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«Wir haben gefroren in London»

An den Olympischen Spielen in London 1948 flog und fror Turmspringer Ernst Strupler um die Wette. 40 Jahre später noch bestieg der damals 70-Jährige den 10-Meter-Turm. Nun macht er seine waghalsigen Sprünge nur noch mental – dafür umso perfekter.

Es war kalt im Sommer 1948. Es war einer der kältesten Sommer überhaupt, an die sich Ernst Strupler erinnern kann. Und das sind doch immerhin ein paar, mit seinen 94 Jahren. Es war so kalt, dass das Schwimmbad in Baden, in dem der damals knapp 30-Jährige seine kunstvollen Sprünge vom 10-Meter-Turm trainieren konnte, geschlossen blieb. Strupler bekam einen Schlüssel und trainierte trotzdem. Für einmal nicht beobachtet von vielen jungen Frauen, die der athletische Mann mit den blonden Locken sonst mit Doppelsalti und komplizierten Schrauben- und Handstandsprüngen beeindruckte, sondern im leeren Bad unter Aufsicht seiner Frau.

«Sie sass am Bassinrand, mit unserem Ältesten im Kinderwagen – für den Fall, dass mir etwas passiert wäre», erinnert sich Strupler und lacht verschmitzt. Es ist ein schüchternes, fast zahnloses Lachen. Passiert ist dann zum Glück nichts Aussergewöhnliches. «Ausser dass mein Sohn bei jedem Sprung herzzerreissend schrie und erst aufhörte, wenn ich wieder auftauchte.» 

Auch im kriegsversehrten London war es kalt. Durch den «Wembley Empire Pool», die olympische Schwimmhalle unmittelbar neben dem riesigen Stadion, zog ein eisiger Wind. «Wir haben gefroren», sagt Ernst Strupler. Dies ist die stärkste Erinnerung, die er an die Olympischen Spiele von 1948 hat. Mit Zug, Schiff und Bus waren die 165 Athleten und sieben Athletinnen der Schweizer Delegation an die Spiele gereist. Für den jungen Turmspringer sollten sie zur grossen Enttäuschung werden. Der mehrfache Schweizermeister, der es gewohnt war zu den Besten zu gehören, erreichte in London nur den 25. Rang. 

«Miserable Umstände»

In London war alles anders, als es der talentierte junge Schweizer gewohnt war. «Die Umstände waren miserabel», sagt Strupler heute, 64 Jahre später. Zwar gelangen ihm in der ersten Runde «ordentliche» Sprünge. Der «Handstand Durchschub» etwa oder der «fliegende Doppelsalto». Die Schweizer Schwimm-Delegation sei aber schlecht vorbereitet gewesen, «eine völlige Nietenbande!».

Und so kam es, dass die Athleten anderer Nationen bequem mit dem Auto an die Spielstätten chauffiert wurden, Ernst Strupler und Willy Rist, der zweite Schweizer Turmspringer, hingegen in aller Frühe mit der «Untergrund» anreisen mussten. Einen Beutel Milch und ein Stück Brot, am Abend zuvor beim Nachtessen entwendet, im Sack. «Dabei hätte ich mich doch gerne vor dem Wettkampf aufgewärmt und ein paar Sprünge gemacht!» 

Ernst Strupler mit seinem Sohn Ueli.

Ernst Strupler mit seinem Sohn Ueli.

Vergessen hat er das bis heute nicht. Auch nicht, dass er mit den Österreichern, den einzigen Athleten, die er in London kannte, hätte mitfahren können. Doch deren Delegationschef sei mit jenem der Schweizer zerstritten gewesen und habe ihm die Mitreise verweigert. Auch während des Wettkampfs war niemand da für die zwei Schweizer. Die ungewohnt langen Wartezeiten machten dem ehrgeizigen Athleten mental zu schaffen. Sein Unverständnis gilt noch heute dem damaligen Delegationschef der Schweizer Schwimmer, der es laut Strupler unterlassen hatte, für seine Athleten zu sorgen. «Er ging lieber ins Pub, als uns zu betreuen.»  

Ernst Strupler schüttelt den Kopf. Er, der heute im Altersheim in der Nähe von Bern ein sonniges Zimmer bewohnt und manchmal tagelang nicht redet, kommt richtig in Fahrt, obwohl er nur noch leise und langsam sprechen kann. Man spürt den Kampfgeist, der den ehemaligen Spitzensportler und leidenschaftlichen Turnlehrer früher antrieb. Der ihm sogar einen Prozess bescherte, weil er am Ende der Olympischen Spiele gegen besagten Delegationschef aufmüpfig wurde und statt an einem Länderwettkampf teilzunehmen ohne Pass und Geld die Rückreise in die Schweiz antrat. Doch davon später.

Mit dem Ägypter in der Badewanne

Denn da war noch das mit den Badewannen. Jenen Wannen, die andere Nationen für ihre Athleten mieteten. In denen die Athleten dann in den langen Wartezeiten sassen und sich aufwärmten. Die Schweizer hatten keine Badewanne, «auch das hat der Delegationschef versäumt», sagt Strupler. «Die anderen Athleten badeten und wir Schweizer standen da und schlotterten.» Irgendwann hatte ein Ägypter Mitleid und lud Strupler in seine Badewanne ein. Er blieb einer der wenigen Athleten, die Strupler während den Spielen kennenlernen durfte. 

Vom olympischen Geist, vom völkervereinenden Mythos, der die Olympischen Spiele bis heute umgibt, sei nicht viel zu spüren gewesen. Dabei hatte sich Strupler, der leidenschaftliche Turnlehrer und Trainer, der sich sogar in seiner Dissertation mit Sport und Olympia befasst hatte, darauf fast am meisten gefreut.

Die Amerikaner sprangen schöner

Dafür kam der ehrgeizige Athlet in London mit einem anderen Phänomen in Berührung: den Amerikanern. Noch nie zuvor hatte er die Amerikaner springen sehen. Und als er dann in London in der ersten Wettkampf-Runde zuschaute, wie unglaublich elegant und schön die Amerikaner vom Turm sprangen, wie präzise sie Absprünge und Rotationen ausführten, so anders und so viel perfekter als die Europäer, war er fasziniert. Die Amerikaner waren eine andere Dimension. 

