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«Damals zählte das Talent, nicht der Trainingsaufwand»
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Liselotte Kennel trainierte im Rheinbad Schaffhausen in einem 70-Meter-Becken flussabwärts. Und trotzdem schaffte sie es nach London an die Olympischen Spiele 1948. Olympia hat nicht nur ihre Liebe zu Amerika geweckt und damit ihr Leben verändert, sondern auch ihre Motivation, sich für den Sport – und insbesondere für die Rechte der Frauen im Sport – einzusetzen.

Hellblau schimmert das Wasser im Schwimmbad in Liselotte Kennels Garten am Sonnenhang Balsthals. Der Rasen ist frisch gemäht, die Rosen blühen. Unter einer Pergola warten weisse Plastikstühle auf den Sommer. Doch das kühle Nass stiehlt Blumen und Dekoration die Aufmerksamkeit. Das Wasser ist das Zentrum von Kennels Garten. Und der rote Faden in ihrem Leben. Liselotte Kennel – sie wird seit jeher «Lilo» genannt – setzt sich für das Fotoshooting auf den Rand des Beckens. Hier schwimmt sie an warmen Tagen ihre Runden und hält sich fit. Auch mit 82 Jahren noch.

Kennel blinzelt, es ist der erste sonnige Tag seit langem. In ihrem Gesicht verraten nur die Falten ihr wahres Alter. Ihr Blick hingegen zeigt eine Frau mit der Energie eines jungen Menschen. Einer Frau, die noch ganz viel vorhat im Leben. Die das Leben nicht hinnimmt, sondern dieses mitgestaltet. Die mit Fröhlichkeit und Nachdruck für ihre Anliegen kämpft. Sie lacht in die Kamera und erzählt von früher. Von ihrer Karriere als Schwimmerin. Von den Olympischen Spielen in London 1948 und Helsinki 1952. Von ihrer Laufbahn als eine der ersten Sportlehrerinnen ETH und als einzige Frau im Zentralvorstand des Schweizerischen Landesverbandes für Sport (SLS, heute Swiss Olympic). Es ist die Geschichte einer Frau, die mit Talent zum Sport kam und sich später mit Leidenschaft für den Sport einsetzte – und für die Rechte der Frauen im Sport.

Wer Talent hatte, kam weit

Naiv und stürmisch war der Sport damals in den 50er Jahren. Sportler genossen kein grosses Ansehen – Sportlerinnen schon gar nicht. Dafür war der Spassfaktor umso grösser. Von Leistungstests und Zeitlimiten redete noch niemand. «Nicht einmal Krafttraining kannte man», sagt Kennel, «es war eine schöne Zeit. Nicht verbissen, alles war spielerisch.»  Die Wettkämpfe von damals waren ein fröhliches Kräftemessen, es gewann nicht jener, der am meisten trainiert hatte, sondern wer am talentiertesten war. Solche Wettkämpfe findet man heute höchstens noch bei den Kindern. Oder in Randsportarten.

Liselotte Kobi, wie sie damals hiess, hatte Talent. Vor allem im Brustschwimmen. Als junges Mädchen war sie quirlig und bewegte sich viel. Eines Tages nahm sie an einem Schwimmwettkampf teil. Und gewann. Von da an schwamm sie im Schwimmklub Schaffhausen, Trainer war ihr Turnlehrer. Schwimmbad hatte es zwar kein richtiges, aber es gab das Rheinbad, in dem bei jeder Temperatur trainiert wurde. Wegen der Strömung mussten die Schwimmer am Ende des 70-Meter-Beckens aussteigen und zu Fuss zurückgehen. Länge für Länge. Eine Trainingseinheit über 600 Meter war «das höchste aller Gefühle». Die Wende musste sie in einem anderen Schwimmbad üben.

«Das waren Pfahlbauerzeiten»

Einmal pro Woche durfte die junge Schwimmerin in Thayngen mit den Männern trainieren. Das war eine Ehre für sie, denn in den Schwimmbädern waren Männer und Frauen sonst strikte getrennt. Kennel fuhr die 20 Kilometer mit dem Velo hin und wieder zurück. Und damit sie auch im Winter trainierten konnte, wünschte sie sich zu Weihnachten jeweils ein 10er-Abo für den Zug nach Zürich, denn dort gab es ein Hallenbad.

