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grün im kopf – grün im herzen

Gabriela Manser, Chefin der Mineralquelle Gontenbad, findet Kraft und Ideen in der märchenhaften Natur des Appenzells.

Frau Manser, die Namen Ihrer Getränke stammen aus der Welt der Feen und Elfen – die Kräuter, etwa Holunderblüten oder Melisse, aus der Natur. Sind Sie eher Unternehmerin oder Märchenfee?
Gabriela Manser: Ich bin eine ganz normale Unternehmerin, die dank 17 Jahren Erfahrung als Kindergärtnerin einen guten Zugang zum Märchenhaften hat. Diese Ebene nutze ich. Wir wollen nicht nur Getränke herstellen, sondern auch Geschichten erzählen und Freude bereiten.

Kürzlich haben Sie sogar ein Märchen in Buchform herausgegeben. Wie wurden Sie Märchenerzählerin?
GM: Als wir den Namen für unseren Bio-Eistee «iisfee» gefunden hatten, war klar, dass ich ein Märchen dazu schreiben würde. Das Buch entstand dann aber erst ein Jahr später aus purer Freude an der Geschichte – den Anstoss dazu gab eine Malerin, die an dem Märli interessiert war.

Ist die märchenhafte Natur der Schlüssel zu Ihrem Erfolg? 
GM: Nicht nur, da braucht es einen Mix aus vielen Elementen. Aber die Natur ist auf jeden Fall meine Inspirationsquelle. Ich bin sehr naturverbunden und glaube an die Existenz von etwas Grösserem. Im Wald, an einem Bach, beim Blinzeln in die Sonne taucht man in diese märchenhafte Welt ein, in der sich alles relativiert und man sich nicht mehr so wichtig nimmt.  

Sie sind bekannt für Ihr grosses Engagement für die Nachhaltigkeit. Woher kommt dies?
GM: Ich bin mit dieser Quelle im Gontner Hochmoor aufgewachsen. Die Mitarbeiter sassen früher bei uns am Tisch. Für mich war schon immer klar: Wenn man etwas Wertvolles erhalten will, muss man zu Mensch und Natur Sorge tragen. 

Ihr Grossvater füllte seine Mineral-wasserflaschen noch von Hand ab. Welchen Stellenwert nimmt das Wasser in Ihrem Leben ein?
GM: Einen grossen. Beim Wandern bleibe ich bei jedem Bächlein stehen. Ich finde das Plätschern von Wasser unglaublich schön. Wasser hat etwas Geheimnisvolles. Auch unser Mineralwasser: Wir wissen, dass es mindestens 25 Jahre lang in den Tiefen des Alpsteins unterwegs war. Ansonsten wissen wir sehr wenig. Für mich ist es ein kleines Wunder, dass wir trotz Klimaveränderung und saurem Regen Wasser zur Verfügung haben, das seine Reinheit bewahren konnte.

Nach 17 Jahren in St. Gallen gingen Sie zurück ins Appenzell, zurück zu Ihren Wurzeln. Was bedeutete dies für Sie?
GM: Zurückzukommen war schön, aber auch schwierig: Ich war nicht mehr die gleiche und kam in einer anderen Rolle zurück. Es brauchte Mut, ich selbst zu sein. Wenn ein Mensch zu sich selbst findet, wird er eckiger und kantiger, aber auch bunter. Diese Authentizität versuche ich auf unsere Firma zu übertragen.

dieser artikel erschien im mai 14 in der fachzeitschrift oliv.
text: manuela ryter, journalistin und texterin, textbüro manuskript, bern 


 

«Reinigen fördert unseren Geist»

 

Ökologie, Homöopathie und Anthroposophie gehören für Beate Oberdorfer 
zur Lebensgrundlage. Für die Co-Geschäftsführerin von Sonett spielt Wasser 
die Hauptrolle beim Putzen und Waschen. 

Frau Oberdorfer, wie sauber ist Ihre Wohnung? 
Beate Oberdorfer: Ich mache gerne sauber. Für mich bedeutet Putzen, dass mein Zuhause danach ordentlich ist. Ich erlebe es deshalb als eine wohltuende Tätigkeit. Reinigen gehört zur geistigen Entwicklung. Die äussere Reinigung ist auch eine innere Reinigung.

Haben Sie schon immer mit ökologischen Mitteln gewaschen und geputzt?
BO: Ja. Mein Elternhaus war ganz stark von der Reformbewegung geprägt, ich bin mit Homöopathie und Ökologie aufgewachsen. 

Sie bezeichnen Wasser als das eigentliche Reinigungsmittel. Wäscht Wasser denn sauber? 
BO: Waschmittel brauchen wir, um die Oberflächenstruktur des Wassers aufzubrechen. So kann das Wasser ins Gewebe eindringen und den Schmutz lösen. Das eigentliche Reinigungsmittel aber ist das Wasser. 

Das Wasser in den Sonett-Produkten wird verwirbelt und energetisiert. Ausserdem werden die Produkte mit balsamischen Zusätzen, die dazu rhythmisiert werden, bereichert. Was bringen diese Vorgänge?
BO: Die Verwirbelung des Wassers dient nicht dazu, dass das Waschmittel im stofflichen Sinne besser reinigt oder besser abbaubar ist. Unser Ziel ist es, dem Wasser einen aufbauenden Impuls zuzuführen. Wasser hat eine eigene Beweglichkeit; ein natürlich fliessender Fluss reinigt sich auch selbst durch Verwirbelung. Auch den balsamischen Zusätzen wie Lorbeer oder Weihrauch prägen wir im Oloid eine Achterbewegung ein, ähnlich der Mäanderbewegung der natürlichen Flussläufe. 

Weshalb tun Sie das?
BO: Weil wir das Wasser mit Putzmitteln schädigen, indem wir dessen Oberflächenstruktur zerstören – da können wir noch so ökologische Produkte verwenden. Wir wollen dem Wasser Lebenskräfte zurückgeben. Man findet dieses Prinzip der Bewegung auch in der Homöopathie und in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft. 

Welche Rolle spielt das Wasser in Ihrem Leben?
BO: Ich versuche, Wasser bewusst zu geniessen. Und ich halte mich gerne an Orten auf, wo Wasser ist. Ich wohne in einem Haus direkt am Bach. Wasser ist ein belebendes Element.

Sie führen eine anthroposophisch geprägte Firma, die keine Gewinn-maximierung anstrebt, sondern behinderte Menschen beschäftigt und Angestellten Kurse in Eurythmie bezahlt. Ist Sonett ein Sozialprojekt? 
BO: Nein. Es ist ein Wirtschaftsunternehmen, in dem Menschen unterschiedlichster Art die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln. Dies ist eine wichtige Aufgabe der Arbeitswelt. 

Welche Rolle spielt Anthroposophie in Ihrem Leben?
BO: Durch sie habe ich verstanden, dass das, was mich umgibt, etwa die Arbeit oder die Menschen um mich herum, sinnvoll ist und dass ich eine Aufgabe in diesem Gefüge habe. Jeder Mensch hat seine Aufgabe. Es geht darum, auch anderen Menschen zu helfen, diese zu finden.

Interview: Manuela Ryter, textbüro manuskript bern

Dieser Text erschien im März in der Biofachzeitschrift Oliv.

Ein Radar für den Vogelschutz
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Windkraft hat Aufwind. Doch für Vögel und Fledermäuse sind die Rotoren oft tödlich. Vogelschützer und Windkraftbetreiber wollen nun auf Technik setzen: Der Radar einer Berner Firma soll die Anlagen abstellen, sobald Zugvögel vorbeiziehen.

Das Prinzip ist einfach: Nähern sich einem Windpark Zugvögel in Schwärmen, werden diese vom Vogelradar erkannt. Erreicht die Vogeldichte einen gewissen Schwellenwert, stellen automatisch alle Turbinen ab. Die Rotoren stehen mehrere Stunden still, bis der Vogelzug vorüber ist. Jeden Herbst und jeden Frühling, bis die vielen Millionen Zugvögel die Schweiz Richtung Süden durchquert haben.

Der Vogelradar soll so Hunderte Zugvögel, aber auch Fledermäuse vor dem Tod bewahren. Wie viele Vögel genau mit den Rotoren der Windturbinen kollidieren, ist nicht bekannt – noch fehlen verlässliche Studien. «Doch das Problem ist zweifellos da», sagt Matthias Kestenholz von der Vogelwarte Sempach, denn die meisten Zugvögel flögen just auf der Höhe der bis zu 120 Meter hohen Turbinen, deren drehende Rotoren sie nicht richtig einschätzen oder in der Nacht übersehen. Und ausgerechnet dort, wo die Zugvögel je nach Wind und Jahreszeit zahlreich fliegen, sind auch die besten Windverhältnisse für die Windenergie: den Juraketten und dem Alpennordhang entlang. Konflikte seien also unvermeidlich, so Kestenholz.

Denn die Windenergie ist im Kommen. Der Bund hat ihr in seiner Energiestrategie viel Gewicht gegeben. Hunderte Projekte werden momentan aufgegleist und die Kantone suchen beflissen nach idealen Standorten für neue Windturbinen. Doch fast alle Projekte kommen mit dem Vogelschutz in Konflikt, viele stehen still, weil Einsprachen von Seiten der Umweltverbände und des Vogelschutzes hängig sind. Und das, obwohl diese die Windkraft im Grundsatz befürworten. Denn auch für die Vogelarten ist der Klimawandel eine der grössten Gefahren – und erneuerbare Energien daher mehr als erstrebenswert. Es wird deshalb auf allen Seiten nach Lösungen gesucht.