«Und dann machte er seinen grössten Fehler», erzählt Ueli Strupler, der älteste Sohn, dem der Olympionike während seines langen Lebens viele seiner Geschichten anvertraut hat: «Statt sich zwischen der ersten und der zweiten Runde zu erholen, trainierte er.» Er wollte so gut wie die Amerikaner springen, war übermotiviert. Und scheiterte. Beim «Doppelsalto rückwärts gehechtet» erhielt er eine Null. Der elfte Rang aus der ersten Runde ging verloren.

«Zeitlebens hat er danach als Trainer gepredigt, dass man kurz vor oder während eines Wettkampfs nicht mehr trainiert», sagt der Sohn. Und noch heute ist der alte Mann fasziniert davon, mit welch professionellem Team die Amerikaner damals antraten. Strupler streicht sachte und stolz über das Foto, das ihn mit dem Olympiasieger Sammy Lee zeigt. «Der kam mir bis zur Achselhöhle!», sagt Strupler, «er sprach mich an und fragte mich, ob ich Ringer sei – gross und muskulös wie ich war.» Beide wurden sie in London dreissig Jahre alt.

Rückreise ohne Pass und ohne Geld

London 1948 waren die ersten Spiele der Nachkriegszeit. Deutschland und Japan durften nicht teilnehmen, die UdSSR verzichtete. Strupler, der im Militär Fünfkampf trainiert hatte und somit auch während des Kriegs immer viel Sport machen konnte, erinnert sich jedoch nicht an die zerbombte Stadt. Dafür umso besser an seine abenteuerliche Heimreise von den Spielen: Mit der Delegation ging er weiter nach Amsterdam. Strupler weigerte sich vor dem Wettkampf, «auch nur einen weiteren Tag» unter dem verhassten Delegationschef zu starten. Doch dieser gab Geld und Pass für die Rückreise nicht heraus.

Strupler setzte sich trotzdem ab. Auf einer «Rundfahrt durch die Kanäle» pumpte er eine Schweizerin an. Durch sie kam er zu einem Hotel-Pianisten, der Geld in die Schweiz transferieren wollte. Und tatsächlich: Der Pianist vertraute Strupler sein Geld an und dieser konnte damit in die Schweiz reisen. «Dank der Olympia-Uniform und meinem Armee-Ausweis kam ich auch ohne Pass weiter.» Der alte Mann schüttelt den Kopf, als könne er die Geschichte heute noch nicht glauben.

Der Sport lebt im Kopf weiter

Strupler räuspert sich, er rückt seinen gelähmten Arm zurecht, versucht sich im Rollstuhl aufzurichten. London 1948 rückt plötzlich in weite Ferne. Doch dann blitzt es in seinen Augen auf. In Peking 2008, sagt er, dort sei er viel besser gewesen. In Peking habe er vier Goldmedaillen geholt. Er sagt es mit Stolz.

Ernst Strupler hat sein Leben dem Sport gewidmet. Er hat den Sport gelebt. Und als Spitzensportler und Politiker für den Breitensport gekämpft. Als erster Sportprofessor der Uni Bern baute er dort das Sportinstitut auf und arbeitete gleichzeitig mit voller Leidenschaft als Turnlehrer. Er war Sportdirektor der Stadt Zürich. Und er nahm noch als 70-Jähriger, als er wegen Hüftproblemen kaum mehr gehen konnte, auf dem 10-Meter Anlauf, um einen seiner Sprünge zu zeigen (und wurde mit seiner veralteten Springmanier als «Acapulco-Springer» berühmt). Seine Frau war Turnlehrerin. Und auch seine sechs Kinder wurden mit einer Ausnahme alle Turnlehrer.

Und alle – ausser Ueli, dem Ältesten, «wahrscheinlich von den Olympia-Vorbereitungen des Vaters traumatisiert» – wurden sie Turmspringer. Wie auch viele der Enkelkinder. Sport war der rote Faden in seinem Leben. Strupler bildete gar als 80-Jähriger noch Turmspringer aus und schlief mit ihnen im Trainingslager im Massenlager. Bis ihn ein Hirnschlag aus seinem bewegten Leben katapultierte und kurz darauf ein schwerer Autounfall ihn endgültig an den Rollstuhl fesselte. 

Seither übt der belesene Mann seine sportlichen Abenteuer im Kopf aus. Er besteigt den Himalaya. Er nimmt in Peking an den Olympischen Spielen teil und gewinnt vier Medaillen. Wehe, wenn jemand sagt, dass er das nur erfunden hat. Er kann sich an jedes Detail erinnern. Ist dies die Verwirrung eines alten Mannes? Vielleicht. Oder ist es die Überlebensstrategie eines vom Alter gezeichneten Spitzensportlers und Bewegungsmenschen? Wohl eher. Aber das spielt eigentlich keine Rolle. Es ist die Leidenschaft für den Sport, die zählt.

Strupler wird nie aufhören mit Turmspringen. «Es ist eine schöne Sportart. Sie verlangt Mut und Körperbeherrschung. Das Fliegen ist einfach schön. Und die Angst, die macht es gerade aus: Man macht den Sprung trotzdem und ist danach zufrieden mit sich selbst.» Welche Sprünge Ernst Strupler wohl für London 2012 geplant hat?

Mehr Informationen zu Ernst Strupler, der die Entwicklung des Sports in der Schweiz mitgeprägt hat, lesen Sie in seiner Biographie.

2012 finden die Olympischen Spiele in London statt – nach 1908 und 1948 bereits zum dritten Mal. Wir haben uns auf die Suche nach den Schweizer Olympioniken von London 1948 gemacht. Und haben einige von ihnen besucht.

Lesen Sie auch den Artikel über die fünf Ruderer, die in London 1948 dank enger Kameradschaft Silber gewonnen haben. Oder das Porträt über die Schwimmerin Liselotte Kennel-Kobi.

Bilder: Manuela Ryter und zvg

Anmerkung: Dieser Artikel wurde für den Olympiablog verfasst.

Enrico De Maria: Olympia zum Dritten

Wir – Flavio Marazzi und ich – waren nun gerade in der Schweiz für zweieinhalb Wochen. Das ist eine Ausnahme in unserem Segler-Alltag. Normalerweise sind wir immer auf Achse. Von Regatta zu Regatta. 