Bald gewann «Lilo» Regionalmeisterschaften. 1946 machte sie als 16-Jährige erste Schweizerrekorde, die jeweils am Radio verkündet wurden. Den Rekord in 200 m Brust unterbot sie gleich um 30 Sekunden. «Verglichen mit heute waren das Pfahlbauerzeiten!», sagt Kennel und lacht. Dafür habe man sich nicht geschunden wie heute, «das ist ja grauenhaft, wie die Schwimmer heute trainieren!» Niemals hätte sie das mitgemacht, sagt sie mit Nachdruck. 

Gute Betreuung dank «Megge» Lehmann

1947 ging es nach Monaco an die EM. Begleitet wurde das Schwimmteam von Max «Megge» Lehmann, dem späteren Radio- und Fernsehpionier, der von da an die treibende Kraft Elite-Schwimmerinnen war: «Er konnte uns begeistern», sagt Kennel. 

Lehmann war es denn auch, der aus den Olympischen Spielen ein unvergessliches Erlebnis machte für die drei Schweizer Olympia-Schwimmerinnen Liselotte Kobi, Doris Gontersweiler (heute Santschi), mit der Kennel bis heute gut befreundet ist, und der Tessinerin Marianne Ehrismann. Denn: «Die Vorbereitungsphase war lausig», sagt Kennel. 

Liselotte Kobi mit Doris Gontersweiler und Marianne Ehrismann: «Ein Wunder, dass wir keine wollenen Anzüge hatten!» ​

Liselotte Kobi mit Doris Gontersweiler und Marianne Ehrismann: «Ein Wunder, dass wir keine wollenen Anzüge hatten!» 

Noch heute strahlt Kennel, wenn sie von «Megge» erzählt. Die Schwarz-Weiss-Fotos im vergilbten London-1948-Album zeigen einen gutaussehenden Mann. Lehmann war der «Beschützer» der jungen Mädchen, er machte alles für sie und nannte sie «meine Töchter». Und sie himmelten ihn im Gegenzug an. Die meisten anderen Schweizer Athleten in London 1948 hatten da nicht so viel Glück und mussten ihre Wettkämpfe ohne jede taugliche Betreuung bestreiten, da die zuständigen Personen eher als VIP-Gäste denn als Betreuer in London waren.

Zusammenzug in der Männerbastion Magglingen

Für die Olympischen Schwimmwettkämpfe 1948 wurden alle Schweizer Landesrekordhalter selektioniert. In Romanshorn mussten sie bestätigen, dass sie «fähig» waren für Olympia. Sie erhielten eine Uniform, an die ihre Eltern bezahlen mussten, und in Magglingen, wo Sportler bereits damals im «Vorunterricht» als angehende Soldaten gefördert wurden, gab es einen einmaligen Zusammenzug des Olympia-Schwimmteams. 

«Das war ein Highlight», sagt Kennel: «Magglingen war sehr hoch im Kurs bei den Sportlern. Es war eine Männerbastion, fest in militärischen Händen. Wir fühlten uns wahnsinnig geehrt, dass wir dort bei 16 Grad Wassertemperatur trainieren durften.» Auch in Magglingen gab es damals noch kein Hallenbad. 

Nach langem hin und her gab auch das Lehrerseminar, das Kennel besuchte, grünes Licht. «,Megge‘ musste unterschreiben, dass er auf uns aufpasst», sagt Kennel und lacht. Sie war es gewohnt, von ihren Lehrern eher Spott als Anerkennung zur erhalten für ihre sportlichen Leistungen. Eine Erfahrung, die sich in der jungen Frau einbrannte und sie prägte.

