zu 250 000 US-Dollar werden für sie bezahlt. Osterwalder ist trotzdem auf der Suche nach ihnen – für andere Sammler. Damit kann er heute seine Sammlerei, für die er in früheren Jahren «viel zu viel» ausgegeben hat, refinanzieren.

Olympia als Traumberuf

Osterwalder hat fast jede Akte, jede Broschüre, jeden Zettel zu den Spielen studiert. Er flog nach Peking, um den chinesischen Olympia-Designer kennenzulernen. Er las ganze Regale voller Ordner zu den einzelnen Spielen. Auch die Schlussberichte, die neben offiziellen Dokumenten, Sportreglementen, Ergebnissen und Programmen auch Details zur graphischen Planung, zu Logos, Farben und nicht zuletzt den Maskottchen enthalten. Diese graphischen Richtlinien und Normen seien die schönsten Stücke seiner Sammlung, sagt Osterwalder. Denn «Olympische Spiele waren immer Vorreiter für Neues».

Osterwalders Leidenschaft hat sich gelohnt. Heute ist Olympia sein Vollzeitberuf: Für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro 2016 produziert und gestaltet er als Graphiker mit anderen Sammlern eine Buchreihe zu den «Olympic Memorabilias», den Olympia-Sammlerobjekten. «Endlich weiss ich, wozu ich so viel Zeit und Geld in Olympia investiere», sagt Osterwalder mit einem Lächeln: «Damit all dieses Wissen nicht verloren geht.» Und wer sich von seiner Begeisterung anstecken lässt, zweifelt keinen Moment daran, dass er seinen Traum dereinst verwirklichen wird: Ein eigenes Olympia-Museum. Denn Olympia ist sein Lebensprojekt. Und er hat noch viel vor.

Mehr Infos unter www.theolympicdesign.com

Dieses Porträt erschien am 21. Juni 2010 im Olympiablog von Swiss Olympic.

Text und Fotos: Manuela Ryter

Manuela RyterComment
Viel Sonne, Sand und Schweiss
image.axd.jpg

Cool und braungebrannt sind sie. Doch von Easy-Life keine Spur: Die jungen Beachvolleyballer Mats Kovatsch und Jonas Kissling geben alles für den Sport und eine gute Ausbildung. Sie sind das erste professionell geförderte Nachwuchs-Beachvolleyteam der Schweiz - dank dem neuen Nationalen Leistungszentrum in Bern.

Etwas versteckt zwischen Quartierhäusern, Wald und Zuglinie befindet sich in Berns Südwesten das «Beachcenter», das Herz des vor einem Jahr gegründeten Nationalen Leistungszentrums (NLZ) für Beachvolleyball. Es riecht nach Sand und fast ein bisschen nach Meer.

Muskulöse Jungs trainieren auf dem Sand, ihr Spiel wird nur ab und zu von Anweisungen des Trainers unterbrochen. Flip-Flops liegen vor den Holztischen bei den drei Spielfeldern. In der erst vor wenigen Monaten eröffneten Beachvolleyball-Halle lädt ein riesiges Wandbild mit Palmen und Meer zum Träumen ein.

Mats Kovatsch (20) und Jonas Kissling (19) sind jedoch nicht zum Träumen hier. Am Abend vorher bestritten sie am Coop-Beachtour-Turnier im Zürcher Haubtbahnhof ihr erstes Spiel – und erreichten den ersten Sieg – dieser Saison. Endlich ist der lange Winter vorbei. Endlich können sie zeigen, wofür sie so hart gearbeitet haben.

Jonas Kissling (links) und Mats Kovatsch (rechts)

An diesem Abend werden sie gegen Laciga/Bellaguarda spielen. Gegen die Cracks der Schweiz. Es wird ein besonderer Match für die beiden (Fast-)Neulinge in der höchsten Profikategorie. Die Siegchancen sind klein. Die Chance, im Spiel gegen die Vorbilder etwas zu lernen, umso grösser. «Und wer sagt, dass wir nicht gewinnen?», fragt Kovatsch und blinzelt frech in die schwache Sonne.