Wir trainieren immer mehrere Wochen am Austragungsort des nächsten Segelwettkampfs. Meine Freundin bleibt jeweils in der Schweiz – ich bin ja schliesslich am Arbeiten –, wir sehen uns also nicht häufig. Das ist der Hauptgrund, weshalb ich langsam etwas müde bin von meinem Jetsetter-Leben. Flugzeug, Auto, Hotel, Hafen – viel mehr kriegen wir in unserem Alltag nicht zu sehen. Und meist ist nicht gerade Badehosenwetter... Die Olympischen Spiele in London dürfen deshalb nun kommen. Weitermachen werde ich danach wahrscheinlich nicht, ich glaube, nach London reicht es. Und wahrscheinlich wird die Starboot-Klasse künftig gar nicht mehr olympisch sein, dann stellt sich die Frage sowieso nicht mehr.

«London 2012» werden bereits meine dritten Olympischen Spiele zusammen mit Flavio sein. In Athen 2004 und in Peking 2008 verpassten wir das Podest mit dem vierten, respektive fünften Platz nur knapp. Unser erklärtes Ziel ist nun ganz klar eine Medaille. Den Nationenplatz für die Schweiz haben wir bereits gesichert. Falls an den Weltmeisterschaften nicht noch ein anderes Schweizer Team besser ist, sind wir in London dabei.

Den ganzen Blogbeitrag von Enrico De Maria lesen Sie im Olympiablog von Swiss Olympic.​ Text aufgezeichnet von Manuela Ryter.

«Ich liebe die Geschwindigkeit»

Mit feinsten Körperbewegungen bringt «Swiss Olympic Top Athlete» Martina Kocher ihren Rodel auf Geschwindigkeiten bis zu 140 Stundenkilometern. Und sie wird immer schneller: Die 25-jährige Bernerin kommt der Weltspitze mit jedem Rennen etwas näher.

Martina Kocher ist jung, hübsch und vor allem: schnell. Mit ihrem Rodel jagt sie mit weit über 100 Stundenkilometern den Eiskanal hinunter. Und wäre sie nicht Rodlerin geworden, dann wahrscheinlich Skirennfahrerin. Oder sie hätte sich dem Motorsport gewidmet. Denn: «Hauptsache schnell», sagt die 25-Jährige. So sei sie schon immer gewesen – ob im Rodel oder auf den Ski.

Auf dem Rodel muss Kocher mit kleinsten Bewegungen auf die Geschwindigkeit reagieren können: «Ich muss sie fühlen», sagt die Bernerin. Es sei ein «cooles» Gefühl, so schnell im Eiskanal unterwegs zu sein: «Man spürt den Druck in jeder Kurve und nimmt den Zug mit – ich kann die Geschwindigkeit richtig geniessen.»

«Immer so ehrgeizig»

Kocher sitzt in einem Stadtcafe in Bern. Sie liebe die Berner Innenstadt. Die Gassen und Lauben. «Ich könnte mir nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu wohnen.» Dabei ist Martina Kocher immer auf Achse. Seit sie als 15-Jährige alles auf die Karte Sport setzte, lebt sie aus dem Koffer. Offiziell wohnt sie in Hinterkappelen bei Bern. Als Zeitsoldatin trainiert sie in Magglingen (siehe Kasten). Und seit 10 Jahren trainiert sie zusätzlich mit den deutschen Rodlerinnen im Militärsportzentrum in Oberhof in Deutschland. Und im Winter zieht sie von Rennen zu Rennen. Die Tage in Bern sind rar.

Am Tag zuvor flitzte Kocher an den Weltmeisterschaften in Turin auf den achten Rang, das zweitbeste Resultat ihrer Karriere. «Zuerst war ich enttäuscht», sagt sie, «im Training war ich überzeugt, dass der vierte bis sechste Rang drin liegt.» Aber eigentlich sei der achte Rang «ganz ok», sagt sie und fügt fast entschuldigend an: «Man ist halt immer so ehrgeizig.»

Kocher gegen Goliath

Im Rennzirkus kämpft Kocher gegen Goliath: die Deutschen, ihre Trainingskolleginnen und seit langem die Leaderinnen im Rodeln. Aber eigentlich kämpfe sie – im Gegensatz zu den restlichen Rodlerinnen – mit den Deutschen, nicht gegen sie, sagt die Start-Spezialistin: «Sie sind mein Team und meine Freundinnen, ich fiebere immer mit ihnen mit.» Allerdings mit einem klaren Ziel vor Augen: Sie eines Tages zu schlagen.

Diesem Ziel kommt Kocher immer näher. Im Training hat sie die Deutschen schon mehrmals geschlagen. Und im Januar zeigte sie am Weltcuprennen in Oberhof mit dem fünften Platz, dass man an der Spitze schon bald mit ihr rechnen muss. Technisch ist sie den Besten schon jetzt häufig überlegen. Wäre sie zehn Kilo schwerer, würde sie im Eiskanal schon lange wie in Juniorinnenjahren um die Podestplätze fahren. Denn eine perfekte Rodlerin ist gross, schmal und schwer. Kocher ist gross, schmal, aber sie ist ganz klar das Leichtgewicht unter den Rodlerinnen. Für eine gute Zeit muss sie besser fahren und darf sich weniger Fehler erlauben. Sie habe noch viel Potenzial, sagt Kocher. Und genau das sei ihr Antrieb, nicht die Medaillen: «Ich will mich stetig verbessern.» Bis Sotschi 2014 vergehen immerhin noch drei Jahre. Es wären ihre dritten Olympischen Spiele.

Karriere nur dank Zusammenarbeit mit deutschem Team

Für Kocher ist klar: Ohne das deutsche Team wäre sie nicht dort, wo sie heute ist. Dank des Engagements des Internationalen Rodlerverbandes übernehmen grosse Nationen Patenschaften für kleine Nationen – und trainieren sozusagen ihre Konkurrenz. Kocher, die das Zimmer jeweils mit Olympiasiegerin Tatjana Hüfner teilt, profitiert dank der Integration ins deutsche Team von perfekter Infrastruktur und Know-how. Denn in Deutschland ist Rodeln eine traditionell beliebte Sportart mit viel Ansehen. Es gibt viele Nachwuchsathleten und immer wieder Ausnahmetalente. Und wenn ein Talent entdeckt ist, kommt es schon im frühen Alter ins staatliche Fördersystem, welches «bis aufs Letzte ausgereizt wird», sagt Kocher: «Die Grundvoraussetzungen, damit ein Talent sich entfalten kann, sind vorhanden.»