Eröffnungsfeier war «enorm beeindruckend»

Und dann kam der Tag, an dem sie mit den anderen Athleten der Schweizer Delegation per Schiff nach London reiste, immer «lieb überwacht» von Lehmann. Auf der Fahrt lernte sie den Leichtathleten Armin Scheurer kennen, Schweizer Fahnenträger in London und laut Kennel «damals eine Kapazität». Es blieb zu ihrem Bedauern fast die einzige Bekanntschaft mit anderen Olympia-Athleten – insgesamt nahmen in London über 4100 Sportler teil, darunter 390 Frauen. Einzig vor der «enorm beeindruckenden» Eröffnungsfeier – sie mussten stundenlang im Park warten, bis sie ins Wembley-Stadion einmarschieren durften –, hatten sie noch einmal Gelegenheit austauschen.

Drei Schwimmerinnen auf Sightseeing-Tour in London... 

Drei Schwimmerinnen auf Sightseeing-Tour in London... 

Während den Spielen waren sie von den anderen völlig abgeschottet, ein olympisches Dorf gab es damals noch nicht: Alle Teams der Schweizer Delegation hatten andere Unterkünfte. Zuerst wohnten die drei Schwimmerinnen in einer Haushaltungsschule, weit weg von den Wettkampfstätten und von ihrem Betreuer Lehmann. Das Essen sei sehr schlecht gewesen, erinnert sich Kennel.  Die Lebensmittel seien – wie in der Schweiz – auch nach dem Krieg noch rationiert worden. «Zum Glück hatte ich noch eine Büchse Ravioli dabei.» Die Enttäuschung war gross. Lehmann sorgte dafür, dass die Mädchen umziehen konnten – in eine Unterkunft, wo Athletinnen aus Jamaika und Frankreich wohnten. 

Big Ben ist kein Mensch

«Einmal durften wir zu den Männern ins Camp Uxbridge, wo sie zusammen mit den Amerikanern wohnten», sagt Kennel, «dort hatten sie alles!» Bis heute sieht sie deren Buffet vor ihren Augen. Im Camp sangen die Schwimmerinnen mit den Amerikanern Lieder, begleitet von Megge Lehmann und seiner Gitarre.

Kennel sah sich auch viele Leichtathletik-Wettkämpfe an. Und an den Sonntagen standen Stadtrundfahrten auf dem Programm. Die drei Schwimmerinnen waren beeindruckt von der Grossstadt London, von der sie nichts wussten, «ausser dass der Big Ben kein Mensch ist». Sie hätten in den zwei Wochen so viele schöne Sachen gesehen in London, erzählt Kennel. «Wir standen einfach da und staunten.»

Die einzige Schweizerin im Halbfinal

Der Schwimmwettkampf fand gegen Ende der zwei Wochen in London statt. Einmal wurden die drei jungen Frauen – als einzige Passagiere – von einem doppelstöckigen roten Bus abgeholt und zum Empire Pool chauffiert. Lilo Kennel startete auf Bahn 4. 200 Meter Brust. Sie gab alles und landete – als einzige des Schweizer Schwimmteams – «glücklich im Halbfinal», wie sie mit der Unbeschwertheit von damals erzählt.

Schöne Erinnerungen: Liselotte Kennel (Mitte) nach der Quali mit Megge Lehmann und Doris Gontersweiler. ​

Schöne Erinnerungen: Liselotte Kennel (Mitte) nach der Quali mit Megge Lehmann und Doris Gontersweiler. 

Nervosität kannte Kennel nicht – auch nicht, als sie im Halbfinal auf dem «Böckli» stand. Sie sah Armin Scheurer am Bassinrand, er feuerte sie an, er schrie und ruderte mit den Armen. «Das kann man sich heute an Olympischen Spielen nicht mehr vorstellen!», lacht Kennel. Sie genoss es, sich mit anderen Nationen messen zu dürfen. In ihrem vergilbten Buch kleben die Ranglisten der Halbfinale. Kennel studiert die Zeiten. «Ich wurde jedenfalls nicht letzte», schmunzelt sie.

Amerikaner mit «Sexappeal»

Die Stars in London 1948 waren die Amerikaner. In Kennels Buch von damals sind sie in modischen Badeanzügen abgebildet. «Die hatten Sexappeal!», sagt Kennel und lacht. Die junge Frau bewunderte die muskulösen Athleten – und ihr gefiel die amerikanische Hymne: «Sie ist so lieblich sanft, um gleich darauf stark und prägnant zu ertönen.» Die Siegerehrungen in London wurden zu einem Schlüsselerlebnis in Kennels Leben: «Ich sagte mir damals in London: Ich will nach Amerika. Ich wollte wissen, ob auch die Menschen dort sind wie ihre Hymne.»