Hartes Training am Strand

Braungebrannt und gut gelaunt sind die beiden jungen Spieler. Fürs Foto ziehen sie ein Shirt mit den Logos ihrer Sponsoren an. Denn was sie hier im Sand treiben, ist ernster, als es auf den ersten Blick erscheint. «Beachvolley hat ein falsches Image», sagt Kovatsch. Von Coolness will er nichts wissen. «Wir trainieren sehr hart, auch ein Trainingslager am Strand hat nichts mit Ferien zu tun.»

Das sieht man auch an ihrem Erfolg: Das Team hat sich in der zweiten Hälfte der letzten Saison innert kürzester Zeit einen Namen in der nationalen Beachvolley-Szene gemacht. Auf der Schweizer Rangliste rückten sie von Platz 30 auf Platz 6 vor. Und doch, räumt Kissling etwas verschmitzt bei: «Beachvolley ist schon nicht so stier wie Volley in der Halle.» An den Spielen sei jeweils eine fröhliche Stimmung, mit viel Musik, Party und Publikum. Ein bisschen Coolness gehört eben doch dazu.

Lernen und arbeiten statt ausruhen

Zwei bis vier Stunden Training pro Tag. Und in der Saison zahlreiche Spiele. Während sich ihre Kollegen des NLZ ausserhalb des Trainings aber ausruhen können, setzen sich die beiden Lehrlinge ins Büro, drücken die Schulbank oder lernen bis spätabends für ihre Prüfungen. Sie machen beide eine Leistungssport-Lehre, die es dank einem zusätzlichen Jahr erlaubt, Sport und Ausbildung zu verbinden.

«Die Belastung ist gross», sagt Kovatsch, der in diesem Sommer seine Lehre abschliesst. Sprüche von Bürokollegen, wenn er um drei von der Arbeit geht, hat er deshalb satt. Jene der Kollegen im Nationalteam, wenn er wegen Arbeit oder Schule zu spät ins Training kommt, ebenso. «Viele ahnen nicht, unter welcher Belastung wir stehen.»

Und trotzdem: «Es ist ein grosses Glück, dass wir hier in der Schweiz die Chance haben, unseren Sport auszuüben und gleichzeitig einen Beruf zu lernen», sagt Kissling. Und auch wenn sie für den Sport «auf sehr vieles verzichten» müssten – Freizeit oder Ausgang gibt es selten –, entschädige einen der Sport für alles: «Wir übernehmen Verantwortung und erleben Teamgeist, wir lernen, unter Druck Leistung zu erbringen und reisen um die ganze Welt – diese Erfahrungen könnten wir sonst nie machen.» Und ihre Freundinnen seien glücklicherweise auch Volleyballerinnen – und hätten Verständnis dafür, dass sie nur wenig Zeit für sie hätten.

Professionell gefördert

Das Duo Kovatsch/Kissling, das von Swiss Olympic mit einem Sport Scholarship Futureunterstützt wird, gilt als grösste Nachwuchshoffnung im Beachvolleyball. Genaugenommen sind sie überhaupt das erste so junge Nachwuchsteam, das in der Schweiz professionell gefördert wird. Denn erst seit Swiss Volley vor einem Jahr das NLZ gegründet hat, ist eine professionelle Beachvolleyball-Förderung überhaupt möglich.

Dies war auch höchste Zeit, denn während die Schweiz gleich mehrere Beachvolley-Teams an der Spitze hatte, zeichnete sich in den vergangenen Jahren hinter ihnen ein grosses Vakuum ab. «Das darf uns nicht noch einmal passieren», sagt Trainer Marc Gerson, der während vielen Jahren Profis wie Paul Laciga und Zeiler Köniz trainierte. Mit Kovatsch/Kissling hat die Schweiz nun wieder ein Team, das nach vorne prescht: An der U20-EM 2008 holten sie den 9. Rang, an der U-21-WM im vergangenen Jahr den 5. Platz. Ohne das NLZ wäre dies kaum möglich gewesen.

Strandfeeling draussen und drinnen: das NLZ in Bern. Rechts: Trainer Marc Gerson.