Und dies ist im Rodelsport entscheidend. Denn ganz anders als im Bobsport, zu dem ein Sportler auch noch mit 25 wechseln kann, muss ein Talent bereits im Kindesalter voll aufs Rodeln setzen. Es brauche enormen Aufwand, um die Sensibilität, mit der der Rodel gesteuert wird, aufzubauen, sagt Kocher: «Ich zucke ganz leicht mit der Schulter und der Rodel reagiert.» Rodeln sei deshalb mit dem Skisport vergleichbar. Nur dass das Rodeln weniger gefährlich sei: «Bei uns fliegt bei einem Sturz nicht gleich alles durch die Gegend.» Das Handeln der Organisatoren vor dem tödlichen Unfall des Rodlers während den Olympischen Spielen in Vancouver sei «massiv fahrlässig» gewesen, sagt Kocher – die besten Athleten der Welt hätten schon lange im Vorfeld auf die Gefahr der zu schnellen Bahn hingewiesen und Verbesserungsvorschläge erarbeitet. «Wir wurden jedoch ignoriert.»

Weinend in den Eiskanal

In der Schweiz ist Rodeln eine Randsportart. Zum Rodeln komme man nur durch Beziehungen, sagt Kocher. So war ihr Vater Bobfahrer und später Trainer der Rodler. Als sie neun Jahre alt war, nahm er sie mit an ein Rennen. Das aufmüpfige Mädchen forderte sogleich: «Ich will auch!» Und der Vater nahm sie ernst. Noch am gleichen Tag organisierte er eine Rodelfahrt für seine Tochter. «Als ich dann oben stand und in den Eiskanal hinuntersah, begann ich zu weinen und wollte nicht mehr», erzählt Kocher lachend. Doch der Vater akzeptierte den Rückzieher nicht, setzte sie in den Schlitten und liess los. «Noch während der Fahrt wichen die Tränen einem Strahlen», erzählt Kocher. Sie wollte mehr. Seither hatte sie im Eiskanal nie mehr Angst. Seither ist Rodeln ihr Leben.

Auch heute muss Kocher für ihre Karriere kämpfen. Während ihre Freundin Tatjana Hüfner «alles auf dem Silbertablett serviert bekommt» und in ihrem Alltag kaum Entscheidungen treffen muss, organisiert Kocher ihren Trainings- und Wettkampfalltag selbst. Auch in finanzieller Hinsicht. Dafür sei sie sich «die Belastung des Alltags gewohnt», sagt Kocher, die 2009 ihr Sportstudium abgeschlossen hat und seither in ihrer trainingsfreien Zeit wochenweise arbeitet. Diese Belastung sei auch ein Vorteil, sagt sie: «Ich werde nicht auf die Welt kommen, wenn ich nach meiner Sportkarriere ins Berufsleben einsteige.»

Mehr Unterstützung seit Vancouver 2010

Seit den Olympischen Spielen in Vancouver 2010 sei vieles einfacher geworden, sagt Kocher: «Ich spüre viel mehr Anerkennung aus der Schweiz.» Dank dem Olympiadiplom – in Turin 2006 hatte sie es um nur 18 Tausendstelsekunden verpasst – wird sie heute als «Swiss Olympic Top Athlete» finanziell unterstützt. Und der Schweizerische Bobsleigh-, Schlitten- und Skeletonverband hat jemanden angestellt, der ihr viel Organisatorisches abnimmt.

Ein weiterer Meilenstein ist für Kocher die 50-Prozent-Anstellung als Zeitsoldatin in der Schweizer Armee (siehe Kasten). Damit ist Kocher gewissermassen eine der ersten «Berufssportlerinnen» der Schweiz – ein Luxus, sagt sie. Denn schiessen und durch den Dreck robben musste sie nur während der Spitzensport-RS. Nun heisst Militär für sie Trainieren. Zum Glück, sagt sie, denn sie habe enorme Angst vor dem Schiessen, einzig einrücken müsse sie in Uniform. «Die RS war sehr ungewohnt – und trotzdem war ich am Schluss stolz, meine Angst überwunden zu haben.» 

​Dieses Porträt erschien im Olympiablog von Swiss Olympic.

Text und Porträtbilder: Manuela Ryter

Vreni Schneider: Eine Olympiade ist so etwas Grosses!
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Ja, nun hat mich Simi überholt (ich erlaube mir nun auch, ihn Simi zu nennen wie alle Welt). Das ist wunderschön! Ich hatte dies erwartet, ich wusste, dass er es schafft: Wenn es jemand schafft, dann Simi. Natürlich könnten nun andere nachkommen - so ein Erfolg beflügelt schliesslich das ganze Team, das ist eine riesige Motivation. Ich habe keine Worte, um Simis Leistung zu beschreiben, er war einfach super, hat alle dominiert. Mit dieser Überlegenheit Gold zu gewinnen.. das ist einfach Wahnsinn!

Eigentlich muss ich ihm dankbar sein: Denn nun ist er der erfolgreichste Schweizer Olympionike aller Zeiten - dadurch erhalten auch meine Erfolge, alles, was ich damals erreicht habe, wieder mehr Bedeutung. Viele Leute sprechen mich darauf an, dass Simi mich überholt hat, sie fragen mich, wie ich Olympia damals erlebte, wie es war, Fahnenträgerin zu sein, was mir nun durch den Kopf geht. Das freut mich natürlich sehr.

​Den ganzen Text lesen Sie hier im Olympiablog von Swiss Olympic.

Das Ende der Weltrekorde ist noch fern

Sportlerinnen und Sportler werden immer schneller, Weltrekorde purzeln seit den ersten modernen Olympischen Spielen. Damit soll bald Schluss sein, sagen Wissenschaftler. Doch Usain Bolt und Michael Phelps belehrten sie in Peking eines anderen. Wird der Mensch auch in Zukunft immer schneller? Oder sind die physischen Grenzen irgendwann erreicht?