«Verkraftbare Investition»

An Lösungen sind auch die künftigen Betreiber von Windparks interessiert, denn mit jeder Einsprache weniger erhält ein Projekt mehr Chancen. So entstand auch der Vogelradar aus der Not heraus. «Als fixe Abschaltzeiten der Turbinen während des Vogelzugs gefordert wurden, suchten wir nach einer Lösung», sagt Urs Seiffert, der als Geschäftsführer der Firma Considerate AG in Köniz auch Windparks entwickelt. Er gründete die Firma Swiss Birdradar Solution AG und entwickelte zusammen mit der Vogelwarte, die seit Jahrzehnten Radare der Schweizer Armee einsetzt, um Zugvögel zu erforschen, den Radar Birdscan. Es gebe Standorte, die den vom Bund festgelegten Grenzwert getöteter Vögel ohne Massnahmen nicht überschreiten. «Die anderen müssen die Anlagen während des Vogelzugs abstellen. Ganz oder dank des Radars nur stundenweise.» Ein Grossteil des Vogelschlags könne so verhindert werden.

Fest eingeplant ist der neue Vogelradar, der ab 2014 verkauft wird, bei der geplanten Anlage auf dem solothurnischen Grenchenberg. «Unser Ziel ist es, möglichst wenig Schäden zu verursachen», sagt Per Just, Geschäftsführer der SWG. Dank dem Radar könne man mit einer verkraftbaren Investition ein potenzielles Umweltproblem lösen – und erst noch davon profitieren, da man so die Abschaltzeiten verkürzen könne. Die Investitionskosten von rund 350 000 Franken würden also rasch amortisiert werden.

Radar löst nicht alle Probleme

Dass der Radar die Akzeptanz der Windenergie erhöhen wird, hofft auch Reto Rigassi von Suisse Eole, dem Verband zur Förderung der Windenergie. Eine solche Massnahme sei jedoch nur an Standorten mit sehr intensivem Vogel-zug verhältnismässig, sagt er. «Laut unserer Einschätzung sind Windparks keine grosse Gefahr für Zugvögel.» Doch man sei bereit, die Befürchtungen ernst zu nehmen. «Wir wollen als Teil der Lösung wahrgenommen werden und nicht als Gegner des Naturschutzes.»

So oder so wird der Radar nicht alle Probleme lösen. Denn nicht nur Zugvögel, sondern auch heimische Vögel wie Störche, Adler oder Milane kollidieren mit den Windturbinen. Um die Standortsuche zu erleichtern, hat die Vogelwarte im Auftrag des Bafu Konfliktpotenzialkarten erarbeitet. Auch die Beeinträchtigung der Lebensräume in zuvor nicht erschlossenen Gebieten macht den Vogelschützern Sorgen. Dies bekam auch das Projekt Schwyberg im Kanton Freiburg zu spüren: Unter anderem wegen der dort ansässigen Birkhühner liegt das Windenergieprojekt auf Eis. Und eine Lösung ist hier nicht in Sicht. 

 

3 FRAGEN AN

Markus Geissmann, Leiter Windenergie beim Bundesamt für Energie (BFE)

Windenergie ist im Aufwind, stösst jedoch auf Widerstand. Wie grün ist die grüne Energie wirklich?

Sie ist vom Material- und Landverbrauch her sehr grün. Kritik ist nur in zwei Bereichen angebracht: der Landschaftswirkung und dem Vogelschutz. Ersteres sollte eigentlich kein Thema sein, denn mit Windkraft wird langfristig nichts verbaut. Den Vogelschutz hingegen müssen wir ernst nehmen und ihn richtig angehen. Er darf aber auch nicht instrumentalisiert werden.

Bringt der Vogelschutz die Energiewende in Gefahr?

Diese Aussage ist zu plakativ, denn es gibt noch viele andere Faktoren – neben dem Landschaftsschutz und der Akzeptanz in der Bevölkerung etwa die Verträglichkeit mit der Zivilluftfahrt oder dem Militär. Doch der Vogelschutz ist ein Problem: Jedes Projekt, das momentan in Planung ist, kommt mit den Vögeln in Konflikt. Sei das, weil ein Standort laut Konfliktpotenzialkarte der Vogelwarte Sempach in einem Konfliktgebiet liegt oder weil ein Anwohner behauptet, in der Nähe gebe es Turmfalken.

Dann wird das Thema Vogelschutz überbewertet?

Was die Zugvögel angeht: ja. Wir sind der Meinung, dass die Windenergieanlagen einen vernachlässigbaren Effekt auf diese Vögel haben. Bei den Brutvögeln haben wir einen starken Zielkonflikt. Hier müssen Massnahmen ergriffen werden. Einen Kompromiss wird es aber geben müssen, denn wir brauchen die Windenergie, wenn wir die Atomkraftwerke ersetzen wollen. Wichtig ist, dass Studien gemacht werden, damit wir endlich wissen, welche Auswirkungen die Windenergie tatsächlich auf die Vögel hat. Das ist ein Risiko für die Windkraft, doch dieser Weg kann auch eine Chance sein.

 Info:

Windkraft als tragender Pfeiler der Energiewende

Heute werden in der Schweiz mit 33 Windturbinen jährlich rund 92 Gigawattstunden (GWh) Energie produziert – fast die Hälfte davon auf dem Mont-Crosin im Berner Jura. Laut Energiestrategie des Bundes sollen es bis 2050 rund 4000 GWh sein, was der Leistung von 800 Turbinen entspricht. Weil der Stromverbrauch weiter zunehmen wird und die Kernenergie wegfällt, braucht es bis 2050 Ersatz für 22 000 GWh Strom. Dieser soll aus einheimischer, erneuerbarer Energie bestehen, 20 Prozent davon aus Windenergie. Zurzeit sind Projekte für über 400 Windturbinen bei der Kostendeckenden Einspeisevergütung KEV, die Windkraft national fördert, angemeldet. 

 

 

Diese Themenseite erschien am 22. Oktober in der BZ-/Bund-Beilage "Erneuerbare Energie".

Text: Manuela Ryter, textbüro manuskript, bern

 

 

 

«Konsequent wären gar keine Noten»
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Kaum publik, fliesst der Lehrplan 21 auch schon in die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer ein. Laut Rektor Martin Schäfer von der PH Bern dürfte künftig die Benotung der Schüler noch zu reden geben.

Martin Schäfer, heute beginnt das neue Semester an der PH Bern: Als erste PH der Schweiz werden Sie die angehenden Lehrerinnen und Lehrer nach dem Lehrplan 21 ausbilden. Vieles ist jedoch noch nicht ausgereift. Ist es nicht zu früh?

Nein. Wir müssen jetzt anfangen, denn die mehr als 400 angehenden Lehrerinnen und Lehrer, die heute ihre Ausbildung an der PH Bern in Angriff nehmen, werden diese 2016 bis 2018 abschliessen - genau dann, wenn der Lehrplan 21 im Kanton Bern eingeführt werden soll.

Der neue Lehrplan soll die Bildungsziele der Schulen in den 21 Deutschschweizer Kantonen harmonisieren. Wird er dieses Ziel erreichen?

Das hängt davon ab, was nun in den Kantonen passiert - ob sich dort der Geist, etwas Gemeinsames zu entwickeln, durchsetzt oder die lokal über Jahre eingeschliffenen Haltungen wie «Wir haben es bisher so gemacht, also machen wir es auch weiterhin so».

Dann stehen die Chancen schlecht? Im Bildungswesen ist der Föderalismus ja bekanntlich sehr stark.

Ich erwarte, dass es viele kantonale Anpassungen geben wird, und sehe daher ein Risiko, dass das Gemeinsame abgeschwächt wird. Das wäre schade, denn der jetzige Lehrplan 21 wäre eigentlich eine gute Basis für die Harmonisierung.

Erziehungsdirektor Bernhard Pulver beschrieb den Lehrplan 21 nicht als Reform von oben, sondern als Weiterentwicklung der Schule von unten. Was heisst das für die PH?

Der Lehrplan 21 wird insbesondere den Unterricht beeinflussen. Er wird aber auch ein Anlass sein, die Schule als Ganzes zu entwickeln. Für die fächerübergreifenden Themen etwa werden die Lehrkräfte stärker zusammenarbeiten müssen. Als Hochschule müssen wir dies den Studierenden aufzeigen.

Bisher schrieben Lehrpläne vor, was eine Lehrerin im Unterricht durchnehmen muss. Nun legt der Lehrplan 21 fest, was ein Schüler nach der 2., 6., 9. Klasse wissen und können muss. Wie werden Sie die Lehrkräfte auf diese sogenannte Kompetenzorientierung vorbereiten?

Indem wir das Grundkonzept des neuen Lehrplans auch für die PH übernehmen. Wir haben die Studiengänge dafür komplett neu entwickelt.

Was haben Sie geändert?