Höheres Niveau dank NLZ

Dank dem NLZ gibt es nun optimale Trainingsbedingungen für acht der insgesamt zehn Schweizer Beachvolleyball-Kaderteams: zwei Olympia-, drei National- und drei Nachwuchsnationalteams – alles Spieler, die Olympia-Potenzial haben, die sich den Profi-Status ohne NLZ aber nicht leisten könnten. Vorher war das Training unkoordiniert und die Spieler hatten nur ein einziges Hallen-Spielfeld in Winterthur zur Verfügung.

«Wir verbrachten Stunden auf der Autobahn. Diese Stunden können wir jetzt ins Training investieren», sagt Trainer Gerson. Jetzt haben die Spieler einen festen Trainingsplan und können erstmals auch im Winter auf Sand trainieren.

«Für uns ist es eine grosse Chance, hier mit den Besten trainieren zu können», sagt Kissling. Das Beachvolleyball-Niveau in der Schweiz sei durch das NLZ enorm gestiegen, «das erhöht auch den Druck auf die jetzigen Olympiateams». Auch Gerson sagt: «Kissling und Kovatsch sind mit Sicherheit weiter, als es unsere jetzigen Spitzenathleten in ihrem Alter waren.» Und hinter ihnen kämen weitere sehr guteTeams, die bereits täglich trainierten.

Rio de Janeiro 2016 wartet...

Ganz an der Spitze mithalten können «Koki», wie sich die beiden auf ihrer Webseite nennen, zwar noch nicht – «das braucht enorm viel Erfahrung und diese kann man nicht vorholen», sagt Kissling. Doch dass dies nur eine Frage der Zeit ist, daran zweifelt niemand. Sie sind ein eingespieltes Team, auf und neben dem Feld: Kovatsch, «der Chaot», und Kissling, «der Erwachsene», wie Gerson verrät. Als «Gambler», Spielertypen, bezeichnet er die beiden. «Sie lieben und geniessen das Spiel, sie sind keine ,Chrampfer’, die sich alles erkämpfen müssen.» Diese Gabe hätten nicht viele.

Und auch wenn London 2012 noch etwas zu früh für die beiden Talente kommt – die Strände von Rio de Janeiro warten auf sie. Denn mit Sonne, Sand und Samba spielt es sich halt doch besser. Schweiss und harte Arbeit hin oder her.  

Text und Bilder: Manuela Ryter

Dieses Porträt erschien am 6. Mai 2010 im Olympiablog von Swiss Olympic.​

Vreni Schneider: Eine Olympiade ist so etwas Grosses!
Bildschirmfoto 2013-05-03 um 14.47.42.png

Ja, nun hat mich Simi überholt (ich erlaube mir nun auch, ihn Simi zu nennen wie alle Welt). Das ist wunderschön! Ich hatte dies erwartet, ich wusste, dass er es schafft: Wenn es jemand schafft, dann Simi. Natürlich könnten nun andere nachkommen - so ein Erfolg beflügelt schliesslich das ganze Team, das ist eine riesige Motivation. Ich habe keine Worte, um Simis Leistung zu beschreiben, er war einfach super, hat alle dominiert. Mit dieser Überlegenheit Gold zu gewinnen.. das ist einfach Wahnsinn!

Eigentlich muss ich ihm dankbar sein: Denn nun ist er der erfolgreichste Schweizer Olympionike aller Zeiten - dadurch erhalten auch meine Erfolge, alles, was ich damals erreicht habe, wieder mehr Bedeutung. Viele Leute sprechen mich darauf an, dass Simi mich überholt hat, sie fragen mich, wie ich Olympia damals erlebte, wie es war, Fahnenträgerin zu sein, was mir nun durch den Kopf geht. Das freut mich natürlich sehr.

​Den ganzen Text lesen Sie hier im Olympiablog von Swiss Olympic.

Das Ende der Weltrekorde ist noch fern

Sportlerinnen und Sportler werden immer schneller, Weltrekorde purzeln seit den ersten modernen Olympischen Spielen. Damit soll bald Schluss sein, sagen Wissenschaftler. Doch Usain Bolt und Michael Phelps belehrten sie in Peking eines anderen. Wird der Mensch auch in Zukunft immer schneller? Oder sind die physischen Grenzen irgendwann erreicht?