Der Beste zu sein, die Schnellste, der Stärkste – das ist und war schon immer eine Triebfeder für jeden Sportler, der Hintergrund eines jeden Wettkampfs. Der Beste des Dorfs, der Schnellste der Stadt, die Stärkste des Landes, von Europa und schliesslich der Welt zu sein, dieses Streben nach Perfektion ist im Sport so verankert wie der Ball im Fussballspiel. Das höchste Ziel dabei: Der Beste aller Zeiten zu sein – einen Weltrekord aufzustellen.

Damit soll laut neusten Studien bald Schluss sein, die physischen Grenzen des menschlichen Körpers sollen bald erreicht sein. «Das Ende der Weltrekorde», titelten die Zeitungen im vergangenen Winter denn auch, als Jean-François Toussaint seine Studie präsentierte. Der Leiter des Instituts für Biomedizinische und Epidemologische Forschung des Sports (Irmes) sagte darin das Ende der Weltrekorde im Jahr 2060 voraus. Und zwar in allen klassischen Disziplinen.

In der Studie untersuchte der französische Wissenschaftler insgesamt 3263 Weltrekorde in allen klassischen Sportarten seit dem Beginn der Olympischen Spiele der Neuzeit 1896. Das Resultat: In allen Disziplinen werden die Sportler immer besser, immer schneller, immer stärker. Doch die Steigerungskurve flacht immer mehr ab.

Toussaint wendet diese exponentiell abfallende Entwicklung für eine Prognose der Zukunft an: Eines Tages wird die Kurve ganz flach und das Maximum erreicht sein. In der Hälfte aller Sportarten und Disziplinen soll dies bereits in 20 Jahren der Fall sein. Denn laut Toussaint haben wir heute bereits 99 Prozent der maximal möglichen Leistungsfähigkeit erreicht. In der Königsdisziplin 100-Meter-Sprint rechnet Toussaint mit einer noch möglichen Steigerung von 14 Tausendstel (Anfang 2008 lag der Weltrekord bei 9,74 Sekunden), im Marathon errechnete er die Leistungsgrenze bei 2:03:08 – 78 Sekunden unter dem damaligen Weltrekord. Der Körper stosse an seine Grenzen.

Leistungsgrenze bereits unterboten

Der Hohn am Ganzen: Die Ergebnisse der Studie hielten nicht einmal ein halbes Jahr stand, die Realität lehrte die Wissenschaft, dass sich die menschliche Leistungsentwicklung nicht in Kurven prognostizieren lässt. Usain Bolt liess die Wissenschaftler im Regen stehen: Die prognostizierte Leistungsgrenze von 9,72 Sekunden erreichte er bereits im Mai 2008. Und mit seinen 9,69 Sekunden, in denen er die 100 Meter an den Olympischen Spielen in Peking rannte (und zwar zum Erstaunen aller auf den letzten Metern bereits im abgebremsten Siegesschritt), unterbot er Toussaints prognostiziertes «Ende der Weltrekorde» um 36 Tausendstel.

Auch Schwimmer Michael Phelps und seine Kollegen liessen im vergangenen Jahr Wissenschaftler und Zuschauer perplex zurück. Ausgerechnet im Schwimmen, wo die Weltrekorde seit Jahren nur in winzigen Schritten purzeln, fielen heuer etliche Rekorde. In Peking gab es Rennen, in denen gleich mehrere Schwimmer unter der Weltrekordzeit anschlugen. Und auch im Marathon verbesserte Haile Gebrselassie seinen Weltrekord im September in Berlin um unglaubliche 27 Sekunden. Mit einer Zeit von 2:03:59 kommt er Toussaints Leistungsgrenze damit unerhört nah.

Bessere Technik, mehr Leistung

Ist ein Ende der Weltrekorde überhaupt voraussehbar? Oder wird sich der menschliche Körper stets weiterentwickeln? Wird der Mensch auch in Zukunft noch schneller, höher, stärker? «Wir sollten davon ausgehen, dass es immer eine Entwicklung geben wird», sagt Sportwissenschaftler Ralf Seidel von der Leistungsdiagnostik der Schulthess Klinik. Einen der Hauptgründe dafür sieht Seidel in der Entwicklung zukünftiger Technologien: «Sie werden das Training laufend verändern und eine kontinuierliche Leistungssteigerung ermöglichen.»

So hätten beispielsweise die Gegenströmungsanlagen den Schwimmsport massiv verändert. Mit Kameras und Messgeräten kann heute die Qualität des Trainings, die Motorik des Athleten und vieles mehr gemessen werden. «So etwas hätte man sich vor 50 Jahren nicht erträumt», sagt Seidel. Genauso wisse man nicht, welche Technik uns in 50 Jahren erwarte: «Wir werden nicht stehen bleiben.»

Es gebe im Leistungssport noch vieles, das nicht ausgeschöpft sei, sagt Seidel. So seien beispielsweise die Talentsuche und die professionelle Sportförderung noch in keiner Weise ausgereizt. Und auch in den Bereichen Ernährung, Schlaf und Sportpsychologie sieht er noch Lücken – sowohl in der Kenntnis darüber wie auch in der Anwendung des bisherigen wissenschaftlichen Wissensstands: «Da ist noch Verbesserung möglich.» Auch sei die Trainingswissenschaft noch eine junge wissenschaftliche Disziplin, die sich weiterentwickle. «Wenn man schaut, wie man vor 40 Jahren trainierte, kann man heute über die Trainingspläne von damals schmunzeln.»

Wird also nie eine physiologische Grenze erreicht werden? Entscheidend für eine kontinuierliche Leistungssteigerung sei die Steigerung der Qualität des Trainings sowie der Belastbarkeit der Athleten, womit mehr und intensiveres Training möglich werde. Wenn zusätzlich die Erholung – zum Beispiel durch Schlaf und Ernährung – verbessert werde, sei wiederum eine Leistungssteigerung möglich. Ob physiologische Grenzen irgendwann erreicht werden, «spielt gar nicht so eine wichtige Rolle», sagt Seidel. Denn schlussendlich garantiere die beste körperliche Leistungsfähigkeit nicht, dass man am Tag X die Leistungen auch abrufen könne. Zu viele Faktoren, etwa mentale, spielten da eine Rolle. Diese in eine Formel zu packen und daraus Prognosen aufzustellen, sei deshalb rein hypothetisch.