Vieles. Erstens werden wir vom heutigen Tag an der PH noch stärker kompetenzorientiert lehren. Wie die Schulkinder stehen auch unsere Studierenden alle an einem anderen Ort, jede und jeder Einzelne bringt ein anderes Wissen mit - das Studium soll diesen individuellen Wegen Rechnung tragen. Was am Schluss zählt, sind die Kompetenzen, die eine Lehrperson haben muss, nicht der Weg dorthin. Zweitens setzen wir uns - wie künftig die Schulen - mit den überfachlichen Kompetenzen und drittens mit den fächerübergreifenden Themen auseinander. So werden wir etwa die Medienbildung in die Lehre integrieren, wie es künftig an den Schulen vorgesehen ist. Viertens haben wir die Fachbereiche angepasst. Was zum Beispiel auf der Sekundarstufe I bisher als Biologie, Physik und Chemie unterrichtet wurde, heisst Natur und Technik. Die künftigen Lehrkräfte dieser Stufe werden breiter ausgebildet: Bisher absolvierten sie drei Disziplinen, neu vier bis sieben. Ein guter Schritt.

Dann ist die PH gewissermassen ein Lehrplan 21-Versuchskaninchen?

Wir streben konkrete Kompetenzen unserer Absolventinnen und Absolventen an. Doch schaffen wir es auch, diese zu überprüfen? Wenn nicht - wie können wir dies dann von den Schulen erwarten? Längere Praktika sind dazu gut geeignet, doch in der Lehre sind wir noch am Suchen. Dies wird auch für Schulen ein wichtiges Thema sein.

Heisst das, es ist noch unklar, wie Schüler in Zukunft benotet werden?

Ja, diese Frage wird noch zu diskutieren geben. Kompetenzen können nicht ausschliesslich wie Wissen abgefragt und beurteilt werden. Auch wenn heute wieder eine Tendenz zu mehr Noten spürbar ist, wird die Diskussion über die Funktion und Rolle von Noten durch den Lehrplan 21 sicher wieder neu aufgeworfen. Da wird man hoffentlich über die Kantonsgrenzen hinweg nach Lösungen suchen.

Würden Sie die Abschaffung der Noten begrüssen?

Diese Lösung wäre sicher die konsequenteste Umsetzung der Kompetenzorientierung. Aber das würde im Moment kaum auf eine breite Akzeptanz stossen. Ich habe selbst zehn Jahre lang an einer öffentlichen Schule ohne Noten unterrichtet. Für die Schülerinnen und Schüler hatte dieses System keine Nachteile, aber für uns Lehrpersonen war es anspruchsvoller, die Leistungen der Schüler den Eltern zu kommunizieren.

Laut Erziehungsdirektor Pulver gibt es mit dem Lehrplan 21 keine grossen Änderungen im Kanton Bern. Ist der Schritt zur Kompetenzorientierung nicht ein Paradigmenwechsel?

Ich würde nicht von einem Paradigmenwechsel sprechen - der Lehrplan 21 ist eher eine Evolution denn eine Revolution. Denn bereits der Lehrplan 95 enthält Kompetenzziele. Der neue Lehrplan ist da eine Erweiterung.

Gerade was die integrierte Medienbildung angeht, gibt es noch viele Fragezeichen. Und doch wird es gerade in diesem Bereich am meisten Aus- und Weiterbildung brauchen. Ist die PH parat?

Wir werden in der Aus- und Weiterbildung jene Dozierenden mit Medienwissen mit solchen aus andern Fachbereichen zusammenarbeiten lassen. Sie müssen gemeinsam ausarbeiten, was jeder in seinem Fach realisieren kann. Auch in den Schulen sollte jede Lehrperson ihren Anteil leisten können. Ein ganz natürlicher Umgang mit neuen Medien wird in Zukunft dazugehören. Und zwar in jedem Fach. Man darf diese Themen nicht nur Fachleuten überlassen.

Mit dem geplanten Bildungsmonitoring, einer Art Schweizer Pisa-Studie, werden es die Lehrer künftig jedoch schwarz auf weiss haben, wie effizient ihr Unterricht war.

Das ist so. Druck wird jedoch nur entstehen, wenn die Tests nicht richtig aufgebaut sind. Falls nur Wissen abgefragt wird, werden die Lehrpersonen nur noch darauf fokussieren. Sie werden auf Wissensbestände hinarbeiten statt auf Kompetenzen. Das muss verhindert werden.

Lehrplan 21 Mehr Kompetenz

Der Lehrplan 21 soll die Bildungsziele in den 21 Deutschschweizer Kantonen harmonisieren. Die erste Fassung ist in der Vernehmlassung. Die wichtigste Neuerung ist die Kompetenzorientierung. Ausserdem sieht er neben den Fachbereichen, die an die traditionellen Fächer knüpfen, überfachliche Kompetenzen (Eigenständigkeit, Selbstreflexion, Konfliktfähigkeit) und fächerübergreifende Themen wie berufliche Orientierung, Medienbildung und nachhaltige Entwicklung vor. Letztere sollen im Rahmen der anderen Fächer in den Unterricht einfliessen. 20 Prozent der Lektionen können die Kantone selbst gestalten. Mit dem Bildungsmonitoring, einer Art Pisa-Test, werden ab 2016 die Leistungen der Schüler stichprobenartig abgefragt. (mry)

Dieser Artikel erschien am 16. September 2013 im "Bund".

Text: Manuela Ryter, textbüro manuskript, bern

«Jungen Frauen fehlen die Vorbilder»
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Frauen in die Technik – das ist das Ziel der Mint-Klasse am Gymnasium Köniz-Lerbermatt, denn in der Forschung und in Firmen fehlt es an Fachkräften. Prorektorin und Projektleiterin Gabriele Leuenberger erklärt, wie sie junge Frauen für Technik begeistern will.

Frau Leuenberger, Sie sind Deutschlehrerin. Waren Sie als Kind an Glühbirnen und Motoren interessiert?

Gabriele Leuenberger: Ich weiss es nicht mehr. Als Mutter zweier Mädchen weiss ich jedoch, dass das Interesse an den Phänomenen der Natur bei allen Kindern vorhanden ist, nicht nur bei den Buben. Sie wollen alles ausprobieren und verstehen, sie bauen eine Seilbahn, ein Floss oder ein Bienenhotel. Diese kindliche Begeisterung für Technik muss  erhalten und gefördert werden, auch bei den Mädchen.

Die Zahlen sprechen aber eine klare Sprache: Nur 5 Prozent der technisch-naturwissenschaftlichen Lehrstellen werden von Mädchen besetzt. Auch am Gymnasium und im Studium sind Frauen in technischen Fächern stark untervertreten. Weshalb interessieren sich Frauen nicht für Technik?

Frauen interessieren sich für Technik! Aber sie interessieren sich vielleicht für  andere  Fragestellungen als Männer.

Wie erklären Sie sich dann, dass Frauen in technischen Berufen so stark untervertreten sind? 

Das hat eher mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten denn mit den Interessen der Mädchen zu tun. Es gibt zu wenige Vorbilder für die jungen Frauen. Ausserdem  haben technische Berufe ein negatives Image, und Fächer wie Mathematik, Biologie, Chemie und Physik gelten bei vielen als anspruchsvoll und schwierig. Viele junge Frauen schätzen sich falsch ein und trauen sich zu wenig zu. Und umgekehrt werden Frauen in technischen Belangen nicht gleich akzeptiert wie Männer. Da braucht es Aufklärungsarbeit. Und Visionen.

Das Gymnasium Köniz-Lerbermatt hat eine Vision und eröffnet im Herbst 2013 eine Mint-Klasse – im Rahmen des kantonalen Projekts «Bildung und Technik» (der Bund berichtete). Zur Frauenförderung?

Nicht nur. Wir wollen zum einen jene jungen Männer ansprechen, die dem Gymnasium heute den Rücken kehren – der Frauenanteil am Gymnasium liegt bei 60 Prozent. Zum andern wollen wir junge Frauen für Mint-Fächer begeistern – sie sollen dadurch bei der Studien- und Berufswahl echte Wahlmöglichkeiten erhalten. Das ist Gleichberechtigung, doch die muss ihnen vorgelebt werden.

Wie will die Mint-Klasse das Interesse der jungen Frauen an Technik wecken?

Erstens, indem die Mint-Klasse auch andere Interessen zulässt, da die Schwerpunktfächer nach wie vor frei gewählt werden können. Eine vielseitig begabte Gymnasiastin kann also als Schwerpunkt Musik belegen und gleichzeitig in der Mint-Klasse sein. Zweitens, indem die Themen ganzheitlich und vernetzt bearbeitet werden. Das Gymnasium soll sich modernisieren und einen Bezug zur Welt herstellen, Bildung soll relevant und nachhaltig sein. Ich bin überzeugt, dass sich junge Frauen dann viel eher für Technik begeistern lassen.

Was heisst das konkret?

Die Mint-Klasse erhält zusätzliche Lektionen. In diesen sollen fächerübergreifend  Themen bearbeitet und erlebt werden, die einen Bezug zum Alltag und zum Leben haben. Beispielsweise das Thema Energie. Naturwissenschaft und Technik sollen als Abenteuer erlebt werden: Fragen sollen die Schüler motivieren, etwas zu entdecken und die Realität erlebend zu begreifen. Sie sollen möglichst viel selber erforschen, herausfinden und experimentieren. Und über   Werte nachdenken.