Der Beste zu sein, die Schnellste, der Stärkste – das ist und war schon immer eine Triebfeder für jeden Sportler, der Hintergrund eines jeden Wettkampfs. Der Beste des Dorfs, der Schnellste der Stadt, die Stärkste des Landes, von Europa und schliesslich der Welt zu sein, dieses Streben nach Perfektion ist im Sport so verankert wie der Ball im Fussballspiel. Das höchste Ziel dabei: Der Beste aller Zeiten zu sein – einen Weltrekord aufzustellen.

Damit soll laut neusten Studien bald Schluss sein, die physischen Grenzen des menschlichen Körpers sollen bald erreicht sein. «Das Ende der Weltrekorde», titelten die Zeitungen im vergangenen Winter denn auch, als Jean-François Toussaint seine Studie präsentierte. Der Leiter des Instituts für Biomedizinische und Epidemologische Forschung des Sports (Irmes) sagte darin das Ende der Weltrekorde im Jahr 2060 voraus. Und zwar in allen klassischen Disziplinen.

In der Studie untersuchte der französische Wissenschaftler insgesamt 3263 Weltrekorde in allen klassischen Sportarten seit dem Beginn der Olympischen Spiele der Neuzeit 1896. Das Resultat: In allen Disziplinen werden die Sportler immer besser, immer schneller, immer stärker. Doch die Steigerungskurve flacht immer mehr ab.

Toussaint wendet diese exponentiell abfallende Entwicklung für eine Prognose der Zukunft an: Eines Tages wird die Kurve ganz flach und das Maximum erreicht sein. In der Hälfte aller Sportarten und Disziplinen soll dies bereits in 20 Jahren der Fall sein. Denn laut Toussaint haben wir heute bereits 99 Prozent der maximal möglichen Leistungsfähigkeit erreicht. In der Königsdisziplin 100-Meter-Sprint rechnet Toussaint mit einer noch möglichen Steigerung von 14 Tausendstel (Anfang 2008 lag der Weltrekord bei 9,74 Sekunden), im Marathon errechnete er die Leistungsgrenze bei 2:03:08 – 78 Sekunden unter dem damaligen Weltrekord. Der Körper stosse an seine Grenzen.

Leistungsgrenze bereits unterboten

Der Hohn am Ganzen: Die Ergebnisse der Studie hielten nicht einmal ein halbes Jahr stand, die Realität lehrte die Wissenschaft, dass sich die menschliche Leistungsentwicklung nicht in Kurven prognostizieren lässt. Usain Bolt liess die Wissenschaftler im Regen stehen: Die prognostizierte Leistungsgrenze von 9,72 Sekunden erreichte er bereits im Mai 2008. Und mit seinen 9,69 Sekunden, in denen er die 100 Meter an den Olympischen Spielen in Peking rannte (und zwar zum Erstaunen aller auf den letzten Metern bereits im abgebremsten Siegesschritt), unterbot er Toussaints prognostiziertes «Ende der Weltrekorde» um 36 Tausendstel.

Auch Schwimmer Michael Phelps und seine Kollegen liessen im vergangenen Jahr Wissenschaftler und Zuschauer perplex zurück. Ausgerechnet im Schwimmen, wo die Weltrekorde seit Jahren nur in winzigen Schritten purzeln, fielen heuer etliche Rekorde. In Peking gab es Rennen, in denen gleich mehrere Schwimmer unter der Weltrekordzeit anschlugen. Und auch im Marathon verbesserte Haile Gebrselassie seinen Weltrekord im September in Berlin um unglaubliche 27 Sekunden. Mit einer Zeit von 2:03:59 kommt er Toussaints Leistungsgrenze damit unerhört nah.

Bessere Technik, mehr Leistung

Ist ein Ende der Weltrekorde überhaupt voraussehbar? Oder wird sich der menschliche Körper stets weiterentwickeln? Wird der Mensch auch in Zukunft noch schneller, höher, stärker? «Wir sollten davon ausgehen, dass es immer eine Entwicklung geben wird», sagt Sportwissenschaftler Ralf Seidel von der Leistungsdiagnostik der Schulthess Klinik. Einen der Hauptgründe dafür sieht Seidel in der Entwicklung zukünftiger Technologien: «Sie werden das Training laufend verändern und eine kontinuierliche Leistungssteigerung ermöglichen.»