Das von Toussaint erwartete Ende der Weltrekorde dürfte also noch fern sein. Unbestritten ist jedoch: Die Schritte, in denen es aufwärts geht, werden immer kleiner. Weshalb sie jedoch beispielsweise im Schwimmen gerade ansteigen statt kleiner werden, ist allerdings auch den Wissenschaftlern ein Rätsel. Klar zu sein scheint, dass die Steigerung nicht nur auf die neuen Schwimmanzüge zurückzuführen ist, wie dies auch die Hersteller bestätigen.

Weltrekorde nur mit Doping?

Sind Weltrekorde also nur noch mit Doping machbar? So wurden beispielsweise zwölf aktuelle Weltrekorde der Frauen in der Leichtathletik in den 80er Jahren aufgestellt – in der Hochphase von Anabolika. In jener Zeit, als Dopingkontrollen nur an Wettkämpfen, nicht aber im Training durchgeführt wurden. Auch die heutigen Kugelstösser sind weit von den Weltrekorden der 80er Jahre entfernt. Dies spricht wiederum gegen Studien, die Leistungsgrenzen aufgrund von früheren Weltrekorden voraussagen, da sie sich auf zum Teil verfälschte Daten stützen. Laut Toussaint erreicht Doping zwar lediglich, dass die Leistungskurve schneller ansteigt – die physiologische Grenze werde mit Doping jedoch kaum verschoben, denn es sei schon immer gedopt worden, geändert hätten sich nur die Methoden. Allerdings: Ob gerade Gendoping die physiologischen Grenzen künftig nicht doch illegal übergehen könnte – diese Diskussion wird künftig sicherlich im Zentrum stehen, sollten eines Tages die Weltrekorde wieder auffällig schnell purzeln.

​Dieser Artikel erschien am 22. Dezember 2008 im swiss sport 6/08, Magazin von Swiss Olympic.

Text: Manuela Ryter

«Das Glück liegt häufig auf meiner Seite»

2004 wurde Nino Schurter Junioren-Weltmeister, in Peking holte er nun Bronze. Der Weg des 22-jährigen Bikers führt steil nach oben. Dank viel Talent, Glück und angemessener Förderung.

Nino Schurter sitzt im «Café Maron», direkt am Bahnhof in Chur, auf einer mit Seide überzogenen Bank. Neben ihm nippen alte Damen an ihren Cappuccinos und stecken ihre Gabeln tief in klebrig-süsse Kuchen. In grau-schwarz gestreiftem Hemd sitzt er da, die blonden Haare elegant zur Seite gekämmt. Hübsch, jung, bescheiden und stets mit dem Lächeln des netten Jungen von nebenan im Gesicht. 

Der Medienrummel der letzten Wochen hat Schurter ein professionelles Auftreten gelehrt. Seit er im August in Peking beim Cross Country-Rennen vor dem zehn Jahre älteren Landsmann Christoph Sauser als Dritter ins Ziel kam und die einzige Schweizer Medaille der Biker in Empfang nahm, ist Schurter ein gefragter Mann. Überall soll der laut Presse «talentierteste Biker der Welt», der bereits als Nachfolger des französischen Seriensiegers Julien Absalon gefeiert wird, mit dabei sein. «Das ehrt mich natürlich», sagt Schurter. Doch das Leben geht für ihn auch nach einer Olympiamedaille weiter wie bisher. London 2012 wartet.

Wenn Nino Schurter in London Gold holt, wird dies niemanden überraschen. Zu steil ging sein Weg stets nach oben, als dass ihm jemand diesen Exploit nicht zutrauen würde. Aufs Bike sass Schurter bereits als kleiner Junge, damals in Tersnaus, einem winzigen Dorf in den Bündner Bergen. Wie sein Bruder fuhr er erst einmal Skirennen, wie das die meisten sportlichen Kinder in einem Bergdorf tun. Im Sommertraining ging es auf dem Velo in die Berge und bald brausten die Schurter-Brüder auf Bikes statt auf Skis die Berge hinunter. «Wir hatten von Anfang an Erfolg.»

Auch sein Vater liess sich vom Bike-Virus anstecken. In die Ferien ging die Familie Schurter fortan nicht mehr ans Meer, sondern mit dem Bike in die Berge Italiens. Ninos Bruder wechselte später nach einem Unfall zum Downhill, sein Vater ist noch heute Trainer der Schweizer Downhill- Nationalmannschaft.

Viel Training dank Sportlerlehre

Als 16-Jähriger entschied sich Schurter für den Spitzensport. Er verliess sein Elternhaus und zog nach Bern, um dort eine Sportlerlehre zum Mediamatiker zu absolvieren, einer Mischung aus IT, Kaufmännischer Ausbildung und Multimedia-Design. Drei Jahre lang ging er Teilzeit in dieBerufsschule, die ihm viel Zeit fürs Training ermöglichte. Anschliessend machte er ein zweijähriges Praktikum bei einer Werbeagentur, bei der er für die Werbeunterlagen seines Teams, dem Swisspower MTB-Team, zuständig war. «Mein Teamchef war somit indirekt auch mein Chef und sorgte dafür, dass ich genügend zum Trainieren kam», sagt Schurter schmunzelnd.

Der Einsatz zahlte sich bald aus: 2004 wurde Schurter bei den Junioren Welt- und Europameister, als 19-Jähriger Dritter bei der U23-WM und ein Jahr später holte er die U23-Welt- und Europameistertitel, seither ist er in dieser Kategorie fast ohne Konkurrenz. Auch bei den Weltcuprennen in der Elite fährt er seit zwei Jahren vorne mit. Und nun die Olympiamedaille. Nino Schurter, der seit seinem Lehrabschluss vor einem Jahr und der Spitzensport-RS im vergangenen Winter Profibiker ist, sieht der Zukunft zuversichtlich entgegen. «Bisher war das Glück häufig auf meiner Seite.» Er hoffe, dass ihm nun auch der Anschluss an die Elite gelinge.