Über Werte?

Wird etwa das Thema Solarenergie behandelt, geht es auch um Werte: Was streben wir für eine Welt an? Was ist für uns lebenswert? Wo wollen wir hin?

Inwiefern werden mit einem solchen Unterricht vermehrt Mädchen angesprochen?

Unser Ansatz beruht auf Vernetzung. Dies erlaubt den Mädchen, Zugang zu jenen Fragestellungen zu finden, die sie interessieren und die im sonstigen Unterricht vielleicht zu kurz kommen. Und die Praktika ermöglichen ihnen, Vorurteile abzubauen und Vorbilder kennen zu lernen. Beispielsweise Frauen in der Forschung. Wir sind bereits mit der  Gleichstellungsbeauftragten der Universität Bern im Gespräch.

Müssen Frauen denn zwingend die  gleichen Berufe ausüben wie Männer?

Es gibt auch Studien, die belegen, dass Mädchen halt doch lieber mit Puppen spielen als mit Autos. Für mich ist dies nicht relevant für den  Lebenslauf einer Frau. Ein Mädchen kann mit Puppen spielen und sich trotzdem für Technik interessieren. Die Wirtschaft  braucht Fachkräfte im technischen Bereich, und wir haben das Potenzial der Frauen noch lange nicht ausgeschöpft. Das ist gesellschaftlich bedingt und sollte auch angegangen werden. Man weiss heute, dass ein  erhöhter Frauenanteil gewinnbringend ist für ein  Unternehmen. Es ist wichtig, dass Frauen nun auch dort arbeiten.

Ein Maschinenbaubetrieb, der fast nur Männer beschäftigt und weder Teilzeit-Pensen noch Lohngleichheit anbietet, ist für eine Frau aber nicht  sehr attraktiv. Wie stark ist hier auch die Wirtschaft gefordert?

Unternehmen müssen die Strukturen  anpassen und den Frauen einen Anreiz bieten. Eine Frau soll die Vorteile sehen, bei einem Unternehmen zu arbeiten – sie soll nicht zuerst allen Nachteilen nachgehen müssen. Und sie muss sich  akzeptiert fühlen.

Der Kanton Bern hat nun die Initiative ergriff en. Wird nicht bereits heute zu viel in die Bildung hineingeredet?

Es ist wichtig, dass Bund und Kantone die Stossrichtung angeben und solche Projekte unterstützen. Nur so kann das öffentliche Bewusstsein verändert werden: Es braucht eine positive Grundeinstellung gegenüber der Technik und den  Willen, das Problem nun anzupacken. Das kostet aber Geld, und dieses muss nun zur Verfügung gestellt werden.

MINT - Novum im Kanton Bern

Die Mint-Klasse (Mint steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) am Gymnasium Köniz-Lebermatt – die erste im Kanton Bern – startet 2013. Vorgesehen sind zwei zusätzliche Lektionen pro Woche sowie Praktika in Unternehmen und Wissenschaft. Informationen: www.koeniz-lerbermatt.ch

Dieses Interview erschien am 22. Oktober im "Bund".

Von Freiheit und verlorenen Kindern
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Das fahrende Volk der Jenischen lud von Freitag bis Sonntag zur vierten Fekker-Chilbi in Brienz  - und erinnerte an die Hunderten gestohlenen Kinder der Landstrasse.

Das Bild erscheint unwirklich. Hier die stolzen Chalets an der Brienzer Uferpromenade. Dort der See, der in die herbstliche Bergkulisse mündet. Und dazwischen der Wohnwagen von Martha Minster und ihrem Mann, welcher mit Ach und Krach zwei Zuckerwatten spinnt. Es ist Fekker-Chilbi in Brienz, der Märit der Jenischen, heuer bereits zum vierten Mal. Es ist die Chilbi, die zusammenbringt, was sich nicht kennt. Die Begegnungen ermöglicht zwischen den fahrenden und den sesshaften Schweizern. Denn dass sie Schweizer sind, betonen die Jenischen gerne. Dass sie genauso patriotisch sind. Wenn nicht gar eine Spur patriotischer, archaischer, urschweizerischer.

Die Marktstände der Fekker-Chilbi sehen aus wie aus dem Bilderbuch. Hier findet man nicht die immer gleichen Stände mit Magenbrot und Schuhwichse wie an den Dorfmärkten. Auch keinen Ramsch wie an den Trödlermärkten. An der Fekker-Chilbi verkaufen herausgeputzte jenische Frauen ausgesuchte Raritäten. Wertvolle antike Holzmöbel und alte Scherenschnitte. Retro-Spielautomaten und hochhackige Stöckelschuhe.

Es sind die Trouvaillen der Hausierer. Sie erzählen von der Freiheit der Fahrenden. «Wir sind frei wie die Vögel», schwärmt Alfred Werro. Er fährt wie die anderen 3000 bis 5000 Schweizer Jenischen, die noch nach ihrer traditionellen Kultur leben, von Frühjahr bis Herbst quer durch die Schweiz. Höchstens vier Wochen dürfen sie an einem Standplatz bleiben, dann ziehen sie weiter. An jedem neuen Ort gehen sie von Haustür zu Haustür, fragen nach Antiquitäten, Altmetall und nach Messern zum Schleifen.

Ein Hirsch steht ausgestopft und doch mit seiner gesamten Würde da und wartet, während am Stand gegenüber Hirschwürste verkauft werden. Von weitem erklingt Schwyzerörgeli-Musik. Ländler ist die Musik der Schweizer Jenischen, das Beweisstück ihrer helvetischen Tradition. Am Himmel dröhnen Kampjets und erinnern an das Böse.

Auch die Fekker-Chilbi erinnert in Filmen, mit Kunst und Diskussionen an ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte: 586 jenische Kinder wurden zwischen 1923 und 1972 vom «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute von ihren Eltern getrennt und in Heime, Psychiatrien oder Gefängnisse gesteckt. Sie sollten zu «brauchbaren Gliedern der Gesellschaft» erzogen werden. Die «Vaganität» musste ausgerottet werden. Wer seine Kinder noch hatte, war jahrzehntelang auf der Flucht. «Wir konnten nicht zur Schule, die Angst war immer da», erzählt Werro, an seinen Marktstand gelehnt.

Nicht nur er – fast alle Jenischen an der Fekker-Chilbi sind direkt oder indirekt betroff en. Die Angst vor den «Sesshaften» wird an die nächsten Generationen weitergegeben. Die Fekker-Chilbi sei deshalb auch da, um die Fahrenden den «Sesshaften» wieder anzunähern und nicht nur umgekehrt, sagt Organisatorin Sandra Bosshart von der Radgenossenschaft der Landstrasse. Gestoppt wurde das «Hilfswerk» erst vor 40 Jahren (siehe Interview). Doch da war es für die meisten Betroffenen schon zu spät. Zurück blieben irre Mütter und verwundete Seelen.Noch heute tauchten immer wieder ehemalige «Kinder der Landstrasse» auf, die auf der Suche nach ihren Wurzeln seien, sagt Werro.

In Martha Minsters Topf kochen Schweinswürste, und auf den Festbänken sitzen alte Bekannte. Auch sie war ihren Eltern gestohlen worden. Die 71-Jährige schluckt leer. Ihre Geschichte ist lang und traurig. Ihre Kindheit ein Drama. Die Familienzusammenführung ein Desaster. Immerhin hatte sie ihre Mutter noch kennen gelernt. «Ich konnte ihr die Frage stellen, die mich während meiner Kindheit auffrass: weshalb sie mich nie besucht hatte.»

Nebenan dreht das fast schon historische Karussell seine Runden. Drei Kinder kreischen vor Freude.

Zur Sache:

«Unter dem Teppich»

Herr Caprez, können Sie sich noch daran erinnern, als eine jenische Mutter 1971 bei Ihnen im Büro stand und ihre Geschichte erzählte?

Ja. Ich konnte nicht glauben, dass das wahr war: Die Pro Juventute habe ihr alle fünf Kinder weggenommen, weil sie eine Jenische sei und im Wohnwagen leben wolle. 1952 wurde sie schwanger verhaftet. Das Kind wurde ihr nach der Geburt umgehend weggenommen. 

Die Pro Juventute war damals eine angesehene Schweizer Institution. Die Frau hingegen war bereits vor Bundesgericht abgeblitzt. Weshalb glaubten Sie ihr?

Weil ich überzeugt war, dass sie nicht lügt. Sie erzählte alles so eindrücklich – solche Details kann man nicht erfi nden. Ausserdem fand ich bald glaubwürdige Zeugen.

Wie waren die Reaktionen auf den ersten Artikel im «Beobachter»?

Es gab extrem viele Reaktionen, und fast alle waren gegen mich. Auch die Presse

sprang nicht auf. 

Wann kam die Wende?

Erst in den 80er-Jahren. Der neue Generalsekretär der Pro Juventute zeigte mir den Aktenberg über die Kinder der Landstrasse: Jeder abgefangene Brief, jedes Detail über die knapp 600 Kinder war magaziniert. Da kam alles aus, und es ging eine Welle der Entrüstung durch die Schweiz.

Wie kam es, dass dieses Unrecht nicht vorher an die Öff entlichkeit gelangt war?