So hätten beispielsweise die Gegenströmungsanlagen den Schwimmsport massiv verändert. Mit Kameras und Messgeräten kann heute die Qualität des Trainings, die Motorik des Athleten und vieles mehr gemessen werden. «So etwas hätte man sich vor 50 Jahren nicht erträumt», sagt Seidel. Genauso wisse man nicht, welche Technik uns in 50 Jahren erwarte: «Wir werden nicht stehen bleiben.»

Es gebe im Leistungssport noch vieles, das nicht ausgeschöpft sei, sagt Seidel. So seien beispielsweise die Talentsuche und die professionelle Sportförderung noch in keiner Weise ausgereizt. Und auch in den Bereichen Ernährung, Schlaf und Sportpsychologie sieht er noch Lücken – sowohl in der Kenntnis darüber wie auch in der Anwendung des bisherigen wissenschaftlichen Wissensstands: «Da ist noch Verbesserung möglich.» Auch sei die Trainingswissenschaft noch eine junge wissenschaftliche Disziplin, die sich weiterentwickle. «Wenn man schaut, wie man vor 40 Jahren trainierte, kann man heute über die Trainingspläne von damals schmunzeln.»

Wird also nie eine physiologische Grenze erreicht werden? Entscheidend für eine kontinuierliche Leistungssteigerung sei die Steigerung der Qualität des Trainings sowie der Belastbarkeit der Athleten, womit mehr und intensiveres Training möglich werde. Wenn zusätzlich die Erholung – zum Beispiel durch Schlaf und Ernährung – verbessert werde, sei wiederum eine Leistungssteigerung möglich. Ob physiologische Grenzen irgendwann erreicht werden, «spielt gar nicht so eine wichtige Rolle», sagt Seidel. Denn schlussendlich garantiere die beste körperliche Leistungsfähigkeit nicht, dass man am Tag X die Leistungen auch abrufen könne. Zu viele Faktoren, etwa mentale, spielten da eine Rolle. Diese in eine Formel zu packen und daraus Prognosen aufzustellen, sei deshalb rein hypothetisch.

Das von Toussaint erwartete Ende der Weltrekorde dürfte also noch fern sein. Unbestritten ist jedoch: Die Schritte, in denen es aufwärts geht, werden immer kleiner. Weshalb sie jedoch beispielsweise im Schwimmen gerade ansteigen statt kleiner werden, ist allerdings auch den Wissenschaftlern ein Rätsel. Klar zu sein scheint, dass die Steigerung nicht nur auf die neuen Schwimmanzüge zurückzuführen ist, wie dies auch die Hersteller bestätigen.

Weltrekorde nur mit Doping?

Sind Weltrekorde also nur noch mit Doping machbar? So wurden beispielsweise zwölf aktuelle Weltrekorde der Frauen in der Leichtathletik in den 80er Jahren aufgestellt – in der Hochphase von Anabolika. In jener Zeit, als Dopingkontrollen nur an Wettkämpfen, nicht aber im Training durchgeführt wurden. Auch die heutigen Kugelstösser sind weit von den Weltrekorden der 80er Jahre entfernt. Dies spricht wiederum gegen Studien, die Leistungsgrenzen aufgrund von früheren Weltrekorden voraussagen, da sie sich auf zum Teil verfälschte Daten stützen. Laut Toussaint erreicht Doping zwar lediglich, dass die Leistungskurve schneller ansteigt – die physiologische Grenze werde mit Doping jedoch kaum verschoben, denn es sei schon immer gedopt worden, geändert hätten sich nur die Methoden. Allerdings: Ob gerade Gendoping die physiologischen Grenzen künftig nicht doch illegal übergehen könnte – diese Diskussion wird künftig sicherlich im Zentrum stehen, sollten eines Tages die Weltrekorde wieder auffällig schnell purzeln.

​Dieser Artikel erschien am 22. Dezember 2008 im swiss sport 6/08, Magazin von Swiss Olympic.

Text: Manuela Ryter