«Immer Amerika»: Die amerikanische Hymne ertönte in London 1948 häufig - und veränderte Kennels Leben.

Nach den Spielen absolvierte Kennel an der ETH als einzige Frau ein Sportstudium. Ihren späteren Ehemann, mit dem sie bis heute zusammenlebt und den sie seit 30 Jahren pflegt, lernte sie in der Studenten-Ski-Nationalmannschaft kennen. 1952 nahm sie an den Olympischen Spielen in Helsinki teil und beendete ihre Schwimmkarriere. Danach arbeitete sie als Primarlehrerin, um Geld zu verdienen für die Fahrt nach Amerika. 1955 machte sie ihren Traum war. Sogar die Zeitung berichtete über die junge Frau, die alleine nach Amerika reiste. In Rochester musste sie zuerst ein halbes Jahr in einem Haushalt helfen – das war vorgeschrieben. Danach ging sie in den Osten, wo sie einen Winter lang als Skilehrerin arbeitete. Im Sommer folgte Kalifornien, nun verdiente sie ihr Geld als Schwimminstruktorin. Sie war beeindruckt, welchen Stellenwert der Sport in Amerika genoss. 

Die Olympischen Spiele haben ihr Leben geprägt

«Die Olympischen Spiele haben mein Leben verändert», sagt Kennel heute. Die Spiele brachten sie nach Amerika und Amerika prägte die junge Frau fürs Leben. Sie setzte sich zeitlebens für den Sport und den Schwimmverband ein. Und für die Frauen: Sie übernahm die SLS-Kommission «Sport und Frau» und wurde darauf als einzige Frau in den Zentralvorstand des Landesverbandes für Sport einberufen. Sie kämpfte dafür, dass die Frauen selbstsicherer wurden. Dass auch sie Eishockey und Fussball spielen durften. Dass auch die Sportlerinnen gefördert wurden. Heute sei sie ruhiger geworden, sagt Kennel. Bei gesundheitlichen Schwierigkeiten zucke sie mit den Schultern und sage, sie sei halt «nicht mehr 80». 82 ist aber noch lange nicht 100. Und Lilo Kennel hat noch viel vor in ihrem Leben.

2012 finden die Olympischen Spiele in London statt – nach 1908 und 1948 bereits zum dritten Mal. Wir haben uns auf die Suche nach den Schweizer Olympioniken von London 1948 gemacht. Und haben einige von ihnen besucht.

Bereits erschienen sind die Beiträge über Turmspringer Ernst Strupler und die Herren des Rudervierers mit Steuermann.

Bilder: Manuela Ryter und zvg

Anmerkung: Dieser Artikel wurde für den Olympiablog verfasst.

Freundschaft statt Ergometer

An den Olympischen Spielen in London 1948 sassen fünf junge Schweizer Ruderer im gleichen Boot und hielten sich für unschlagbar. 64 Jahre später sitzen sich vier von ihnen als alte Herren wieder gegenüber. Und ihre «tiefe Kameradschaft», die ihnen damals Olympiasilber bescherte, ist schlagartig wieder da.

Die Wasserverhältnisse waren gut, ein leichter Gegenwind wehte über das Wasser der Themse bei Henley, im Sommer 1948. Die Boote der Vierer mit Steuermann im olympischen Ruderfinale wurden ins Wasser gesetzt. Am Start waren Amerika, Dänemark und die Schweiz. Die Schweizer gingen sofort in Führung. Vier kräftige Ruderer Mitte zwanzig und ein blonder Jüngling am Steuer. Er schrie den Takt in den Wind und feuerte die Ruderer an.

In der Hälfte führten die «Zürcher Seeklübler» mit einer halben Länge auf Amerika und mit einer ganzen auf Dänemark. «Doch dann legten die Yankees einen langen Zwischenspurt ein», schrieb ein Reporter. Es kam zum Kopf-an-Kopf-Rennen.