Die Pro Juventute war eine heilige Kuh, und das «Hilfswerk» wurde von Bund, Kantonen und Gemeinden getragen. Man schaute das Vagantentum als Krankheit an, die sich auf Kinder überträgt. Die Propaganda zeigte stark verwahrloste Kinder – die Bevölkerung meinte, das Projekt sei eine gute Sache. Die echten Fotos zeigten dann ein ganz anderes Bild der Jenischen.

Was passierte danach mit den auseinandergerissenen Familien?

Man führte einzelne Familien zusammen. Es war eine Katastrophe, eine riesige Enttäuschung. Den Kindern war bisher erzählt worden, ihre Mütter hätten sie verlassen. Dieses falsche Bild der Eltern liess sich nicht einfach so ändern.

Haben die Jenischen seither wieder an Selbstvertrauen gewonnen?

Ja. Die Alten sind zwar immer noch zusammengestaucht, aber die Jungen haben mehr Selbstbewusstsein. Insgesamt geht es dieser Minderheit jedoch nicht so gut. Es fehlt an Standplätzen – und damit an Lebensraum –, und die Industrialisierung hat ihre Tätigkeiten weggeputzt. Wer lässt heute noch Messer schleifen?

Heuer feiert die Pro Juventute das 100-jährige Bestehen. Das dunkle Kapitel wurde an der 1.-August-Feier auf dem Rütli am Rande thematisiert. Reicht das?

Nein, das Thema wird nach wie vor unter den Teppich gekehrt. Die Pro Juventute könnte sich beispielsweise einsetzen, die Kinder der Landstrasse in die Schulbücher zu bringen.  Denn dort gehört ihre Geschichte hin. (mry)

Dieser Text erschien am 8. Oktober im «Bund.» (pdf)

Die innere Uhr gibt den Takt an
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Jeder Mensch hat seine innere Uhr. Stimmt diese wie bei der Nachtarbeit nicht mit der «äusseren» Uhr überein, wird er krank. Noch hat die Wissenschaft keine Lösung gefunden: In Sachen Schichtarbeit steckt die Forschung in den Kinderschuhen, wie eine Tagung zeigt.

Es ist mitten in der Nacht, doch die Lichter in der Fabrik brennen. Die riesigen Maschinen laufen Tag und Nacht, sie abzustellen wäre ökonomisch nicht vertretbar. Die Fabrikangestellten müssen auch in der Nacht an die Arbeit. Auch der Herzkranke im Spital muss während 24 Stunden betreut werden. Flugzeuge landen um Mitternacht, Züge werden nachts gewartet, Zeitungen nachts gedruckt. Über 500000 Menschen in der Schweiz arbeiten, während die anderen in ihren Betten liegen: Sie arbeiten in Schichten und lösen sich ab, damit der Betrieb während 24 Stunden läuft.

Neben sozialen hat dieser unregelmässige Rhythmus auch ökonomische und gesundheitliche Folgen: In der Nacht passieren viel mehr Arbeitsunfälle und Fehler. Viele Betroffene leiden unter Schlafstörungen und Verdauungsproblemen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie erkranken – etwa an Krebs oder Depressionen – ist um ein Vielfaches grösser als bei Angestellten mit normalen Arbeitszeiten. Der Grund dafür ist das Tageslicht, das ihnen in der Nacht fehlt und sie tagsüber nicht schlafen lässt. Doch weshalb ist Licht für die Gesundheit so wichtig? Welche Rolle spielt es am Arbeitsplatz? Die Tagung «Licht und Nachtarbeit» in Winterthur, organisiert durch das Nationale Forum Nachtarbeit, ging diesen Fragen nach.

Innere Uhr gibt Tagesablauf vor

«Alles hat seine zeitliche Ordnung», sagte Professorin Anna Wirz-Justice, die seit Jahren am Zentrum für Chronobiologie in Basel über die biologischen Rhythmen forscht: «Jedes einzelne Lebewesen hat seine innere Uhr.» Auch der Schlaf-Wach-Zyklus ist synchronisiert: Es ist die innere Uhr, die den Menschen dirigiert und bestimmt, wann Zeit zum Schlafen, Aufwachen, Essen, Verdauen oder Entleeren ist. Mit der Ausschüttung des Hormons Melatonin sorgt sie dafür, dass man abends müde wird, ins Bett geht und einschläft. Und am Morgen gibt sie dem Körper mit Cortisol das Signal, aufzuwachen und wach zu bleiben. Und dies exakt im 24-Stunden-Rhythmus.

Die Sonne richtet die innere Uhr

So perfekt die innere Uhr ist, so tückisch ist sie für die moderne Gesellschaft. Denn sie richtet sich nicht nach Arbeitszeiten oder sozialem Umfeld, sondern in erster Linie nach der Sonne: Melatonin wird mit dem Verschwinden des Tageslichts ausgeschüttet, Cortisol mit dem Hellerwerden. Das führt dazu, dass in den meisten Schlafzimmern der Wecker lange vor der inneren Uhr schrillt. Bei Menschen, die in der Nacht arbeiten, ist die Differenz riesig, was für sie verheerende Folgen hat: Wegen der verkehrten Arbeitszeiten sind sie einem dauernden Jetlag ausgesetzt – ähnlich wie nach einem Flug von Zürich nach New York: «Sie arbeiten, wenn das Hormon Melatonin den Körper auf Schlaf trimmt. Und sie gehen ins Bett, wenn der hohe Cortisolspiegel dafür sorgt, dass sie wach bleiben», sagt Wirz-Justice. Doch während sich der Körper nach einem langen Flug schon nach wenigen Tagen der neuen Aussenzeit anpasse, bleibe die Uhr des Nachtarbeiters verstellt, da kein Licht vorhanden sei, nach dem sich der Körper richten könne: «Der Zeitpunkt der Lichtexposition ist massgebend.»

Die Bedeutung des Lichts als Zeitgeber des Menschen erkläre, weshalb in der Nacht besonders viele Arbeitsunfälle und Fehler passierten. Und auch, weshalb viele Schichtarbeiter nach der Arbeit trotz hohem Schlafdruck unruhig und lediglich vier bis fünf Stunden schlafen könnten. Die Folge davon ist ein chronischer Schlafmangel, da der Körper sich weder nachts noch tagsüber regenerieren kann.

Licht gegen die Müdigkeit

Zwar kann die Sonne am Arbeitsplatz nachgeahmt werden: Intensives Licht in den Arbeitsräumen und spezielle Lichtbehandlungen während der Arbeitspausen werden bereits heute gegen die Müdigkeit der Nachtarbeiter eingesetzt, wie an der Tagung mehrere Fachleute ausführten. Auch Verdunkelungsbrillen für den «Feierabend am Morgen» gibt es, damit der Körper am Morgen auf Schlaf umstellt. Die moderne Lichtgestaltung richtet sich auch mehr und mehr nach den Erkenntnissen der Chronobiologie: Dank Lampen, die das Licht je nach Tageszeit verändern, richtet sich die innere Uhr nach dem künstlichen Licht, das die Nacht für den Körper zum Tag macht, und verschiebt sich nach und nach. Damit könnten Fehler und Unfälle reduziert werden, sagt Wirz-Justice. Das sei gut fürs Unternehmen. Für den Arbeitnehmer allerdings sei auch diese Lösung nicht befriedigend, denn «schon beim nächsten Schichtwechsel kommt er in den nächsten Jetlag».

Schichtarbeit für Nachtmenschen

Die Chronobiologie sieht die Lösung denn auch eher in individuelleren Arbeitszeitmodellen. Denn wie die Forschung der vergangenen Jahre gezeigt hat, ist es angeboren, ob ein Mensch Nachtarbeit erträgt oder nicht: Es gibt frühe und späte «Chronotypen». Auf der einen Seite die Lerchen, die Frühaufsteher, und auf der anderen die Eulen, die Nachtmenschen, die spät einschlafen und spät aufwachen, falls kein Wecker klingelt. Zwar ist die innere Uhr auch durch Alter und Geschlecht bedingt – Kinder sind eher frühe Typen, Teenager sind Eulen, alte Menschen Lerchen und Männer sind eher Eulen als Frauen. Auch ob jemand ein Langschläfer ist oder nicht, ist angeboren und kann wie die innere Uhr kaum von aussen beeinflusst werden. «Chronotyp und Schichtarbeit müssen deshalb dringend synchronisiert werden», fordert Wirz-Justice. Frühe Chronotypen könnten unmöglich Nachtschicht machen. Und späte sollten nicht für die Frühschicht eingeteilt werden, da sie sonst nicht zu genügend Schlaf kommen.

Doch wie findet ein Arbeitgeber heraus, welche Schicht zu welchem Mitarbeiter passt? Die Wissenschaft arbeite an Modellen, doch noch habe man zu wenige Ergebnisse, sagte Till Roenneberg, Professor der Chronobiologie aus München, an der Tagung. Bisherige Studien seien unbrauchbar, da sie die innere Uhr als Faktor nicht beachteten. «Es braucht deshalb noch viel Feldarbeit.» Klar sei jedoch: Die Spannweite der angeborenen Tagesrhythmen sei riesig, die Individualität gross. Grundsätzlich gebe es jedoch mehr Nachtmenschen als Frühaufsteher. Doch nicht nur die Gene, auch das Licht bestimmt, wann wir aufstehen: Im Osten der gleichen Zeitzone, wo die Sonne früher aufgeht, stehen Menschen früher auf als im Westen. Und in der Stadt stehen sie später auf als auf dem Land, wo sich die Menschen häufiger draussen aufhalten und der Sonnenaufgang eher sichtbar ist.