Erfolg nur dank Unterstützung

Schurters sportliche Laufbahn gleicht einer Bilderbuchkarriere. Während in der U23-Kategorie viele seiner einst genauso talentierten Kollegen den Sport wegen ausbleibender Erfolge an den Nagel hängten, geht der Rätoromane seinen Weg nach oben. Die Medaille in Peking war nun die Krönung. Dabei wäre er schon mit einem Diplom überglücklich gewesen, sagt Schurter. Er sei nicht mit dem einzigen Ziel, Gold zu holen, an den Start gegangen. «Ich habe noch viel Zeit», sagt Schurter. Wenn alles gut laufe, wolle er noch mindestens zwei Mal an Olympischen Spielen teilnehmen. Denn sein Potenzial sei noch nicht ausgeschöpft: «Ich weiss, dass mein Körper noch stärker werden kann, das gibt mir Sicherheit.»

Aber im Sport müsse alles stimmen, damit man Leistungen zeigen könne. Bisher habe er viel Glück gehabt. Er habe sich nie schwerwiegend verletzt und sei stets grosszügig unterstützt worden: In erster Linie durch seine Eltern und Grosseltern, aber auch durch Swiss Olympic, die Sporthilfe und den Club Sport Heart. Heute könne er gut vom Sport leben. «Aber gerade in den Junioren-Jahren war die Förderung enorm wichtig», sagt Schurter. Auch habe ihm die Sportlerlehre ermöglicht, eine gute Ausbildung zu machen, viel zu trainieren und trotzdem Zeit für Freunde und seine Freundin zu haben.

Er gehe auch mal aus, fahre häufig Ski oder spiele ab und zu Golf. Dieser Ausgleich sei ihm immer wichtig gewesen. «Hätte ich eine normale Lehre machen müssen, wäre ich wohl nicht beim Spitzensport geblieben», sagt Schurter, «ich wäre nicht bereit gewesen, für den Sport alles aufzugeben.» Der Spass sei ihm immer sehr wichtig gewesen. Er kenne Athleten, die morgens um sechs Uhr trainierten, dann den ganzen Tag im Lehrbetrieb arbeiteten und abends wieder aufs Bike stiegen. «Das hätte ich nicht lange gemacht. Ich bin nicht der Typ dazu.»

«Nachwuchsförderung könnte noch besser werden»

Die Nachwuchsförderung könnte laut Schurter aber noch besser werden. Denn es sei wichtig, dass es einem gut gehe. «Der Kopf ist zentral im Sport. Wenn dort etwas nicht stimmt, kann man noch so gut in Form sein, erfolgreich ist man nicht.» Die Doppelbelastung mit Sport und Beruf, die eine normale Lehre mit sich bringe, berge die Gefahr, sich zu überfordern, und bei Sportlerausbildungen seien die Möglichkeiten in der Berufswahl eingeschränkt. Doch eine gute Ausbildung sei wichtig, da der Sport viel zu unsicher sei. «Ich habe sehr früh auf den Sport gesetzt und es hätte auch anders kommen können: Man weiss nie, ob man den Anschluss an die Elite schaffen wird.»

Hätte er es nicht geschafft, hätte er ein paar Jahre verloren, da die Sportlerlehre etwas länger dauerte, aber wenigstens eine gute Ausbildung gemacht. Auch die Weiterbildung sei ihm wichtig, sagt Schurter, er werde jeweils im Winter Zeit dafür investieren. «Man muss als Sportler auch an ein Leben nach dem Sport denken.» Denn man wisse nie, wann man die Leistungen nicht mehr erbringe oder wegen einer Verletzung aufhören müsse. Er wolle sich in Richtung Marketing weiterbilden. «Ich kann mir vorstellen, später einmal in der Velobranche tätig zu sein.» Aber das sei noch so weit weg. Nur weil Schurter nun bereits eine Olympiamedaille im Palmarès hat, ist sein sportlicher Ehrgeiz noch lange nicht versiegt.

Dieses Porträt erschien am 27. Oktober 2008 im swiss sport 5/08, Magazin von Swiss Olympic.​

Text: Manuela Ryter

«Wir waren damals auch Muskelprotze»

Er war einer der kräftigsten Turner und der beste an den Ringen: Karl Frei gewann vor genau 60 Jahren Olympiagold in London. Während er im Fernsehen die Kunstturner in «Beijing» kritisch beobachtet, erzählt der 91-Jährige, wie er die ersten Spiele nach dem Zweiten Weltkrieg in Erinnerung hat.

Zwei Chinesen und sechs Europäer seien im Finale der Ringe-Turner in Peking, berichtet der Kommentator am Fernsehen während der Live-Schaltung aus Peking. Schweizer sind keine dabei. Die Zeiten, als die Eidgenossen im Turnen noch auftrumpften, sind lange her. Karl Frei sitzt gemütlich in seinem Sessel vor dem Fernseher, über dem ein grosses Plakat von den Olympischen Spielen 1948 hängt. «Gleich drei Goldmedaillen haben die Schweizer Turner aus London heimgebracht», sagt der rüstige, 91-jährige Mann.

Frei zeigt auf die Bilder an der Wand in seinem Einfamilienhaus in Regensdorf, wo er seit seiner Kindheit lebt. Auf einem der alten Fotos ist ein Turner mit angespanntem Gesicht zu sehen, die Hände fest an die beiden Ringe gekrallt, die Beine waagerecht nach vorne gerichtet, die Muskeln der Arme aufgebläht und eisern. «Das bin ich», sagt Frei stolz. Ja, kräftig sei er tatsächlich gewesen – einer der kräftigsten Turner überhaupt. Deshalb sei er schliesslich auch Olympiasieger geworden: Weil die Konkurrenz für die Abfolge der Übungen, die Frei zeigte, schlicht zu wenig kräftig war. Während sich die Athleten in Peking aufwärmen, zieht der alte Mann seine Pantoffeln aus, steigt auf die Eckbank und öffnet den Wandschrank, in dem er seine bedeutendsten Auszeichnungen aufbewahrt. «Das war noch eine richtige Medaille», sagt Frei, «nicht so eine zum Umhängen.» Heute ist der 91-Jährige der älteste noch lebende Schweizer Olympiasieger.