Der junge Steuermann nahm das amerikanische Boot im Blickfeld wahr, verzweifelt versuchte er, seine Kameraden zu noch kräftigeren Zügen anzufeuern. Doch das gegnerische Boot zog an ihnen vorbei. «Der Endkampf war hinreissend», stand danach in der Zeitung. «Nach grossem Ringen blieben die Überseer [sic] mit einer halben Länge siegreich.»

Der Schock sass tief bei den fünf Schweizer Ruderern. Dabei hatten sie sich für unschlagbar gehalten. Sie sassen noch ausser Atem im Boot, als ihnen bereits die Silbermedaille übergeben wurde. Sie war in diesem Moment eine einzige Enttäuschung.

Wiedersehen nach 64 Jahren

Das war vor 64 Jahren. Vieles haben Emil Knecht (88), Erich Schriever (87), André Moccand (81) und Rudolf Reichling (87) in dieser Zeit vergessen. Nicht aber diesen Moment, als die Amerikaner kurz vor dem Ziel an ihnen vorbeizogen.

«Ich kämpfte und versuchte noch mehr Dampf zu geben. Ich sah nichts mehr, doch ich ruderte weiter», erzählt Emil Knecht. Seine Augen leuchten. «Wir wollten nur eines: gewinnen», sagt Erich Schriever. Und Steuermann André Moccand habe sich im Ziel «richtig aufgeregt».

Sassen in London 1948 im selben Boot: André Moccand, Emil Knecht, Rudolf Reichling und Erich Schriever (v.l.).

Nun sitzen die ehemaligen Ruderer bei Rudolf Reichling im Esszimmer. Ein jeder von ihnen ist vom Alter gezeichnet. Doch die Erinnerungen sind noch lebendig. Sie sind zusammengekommen, um über die Olympischen Spiele in London 1948 zu erzählen. Um Erinnerungen zu wecken und Andenken auszutauschen. Fotos, die attraktive junge Männer zeigen, Zeitungsartikel, vergilbte Ranglisten, ja gar die olympischen Silbermedaillen und ein blauer Trainer aus Zellwolle liegen verstreut auf dem Tisch neben Speckkuchen und frischem Most. Die Geschichten von damals, die Anekdoten, die Emotionen liegen wie ein Schleier in der Luft. Genauso wie die Gedanken an den fünften im Team, Peter Stebler, der vor wenigen Jahren verstorben ist. 

London 1948 (fast) nur für Amateure

«Die Amerikaner hatten eine sehr starke Mannschaft», sagt Erich Schriever. Man habe sie bewundert, sagt Moccand, «das waren richtige Fetzen!» Die hätten sich aber auch ganz anders auf Olympia vorbereitet. «Die studierten alle und konnten den halben Tag Sport treiben!», sagt Reichling empört. Was damals mit den amerikanischen Studenten begann, ist dem ehemaligen Nationalratspräsidenten und Weinbauer bis heute ein Dorn im Auge: die Professionalisierung des Sports. 1948 galt noch die Klausel von Coubertin, welche Profis an Olympischen Spielen ausschloss. Die Olympioniken mussten unterschreiben, dass sie Amateure waren. «Es war der grösste Blödsinn, diese Klausel abzuschaffen», sagt Reichling, «das ist nicht Sport, wenn jemand den ganzen Tag trainiert und dafür bezahlt wird.» Schriever ist da anderer Meinung. 

Auch für Reichling war Olympia das «höchste Ziel jedes Sportlers». Doch die Arbeit kam zuerst. Als er kurz nach den Olympischen Spielen den Hof des Vaters in Stäfa übernahm, blieb denn auch keine Kraft mehr fürs Rudern übrig. «Gesundheitsrudern war nichts für mich. Ich mag keine halben Sachen.» 