Nachtarbeit schadet Gesundheit

Auch wenn die Wissenschaft erst wenig über die Folgen von Nacht- und Schichtarbeit auf den Menschen aussagen kann – eines wisse man ohne jeden Zweifel, sagt Roenneberg: «Schichtarbeit ist gesundheitsschädigend.» Je stärker die verschiedenen Rhythmen auseinanderklafften, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden. Roenneberg legte den anwesenden Arbeitgebern deshalb nahe, sich für mehr Grundlagenforschung und bessere Arbeitsbedingungen zu engagieren. Denn sonst könne es teuer werden: «Rauchen ist freiwillig – trotzdem gingen viele Raucher mit Erfolg gegen Tabakfirmen vor Gericht. Was passiert, wenn plötzlich eine Welle von Schichtarbeitern vor Gericht geht?» Denn: Schichtarbeiter seien nicht selber schuld, wenn sie erkranken.

Interview: ​

«Ich plädiere für spätere Arbeitszeiten»

Nicht nur Schichtarbeiter sind vom «sozialen Jetlag» betroffen – auch viele Nachteulen können in unserer Gesellschaft nicht nach ihrer inneren Uhr leben. Anna Wirz-Justice fordert deshalb spätere Schul- und individuell flexible Arbeitszeiten.

«Bund»: Unregelmässige Arbeitszeiten betreffen nicht nur Schichtarbeiter: Manager jetten um die Welt, Studenten lernen in der Nacht, in vielen Firmen sind Überstunden an der Tagesordnung. Müssen wir mit weniger Schlaf auskommen?

Anna Wirz-Justice: Ja. Arbeit, Freizeit, Sport, Familie – es wird immer mehr, was in 24 Stunden Platz haben muss, gespart wird nur beim Schlafen. Wir leben in einer 24-Stunden-Dienstleistungsgesellschaft, dies lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Schichtarbeit und Überstunden sind der Preis, den wir dafür bezahlen. Es trifft aber nicht alle gleich: Frühaufstehern geht es in unserer Gesellschaft besser als Eulen, die spät ins Bett gehen und trotzdem früh raus müssen. Letztere leben wie Schichtarbeiter in einem ständigen Jetlag. Die Folge ist ein konstanter Schlafmangel – um diesen Schlaf nachzuholen, braucht es rund drei Wochen Ferien.

Reden Sie aus Erfahrung?

Ja, ich bin eine extreme Eule. Ich habe lange Zeit gelitten, als ich jeden Morgen früh im Büro stehen musste. Heute bin ich freie Mitarbeiterin und kann wählen, wann ich aufstehen will. Normalerweise zwischen neun und zehn Uhr, ins Bett gehe ich zwischen ein und zwei Uhr, so bin ich ausgeschlafen.

Weshalb ist die innere Uhr so wichtig?

Weil unsere gesamte Physiologie und unser Verhalten darauf abgestimmt ist. Sie ist eine fantastische Zeitorganisation und sagt voraus, was wir als nächstes tun. Sie ist auch eine Art Energieeffizienz: Sie sorgt dafür, dass wir zur richtigen Zeit die richtige Funktion ausüben.

Es gibt unter uns mehr Eulen als Lerchen – die Schweizer gelten jedoch als Frühaufsteher.

Ja, wir leben in einer Lerchengesellschaft, obwohl viel mehr Menschen Eulen sind, als man denkt. Es gilt auch nach wie vor als faul, wer morgens länger schläft und später ins Büro kommt. Dabei sieht niemand, was diese Leute abends leisten. Für Lerchen dagegen ist Nachtarbeit schwierig.

Gibt es keine Möglichkeit, sich an die Arbeitszeiten anzupassen?

Man kann sich anpassen, aber am Wochenende müssen die Schlafdefizite kompensiert werden. Dies kann also nur eine Übergangslösung sein, denn die innere Uhr passt sich nicht an: Sie ist angeboren und wird zusätzlich von Geschlecht und Alter beeinflusst, sie lässt sich also nicht einfach so verstellen. Einzig durch Licht lässt sich die innere Uhr verschieben.

Müssten also die Arbeitszeiten an die Menschen angepasst werden?

Ja. Es braucht dringend individuellere Arbeitszeiten, die es ermöglichen, den Tagesablauf des Einzelnen besser mit seiner inneren Uhr abzustimmen. Gerade für Jugendliche, die typischen Eulen in unserer Gesellschaft, müssten Arbeits- und Schulzeiten angepasst werden. Wahrscheinlich könnten viele Jugendprobleme gelöst werden, wenn die jugendlichen jede Nacht eine Stunde länger schlafen könnten. Beispielsweise beim Rauchen wurde ein Zusammenhang festgestellt: Je höher der soziale Jetlag, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand raucht. Schlafmangel ist also ein Risikofaktor und diesem sind fast alle Jugendlichen ausgesetzt. Dass sie früher ins Bett gehen, kann man hingegen nicht von ihnen erwarten: Ihre innere Uhr lässt sie nicht einschlafen. Wenn sie am Wochenende bis nachmittags im Bett liegen, hat dies also nichts mit Faulheit zu tun. Sie müssen den verpassten Schlaf nachholen.

Welche Folgen kann Schlafmangel noch haben?

Konzentration, Motivation und Leistungsfähigkeit könnten mit mehr Schlaf gefördert werden. Denn wer nach dem eigenen Rhythmus schläft, hat einen besseren Schlaf. Dies ist auch für den Lernprozess wichtig, denn Schlaf dient der Gedächtnisverarbeitung: Wer zu wenig oder schlecht schläft, kann weniger aufnehmen. Ein Grund mehr für die Einführung späterer Schul- und Arbeitszeiten.

Sie sind also generell für spätere Arbeitszeiten?

Eine Spätschicht für alle wäre sicher besser als eine Frühschicht – jedenfalls aus gesundheitlicher Sicht. Sozial wäre sie jedoch nicht verträglich. Das ist unser Problem: Was gut ist für die Gesundheit, ist nicht unbedingt gut fürs soziale Umfeld. Ich plädiere trotzdem für spätere Arbeitszeiten – wir sind keine Bauern mehr, es gibt keinen Grund, den Tag so früh zu beginnen.

Wird dem Schlaf in unserer Gesellschaft zu wenig Bedeutung beigemessen?

Ja, Schlaf ist ein Problem in unserer Gesellschaft. Die Bedeutung des Schlafs – und damit der inneren Uhr – kann jedoch gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Es würde der Gesellschaft viel mehr bringen, wenn jeder nach seinem eigenen Rhythmus leben würde, als wenn jeder zur gleichen Zeit am Arbeitsplatz ist. Denn chronischer Schlafmangel hat auch wirtschaftliche Folgen: Es passieren mehr Fehler und Unfälle und die Gesundheitskosten steigen. Individuelle Schichten würden auch verhindern, dass Leute wegen Geld oder eines guten Jobs gegen ihre Uhr arbeiten. Noch kann die Wissenschaft keine Lösungen bieten. Je mehr wir wissen, wie wichtig Schlaf und die innere Uhr sind, müssen wir aber bereit sein, Lösungen zu finden.

ZUR PERSON

Anna Wirz-Justice forscht am Zentrum für Chronobiologie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel über die biologischen Rhythmen. Sie beschäftigt sich mit Licht und Schichtarbeit und der Schlaf-Wach-Regulation des Menschen.

​Text und Interview: Manuela Ryter

Diese zwei Texte erschienen am 18. Juni 2008 im "Bund".​

«Ich habe mein Glück gefunden»

Bruno Risi gibt noch einmal Gas: In «Beijing 2008» steht der weltbeste Sechstage-Radrennfahrer und Olympiazweite bereits zum fünften Mal an Olympia am Start. Das einzige, was dem 39-jährigen Urner noch fehlt, ist Olympiagold. Im Zentrum steht bei ihm heute jedoch seine Familie: Der «Uristier» ist ruhiger geworden – und damit auf der Rennbahn umso gefährlicher.

Bruno Risi, an den Sechstagerennen sind Sie der ewige Gewinner. Ihren Standardpartner wechselten sie in 17 Profijahren nur einmal. Sie zogen nie aus dem Kanton Uri weg, tragen seit jeher die gleiche Frisur. Sie sind kein Fan von Veränderungen.

Ich bin in einem konservativen Kanton aufgewachsen. Wir sind keine Hinterwäldler hier hinten, aber man ist etwas alteingesessen, da gibt es immer einen gewissen Aspekt an konservativem Denken. Das hängt wohl mit der Erziehung zusammen. Oder mit den Bergen.

2006 trat ihr langjähriger Partner Kurt Betschart vom Rennradsport zurück. Seit 2003 fahren Sie – nicht weniger erfolgreich – mit Franco Marvulli. Bedeutete dieser Wechsel eine Zäsur in ihrem Leben?