«Wir wussten kaum, was eine Olympiade ist»

Am Fernsehen ist nun Iovtchev Iordan, der erste Turner des Ringe-Finals in Peking, zu sehen. Frei verstummt und beobachtet ihn gespannt. Wie er an die Ringe hochgehoben wird. Wie er mit angespannten Armen die Beine beugt und hebt, in den Handstand übergeht und mit ganzer Kraft schwungvoll seine Kür turnt. Diese Schwungteile habe man damals noch nicht geturnt, sagt Frei. Deshalb könne man die Athleten auch nicht vergleichen. «Heute haben sie ‹Rölleli› in den Handschuhen, das ist eigentlich ein Schwindel. Wir haben noch mit blossen Händen geturnt.» Die Kraftteile der heutigen Turner seien aber nicht anders als bei ihnen damals. «Wir waren damals auch Muskelprotze», sagt er, «diese Kraft braucht es halt an den Ringen.» Deshalb hätten sich die Ringe im Gegensatz zu den anderen Disziplinen im Kunstturnen auch kaum verändert.

Dafür war damals sonst alles anders an den Olympischen Spielen. London lag in Schutt und Asche, die Athleten hatten laut Frei untereinander kaum Kontakt. Und Olympia hatte noch nicht eine so grosse globale Bedeutung wie heute. «Es gab ja noch kein Fernsehen», wirft Freis Frau Ruth ein. Einzig in der «Wochenschau» im Kino sei vielleicht mal etwas über die Olympischen Spiele berichtet worden. «Damals wussten wir hier auf dem Land kaum, was eine Olympiade ist», sagt Frei und lacht heiter. Für ihn sei Olympia jedenfalls wie jedes andere Turnfest gewesen. Und sogar in London habe nicht jeder gewusst, dass die Olympischen Spiele stattfanden.

Als Schweizer strenger benotet

Alexander Worobjew, ein Ukrainer, ist an der Reihe. Stramm zeigt er seine Übungen. Exakt und kraftvoll. 16,325 Punkte erhält er für seine Kür. «Das ist ja verrückt», sagt Frei und schüttelt den Kopf. Einen Unterschied zu früher gebe es eben schon: «Wir waren damals Amateure, heute sind alle Profis.» Dreimal die Woche hatte Frei in Regensdorf trainiert – zuerst in einem Weinkeller, dann in einem eigens gebauten Turnschopf. Die nötige Kraft habe er von der harten Arbeit als Schmid und Abwart gehabt: «Ich musste nie in den Kraftraum.» Trotz dem geringen Training sei er im Dorf immer wieder «angezündet» worden: «Die Bauern sagten, ich solle doch arbeiten statt ‹umegumpe›.»

Schweigend schaut Frei die nächste Kür – als Profi, der mit Argusaugen anderen Profis kritisch zuschaut. Yang Wei, der muskulöse Chinese, der nun seine Kür zeigt, beeindruckt Frei nicht. Diesen Schwierigkeitsgrad habe man damals schon geturnt. Einzig «solche Abgänge hat damals noch keiner gemacht», sagt Frei, nachdem Wei seine Kür mit einem Doppelsalto gestreckt mit Doppeldrehung abgeschlossen hat, «wir sind gar nicht auf die Idee gekommen.»

Ganz automatisch mache er die Noten jeweils selber, sagt Frei, als auch der nächste Athlet fertig geturnt hat. Er sei nicht immer einverstanden mit den Kampfrichtern. Frei zuckt mit den Schultern: «Was will man machen?» Bereits als Athlet habe er jeweils akzeptieren müssen, wenn er strenger bewertet wurde als die anderen. Wie etwa damals, in London: «Es hiess, die Schweizer hätten keinen Krieg gehabt und über all die Jahre trainieren können», sagt er, «das stimmte nicht.» Auch die Schweizer seien eingezogen worden. Und im Winter habe man den Turn- schopf nicht heizen können. Nur am Sonntagmorgen, da sei er manchmal um fünf Uhr früh aufgestanden, habe Kohle aus dem Schulhaus in den Schopf gekarrt und geheizt.

Sein Name wurde in London verewigt

Frei beobachtet gespannt, welche Figurenabfolgen die Athleten turnen. Seine Faszination fürs Turnen ist ihm ins Gesicht geschrieben, seine Leidenschaft, die er bis 65 aktiv ausgeübt hat, deutlich zu spüren. Heute mache er nur morgens noch ein paar Turnübungen, sagt Frei. Seinen grossen Garten bestellt er immer noch selbst. Und täglich fährt er mit dem Velo zur Post. Einzig auf Bäume klettere er nicht mehr, seit er vor ein paar Jahren beim Äste sägen heruntergefallen sei.

In Peking geht es nun um die Olympiamedaille, die letzten Turner zeigen ihr Können. Und bald steht fest: Der Chinese Chen Ybing holt Gold, auch Silber geht an China, Bronze an die Ukraine. Was er damals gefühlt habe, als er auf dem Podest stand und den Schweizer Psalm hörte? Das wisse er nicht mehr, sagt Frei. Man vergesse so vieles. Aber wenn er nun die Spiele schaue, kämen viele Erinnerungen hoch. Viel Publikum hätten sie damals nicht gehabt, erzählt er, es habe in Strömen geregnet. «Der Wettkampf musste immer wieder verschoben werden.» Nach drei Tagen und drei schlaflosen Nächten sei er «kaputt» gewesen wie noch nie. Geturnt hat er dann trotzdem besser als alle anderen. «Gold und Silber gingen an die Schweiz, Bronze an Tschechien», sagt Frei stolz und erinnert sich, wie er nach der einwöchigen Rückreise per Schiff und Zug in Regensdorf empfangen wurde: Das ganze Dorf feierte ihn wie einen Helden und führte ihn mit einer Kutsche hinter der Blasmusik her durchs Dorf.

Von London habe er jedoch nicht viel gesehen, sagt Frei. Erst ein paar Jahre später sei er mit seiner Familie zurück gegangen, um sich das Stadion noch einmal anzusehen. «Als ich dann auf einer Tafel mit allen Gewinnern meinen Namen fand, war das schon speziell, da habe ich schön dumm geschaut.» Erst in diesem Moment sei ihm bewusst geworden, was eine Olympiamedaille bedeute.

Diese Porträt erschien am 27. Oktober 2008 im swiss sport 5/08, Magazin von Swiss Olympic.​

Text: Manuela Ryter

Fotos: Luc-François Georgi