«Extrem gut befreundet»

Die jungen Ruderer des Zürcher Seeklubs waren Athleten aus Leidenschaft. Und sie waren Freunde. «Es verband uns eine enge Kameradschaft», sagt Knecht, der später als Kaufmann arbeitete, «wir freuten uns jedes Mal, ins Boot zu steigen.» Eine eingefleischte Mannschaft, die durch dick und dünn ging. «Das war unser Erfolgsgeheimnis», sagt Schriever. Auch Knecht ist überzeugt, dass es diese Freundschaft war, die das Team so erfolgreich machte. Die sie bereits «als Juniorboot» die Schweizer Olympiamannschaft von 1936 schlagen liess und sie nach London brachte. «Heute werden die Rudermannschaften aufgrund des Ergometers zusammengestellt. Ich behaupte, dass so nie dieses Mannschaftsgefühl aufkommen kann, welches damals  zu unserem Erfolg geführt hatte.»

Dieser Trainer war das einzige Bekleidungsstück, das die Schweizer Olympioniken, hier Rudolf Reichling, nicht selber bezahlen mussten.

Und dann packen sie ihre besten Geschichten aus. Etwa jene von Knecht und Stebler, die am Vortag eines Wettkampfs wegen einer Frau ihr Boot im Wasser vergassen und es am nächsten Tag nirgends mehr fanden. Oder jene von Reichling, der in neuen Wettkampfunterkünften regelmässig auf die Betten der anderen hechtete und diese demolierte, um sie danach brav wieder zu flicken.

Vier Freunde ohne Steuermann

Die Freunde hatten sich schon früh gefunden. Politikersohn Reichling, der spätere Architekt Schriever und Peter Stebler gingen in dieselbe Mittelschule. Ihr Turnlehrer war Ruderer und spornte das Trio an. Emil Knecht kam später dazu: «Ich ging immer einen anderen Weg als alle anderen», sagt er mit einem breiten Lachen auf dem Gesicht. 

Wegen Schwierigkeiten in der Schule kam Knecht in ein «Institut zum Nachstudieren». Eigentlich war er Velorennfahrer. Doch dann nahm ihn ein Bekannter mit zum Rudern. Im Seeklub befreundete er sich «ganz eng» mit Peter Stebler. So eng, dass sie später sogar zwei Schwestern heirateten. Es war diese Freundschaft, die Knecht vom Velorennfahrer zum Ruderer und «dem Rekruten im Team» machte.

Knecht hatte einen Trumpf: «Das ,Bibi‘, sein Auto», sagt Reichling. «Er wusste sogar, wie man den Kilometerzähler ausschaltet, damit sein Vater nicht sah, wie viel Benzin wir verbrauchten!»Knecht lacht laut los mit seiner leisen und glucksenden Stimme. Mit einem Schlag spürt man, was die Männer in jungen Jahren verbunden hatte. Man spürt ihre Lebenslust und den Teamgeist. Die jugendliche Sorgenlosigkeit und Unbeschwertheit. Und die tiefe Freundschaft, die sie damals verband. Vier Freunde, die ruderten statt sich in Krieg und Schrecken zu verlieren.

Genau 50 Kilo Steuermann

Das Boot des Zürcher Vierers war schnell. Bei der olympischen Hauptprobe, der berühmten Henley-Regatta, scheiterten die Ruderer jedoch. Zu eng war der Kanal ohne Steuermann. Der Ruderverband machte sich deshalb auf die Suche nach einem fünften Teammitglied. An den nächsten Schweizermeisterschaften wurde der 17-jährige André Moccand, der erst zwei Jahre zuvor mit Rudern begonnen hatte, vom Speaker aufgerufen. Ahnungslos wurde er gewägt. 50 Kilo, das war perfekt. Die Verbandsherren eröffneten ihm, er werde in Kürze an den Olympischen Spielen in London das Steuer übernehmen.

Sie nahmen Moccand mit zu den Trainings auf dem Stausee in Wettingen, auf dem die Limmat ein ähnliches Fliessverhalten aufwies wie in Henley. Er blieb jedoch immer «der Kleine» im Boot, der sich seinen Platz in der «eingefleischten Mannschaft» erkämpfen musste. 

Für Moccand war es «ein gewaltiges Ereignis», an den Olympischen Spielen teilnehmen zu dürfen. Auf den vergilbten Kartonseiten mit sorgfältig eingeklebten Zeitungsartikeln, Ranglisten und Fotos haftet noch der Stolz des jungen Laboranten-Lehrlings an. Auf einer Seite ist die Abbildung eines Swissair-Flugzeugs eingeklebt. «Mit dem Flugzeug nach London! Das war etwas», erinnert sich der spätere Chemiker und Politiker. 