Nein, es war eher ein fliessender Übergang. Wir sind nur durch Zufall zusammen gekommen, weil sich Marvullis Standardpartner verletzte und ich für die WM in die Bresche sprang. Wir wurden auf Anhieb Weltmeister. Wir haben von Anfang an bestens harmoniert, technisch und menschlich. Betschart hatte irgendwann keine Freude mehr am Rennsport. Wir waren wirklich ein erfolgreiches Team. Heute herrscht jedoch Funkstille. Das ist vielleicht gut so. Wir hatten so viel Zeit zusammen verbracht, wir waren gesättigt voneinander, wie ein altes Ehepaar. Ich musste ihn nur anschauen und wusste, wie er drauf ist. Auch Sie sind nun bereits seit 17 Jahren Profisportler.

Hatten Sie noch nie genug?

Es gab in meiner Karriere auch Momente, in denen ich alles hinschmeissen wollte. Dann kamen die Kinder und mit ihnen neue Herausforderungen und neue Motivation. Grundsätzlich habe ich aber ganz einfach Freude am Velofahren und an unserer schönen Welt. Ich habe Freude, mein Hobby leben zu können. Und an der Landschaft. Uri ist der schönste Kanton der Schweiz, in der Berglandschaft steckt Energie. Ich geniesse es immer noch, eine Strecke zu fahren, die ich schon hundert Mal gefahren bin. Die Landschaft ist meine Energiequelle. Deshalb kam es auch nie in Frage, von hier wegzuziehen, auch wenn es trainingsmässig viel bessere Gebiete gäbe.

Und die immergleichen Runden, die Sie während eines Sechstagerennens auf der Bahn drehen? Ist das nicht monoton?

Nein, da kommt nie Langeweile auf. Es läuft so viel auf der Bahn! Während eines Rennens nimmt man die Umgebung nicht wahr, da spielt es keine Rolle, ob man auf der Strasse fährt oder auf der Bahn. Am Sechstagerennen sind wir auch Entertainer. Ein Strassenfahrer fährt von A nach B, um als erster anzukommen. Wir fahren auch fürs Publikum, das bezahlt hat. Wir spielen mit den Gegnern, das macht alles viel spannender, wir wollen dem Publikum etwas bieten. Etwa in Zürich, wenn Marvulli und ich eine Attacke machen, ist das ganze Publikum hinter uns, das bekommen wir natürlich mit: Wir bringen den Funken ins Publikum. Und wenn die Halle kocht, kommt der Funke zurück. Das ist Adrenalin, das macht süchtig! Die Beine sind schwer, das Rennen ist hart, aber wenn das Publikum auf den Bänken steht und ich weiss, es ist wegen uns, dann bekomme ich Hühnerhaut.

Also denken Sie noch nicht ans Aufhören?

Doch. Ich werde im September 40, auch ich muss einmal aufhören. Es ist schade, wenn man nach so einer Karriere erst aufhört, wenn der Erfolg nachlässt. Ich werde noch alles geben bis zwei Jahre nach den Olympischen Spielen in Peking. Dann höre ich auf mit den Rennen. Mit Velofahren selbstverständlich nicht.

Und danach?

Danach kommt wahrscheinlich ein riesiges Loch. [lacht] Nein, ich habe drei Kinder, eine wunderbare Familie. Ich freue mich sehr, wieder mehr Zeit für sie zu haben. Sie mussten sehr häufig auf mich verzichten. Und immer, wenn ich aus einem Trainingslager zurückkehre und sehe, wie sich die Kinder wieder verändert haben, wird mir bewusst, wie viel ich verpasse. Das stimmt mich melancholisch.

Wie werden Sie Ihren Ehrgeiz ausleben, wenn Sie nicht mehr Profirennfahrer sind?

Ich weiss noch nicht, was ich heute in zwei Jahren machen werde. Wahrscheinlich erst einmal eine Auszeit: Zeit haben, um den Kopf zu leeren und um über mich und meine Ziele nachzudenken. Auf jeden Fall wird es ein Neufanfang sein. Je näher der Zeitpunkt kommt, desto öfter denke ich darüber nach. Es ist eine Ungewissheit, aber auch eine Chance. Und eine Motivation, das Ansehen und den Erfolg, den ich jetzt im Sport habe, später in einem anderen Bereich wieder zu erreichen. Im Zentrum wird jedoch meine Familie stehen.

Hat Sie die Familie verändert?

Ja, enorm. Velofahren ist meine Leidenschaft, aber heute ist meine Familie mein Lebensmittelpunkt – Velofahren ist mein Beruf. Seit ich Kinder habe, gehe ich ganz anders an ein Rennen heran.

In welcher Hinsicht?

1996 in Atlanta und 2000 in Sydney wollte ich so viel, Velofahren war der Mittelpunkt in meinem Leben, ich setzte mich selbst enorm unter Druck. Seit ich eine Familie habe, ist der sportliche Erfolg relativ: Alles rückt ins richtige Verhältnis. Das gibt mir Halt, eine innere Ruhe. Und die brauche ich. Ich bin immer noch ehrgeizig, aber ich habe nicht mehr die innere Unruhe, die mich immer dann versagen liess, wenn ich es hätte bringen sollen. Heute gehe ich ans Rennen und gebe mein Bestes. Aber was zählt, ist die Familie. Wenn ich nach Hause komme, strahlen die Kinder – ob ich nun Weltmeister bin oder nicht. Für sie spielen Resultate keine Rolle.

Gehen Sie seither auch besser mit Niederlagen um?

Auf jeden Fall. Schulterklopfer gibt es viele, wenn man Erfolg hat. Wenn er ausbleibt, ist es die Familie, die für dich da ist. Ich war nicht immer erfolgreich, auch ich hatte sehr schwierige Erlebnisse. In Atlanta und Sydney habe ich kläglich versagt, obwohl ich der Favorit war. Da ist für mich die Welt zusammengebrochen, ich hatte sehr lange, um diese Niederlagen zu verarbeiten. Ich war so enttäuscht, dass ich meinen eigenen Erwartungen nicht gerecht wurde. Aber als Sportler muss man lernen zu verlieren und frisch anzufangen. Der Sport ist deshalb eine enorm gute Lebensschule. Für mich war es jedoch sehr schwierig, dies zu lernen – ich bin wirklich sehr ehrgeizig. Ich konnte schon als Bub nie verlieren.

In «Beijing 2008» werden Sie wieder als Favorit starten – und bereits zum fünften Mal an Olympia. Die Medaille, die in Ihrem Palmarès noch fehlt, ist Olympiagold. Wird der Druck diesmal nicht besonders hoch sein?

Für mich als Sportler wäre Gold natürlich das «Pünktli auf dem i». An Olympia Erfolg zu haben, ist das Höchste, was du als Sportler erreichen kannst, das ist genial. Für meinen Ehrgeiz wäre Gold deshalb sehr wichtig. Aber: Mit meiner Familie habe ich mein Glück, mein «Inseli» gefunden. Ich muss mein Glück nicht mehr im Sport suchen.

Text: Manuela Ryter

Dieses Interview erschien am 17. April 2008 im swiss sport 02/08, Magazin von Swiss Olympic.

«Tamilen sollen Dialog entfachen»
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In Belp wurde der geplante hinduistische Tempel verhindert – der Verein Aum Shakti kämpft jedoch weiter.

In der Belper Aemmenmatt kann der hinduistisch-tamilische Verein Aum Shakti seinen Tempel nicht bauen. Die Tamilen werden nun nach einem neuen Standort suchen – im Stillen, um erneuten Widerstand zu verhindern.

Mehr als ein Jahr lang hatte der Verein Aum Shakti an seinem hinduistischen Tempelprojekt, das in der Belper Aemmenmatt geplant war, gearbeitet. Doch dann kam in Belp Widerstand auf und der Belper Gemeinderat entschied sich kurzfristig, just jenes Stück Land zu kaufen, auf dem der Tempel geplant war – mit der Begründung, Belp müsse wieder über Landreserven verfügen, um «die bauliche Entwicklung besser steuern zu können», wie der Belper Gemeindepräsident Rudolf Neuenschwander (sp) sagte. Vor zwei Wochen bewilligte die Belper Bevölkerung stillschweigend den politisch brisanten Landkauf. Das Projekt der Tamilen war damit innert kürzester Zeit und ohne jeden politischen Widerstand vom Tisch (der «Bund» berichtete).

«Wir werden nicht locker lassen»

«Die Gemeinde wollte uns das Land wegkaufen», sagt Dinesh Zala, der das Bauprojekt leitet. Rechtliche Schritte habe man jedoch nicht gegen die Gemeinde eingeleitet, sondern gegen die Verkäuferin, die Mavena AG. Diese habe ihnen das Grundstück versprochen gehabt und die Verhandlungen plötzlich abgebrochen, sagt Zala. «Wer bezahlt uns jetzt die 200 000 Franken, die wir in die Projektierung investiert haben?» Die Mavena begründete den Schritt gegenüber dem «Bund» damit, Aum Shakti habe es unterlassen, den Kaufvertrag rechtzeitig zu unterschreiben. Laut Zala wurden die Verhandlungen jedoch wegen einer Projektänderung durch die Mavena verzögert.