Der erste «Televisor»

In London logierten die jungen Ruderer wie Fürsten. Während die anderen 27 Rudernationen in Armeeunterkünften und Turnhallen untergebracht waren, wohnten sie dank guten Beziehungen sehr nobel als Gäste im Hause Gilette – dem Chef des gleichnamigen Unternehmens. «Er schenkte sogar jedem von uns einen Rasierapparat!», erzählt Knecht. Auch Schriever erinnert sich: «Es war ein wunderbares Haus in der Nähe der Themse. Mit kurzgeschnittenem Rasen bis hin zum Wasser, typisch englisch eben.»

Vor und nach den Wettkämpfen genossen sie die freie Zeit im guten englischen Hause. Im Garten, wo sie erstmals einen «Televisor» laufen sahen. Oder in einem «netten Beizli», wo man ein «Spiel mit Pfeilen» spielte. Sie tranken im Garten Whiskey und gossen damit die Blumen, wenn sie dabei gestört wurden. Schliesslich hatten sie sich verpflichtet, während Olympia keinen Alkohol zu trinken und nicht zu rauchen. Die schönen Blumen im Garten Gilettes seien im Verlauf der Olympischen Spiele leider eingegangen, sagt Knecht. 

Prinzessin Elisabeth, die Schöne

Für die fünf Schweizer Ruderer unterschieden sich die Olympischen Spiele nicht stark von einer anderen Regatta. «Es war ein grosser Vorteil, so gediegen zu wohnen», sagt Schriever. Zu anderen Olympioniken hatten sie jedoch keinen Kontakt. Von der Eröffnungs- und der Schlussfeier sowie von anderen Sportarten bekamen sie nichts mit. Auch die Stadt bekamen sie nie zu Gesicht. 

Dafür sahen sie Prinzessin Elisabeth, die heutige Königin Englands. «Sie war im Motorboot gekommen, um unser Rennen zu sehen!», erzählt Reichling. Knecht lacht: «Sie hat mir sehr gut gefallen!»

Die vier Herren geniessen es, sich an ihre Jugend zu erinnern. Und Moccand, der seine Kameraden seit über 60 Jahren nicht mehr gesehen hat, ist die Freude ins Gesicht geschrieben. Er nimmt die Medaille hervor, ein schönes, schweres Stück Silber, Olympia und die griechischen Helden sind darauf abgebildet. Sie erhielten sie ohne Hymne oder Feier. Damals sei man noch nicht als Sieger gefeiert worden. Damals ging es laut Coubertin schliesslich ums Mitmachen, nicht ums Siegen. 

«Man denkt gerne daran.» Mehr nicht.

Zurück in der Schweiz kam ein Gratulationsschreiben des Militärdepartements. Der Zürcher Seeklub machte eine kleine Siegesfeier. Und hie und da rief danach eine Schule an und wollte sich eine der Medaillen ausleihen. 

Keiner der fünf Ruderer vergass je, dass er in jungen Jahren an den Olympischen Spielen teilgenommen hatte. Bis heute erhalten sie Post von Olympiasammlern, die eine Unterschrift von ihnen wollen. Und sie sind stolz, als Medaillengewinner im Olympischen Museum in Lausanne verewigt zu sein. Ihr Leben haben die Spiele jedoch nicht geprägt. «Man denkt gerne daran», sagt Schriever. Mehr nicht.

2012 finden die Olympischen Spiele in London statt – nach 1908 und 1948 bereits zum dritten Mal. Wir haben uns auf die Suche nach den Schweizer Olympioniken von London 1948 gemacht. Und haben einige von ihnen besucht.

Bereits erschienen ist der Beitrag über Turmspringer Ernst Strupler. Lesen Sie auch das Porträt der Schwimmerin Liselotte Kennel-Kobi.

Bilder: Manuela Ryter und zvg

Anmerkung: Dieser Text wurde für den Olympiablog verfasst.