«Wir sind nach wie vor am Land interessiert», sagt Zala. Man werde deshalb bei der Gemeinde anklopfen: «Wir werden nicht locker lassen.» Laut Neuenschwander hat die Gemeinde Belp jedoch «nicht im Sinn, das Land in nächster Zeit zu verkaufen». Eine Anfrage der Tamilen werde man aber prüfen.

Projekt war zonenkonform

Man habe auch bereits mit der Suche nach einem neuen Standort begonnen, sagt Zala. Wo, will er jedoch nicht sagen – man wolle verhindern, «dass dies noch einmal passiert». Künftig werde er eine Bestätigung der Gemeinde, dass sie nicht gegen den Bau vorgehen werde, verlangen. In Belp hatte er nur eine Bauvoranfrage gemacht, um sicherzugehen, dass das Projekt zonenkonform sei. «Die Antwort fiel positiv aus, doch nun wurde der Bau trotzdem verhindert.»

Ohne Dialog keine Integration

Auch in der Gemeinde Lyss, wo heute ein Teil des Vereins Aum Shakti zu regelmässigen Treffen und Gottesdiensten zusammenkommt, hat man für das Vorgehen der Gemeinde Belp wenig Verständnis: Sie verstehe zwar, dass sich die Belper bedrängt fühlten, sagt Ursula Lipecki, SP-Fraktionspräsidentin und Ko-Leiterin der Integrationsgruppe in Lyss. «Aber es ist sehr beleidigend für die Tamilen, wenn man das Thema nicht einmal diskutiert.» Es sei in einer Demokratie hoch problematisch, wenn eine Gemeinde die Leute einfach vor den Kopf stosse, ohne den Dialog zu suchen. «So findet keine Integration statt», sagt Ursula Lipecki – mit diesem Vorgehen, «einer Art Rassismus», werde das Problem vielmehr an eine andere Gemeinde abgeschoben.

«Jetzt Verbündete finden»

Es sei jetzt jedoch auch an den Tamilen selber, den Dialog aufzunehmen, statt sich als Opfer zu fühlen und sich zurückzuziehen, sagt Usula Lipecki: Sie hätten bisher in der Schweiz sehr versteckt gelebt, «nun wollen sie etwas von der Gemeinschaft Schweiz, also müssen sie sich mit der Gesellschaft, in der sie leben, auch auseinander setzen, sich öffnen und Verbündete finden».

In Lyss unauffällig

Viele Mitglieder von Aum Shakti seien in Lyss sesshaft, «ihr Anspruch auf einen Raum, wo sie ihre Religion ausüben können, ist deshalb legitim», sagt Lipecki. Der tamilische Verein falle in Lyss nicht negativ auf, bestätigt Gemeindepräsident Hermann Moser (fdp). Hier habe dieser noch keine Anfrage für einen Landkauf gemacht. Dass die Suche nach geeignetem Bauland auch in Lyss nicht einfach wäre, räumt Moser allerdings ein: «Unser Zonenplan hat keinen Platz für Kultusbauten vorgesehen.» Wenn jedoch eine Anfrage auf den Tisch läge, «müsste man dies prüfen», sagt Hermann Moser – bei der nächsten Ortsplanung werde die Gemeinde das Thema Kultusbauten jedenfalls mit Sicherheit diskutieren. Seiner Meinung nach sollten solche Bauten möglich sein, «sie sollten jedoch der Gemeindegrösse angemessen sein».

Tempel für die Göttin

Ein Kleinprojekt plant Aum Shakti allerdings nicht. Während sich der Verein – nach der Göttin benannt, die er anbetet – in der Gemeinde Lyss in einem kleinen Raum trifft, würde der Tempelneubau auch weiteren Vereinsgruppen zur Verfügung stehen: Geplant war in Belp ein Kubusbau mit einer kleinen Kuppel, in dem sich einmal wöchentlich 250 bis 300 Personen treffen würden. Während der Woche würden ausserdem vierzig bis fünzig Knaben und Mädchen in tamilischer Schrift, Sprache und Kultur unterrichtet.

Interview mit Mathias Kuhn, Assistent am Institut für öffentliches Recht der Universität Bern.​

«Gemeinde ist keine Investorin»

«Bund»: Herr Kuhn, Sie sind Mitautor einer Studie über die «bau- und planungsrechtliche Behandlung von Kultusbauten». Wo liegen die Konflikte?

Mathias Kuhn: Das Hauptproblem ist, dass nur wenige Gemeinden Zonenpläne haben, die Kultusbauten zulassen. Vielen Gemeinden war beim Erlass ihrer Nutzungsordnungen nicht bewusst, dass hier ein raumrelevantes Bedürfnis besteht. Durch die Migration sind in den letzten Jahren viele Glaubensgemeinschaften gewachsen. Diese Gruppierungen möchten nun neue Glaubensstätten errichten oder bestehende Gebäude umnutzen. In vielen Orten ist dies aber nicht möglich, da eine entsprechende Baute oft nur in Zonen für öffentliche Nutzungen zulässig ist. Dort ist jedoch meist kein Bauland vorhanden.

In Belp sind Kultusbauten in Gewerbe- und Arbeitszonen noch nicht verboten. Verhindert wurde das Projekt der Tamilen trotzdem.

Es ist sehr schade, wenn eine fortschrittliche Gemeinde wie Belp einen Schritt zurück macht. Andere Gemeinden, etwa die Stadt Bern, gingen in eine andere Richtung: Hier wurden Zonen so definiert, dass Kultusbauten möglich sind. Aber gerade weil dies in den meisten Gemeinden noch nicht der Fall ist, ist es verständlich, dass die Gemeinde Belp eine Ballung befürchtet, nachdem sie schon der serbisch-orthodoxen Kirche eine Baubewilligung erteilt hat. Es wäre jedoch ehrlicher gewesen, wenn sie dies offen kommuniziert hätte. Stattdessen wurde die Diskussion umgangen, um nicht mit dem Vorwurf der Ungleichbehandlung oder gar der Diskriminierung konfrontiert zu werden.

Hat Belp mit seinem Vorgehen die Glaubensfreiheit verletzt?

Nein. Es liegt kein unzulässiger Eingriff in die Glaubens- und Gewissensfreiheit vor, wenn Kultusbauten in bestimmten Zonen verboten werden. Es ist gerade der Sinn der Nutzungspläne, dass nicht überall alles gebaut werden kann. Massagesalons, Friedhöfe oder Kehrichtverbrennungsanlagen sind auch nicht überall zulässig. Problematisch ist allerdings Belps Vorgehen: Das Instrument zur Steuerung der baulichen Entwicklung ist die Ortsplanung. Eine Gemeinde hat jedoch nicht die Funktion, als Investorin aufzutreten und mit einem Landkauf direkt in die freie Marktwirtschaft einzugreifen, ohne dass ein klares Bedürfnis – etwa für den Bau eines Schulhauses – vorhanden ist.

Der Verein Aum Shakti wird nun einen neuen Standort suchen. Beginnt für ihn damit ein Spiessrutenlauf durch die Gemeinden?

Man sollte das Thema in einen politischen Prozess einbringen und nicht auf kommunaler Ebene, sondern regional oder kantonal angehen. Auf Gemeindeebene sind die politischen Hürden riesig. Für die Integration dieser Gruppen ist es jedoch wichtig, dass sie ihre Religion ausüben können. Der Kanton könnte den Gemeinden im Richtplan den Auftrag geben, Kultusbauten zu ermöglichen. Er könnte das Platzproblem auch besser koordinieren. Denn viele Glaubensgemeinschaften haben ein grosses Einzugsgebiet: Die Mitglieder kommen von weit, um sich an einem Ort zu treffen.

Text und Interview: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 29. September 2007 im "Bund".​

«Für mich gibt es nur Badminton»

Jeanine Cicognini hat ihre Schweizer Konkurrentinnen – und die Schweiz – längst hinter sich gelassen. Für die 20-jährige Walliserin, grösste Schweizer Badminton-Hoffnung aller Zeiten, gibt es nur eines im Leben: den Sport. Und für den gibt sie alles.

Jeanine Cicognini, im Februar wurden Sie zum vierten Mal in Folge Schweizermeisterin im Einzel, und am Swiss Open gewannen sie heuer einen Match gegen eine Weltklassespielerin – für Schweizer Verhältnisse ein aussergewöhnlicher Erfolg. Was kommt als nächstes?

Jeanine Cicognini Dieses Jahr ist jedes Turnier wichtig. Im Mai hat die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Peking 2008 begonnen, und Peking geht über alles. Ich bin zufrieden: Ich bin die Nummer 1der Schweiz und momentan die Nummer 66 der Weltrangliste. Um in Peking teilzunehmen, brauche ich ein Ranking zwischen 60 und 70. Im Moment sieht es also gut aus. Aber ich muss dran bleiben – schliesslich will ich nicht den zweitletzten Qualifikationsplatz. 

Erfolg bedeutet Ihnen alles. Woher kommt dieser Ehrgeiz?

Mein Ehrgeiz ist riesig. Aber nicht grösser als bei den anderen Spielerinnen, mit denen ich im Olympiastützpunkt in Saarbrücken wohne und trainiere. Sie alle sind die Nummer 1 ihres Landes. Ohne diesen Ehrgeiz könnte man niemals zwei Mal pro Tag so hart trainieren.

Waren Sie schon immer so ehrgeizig?

Nein, überhaupt nicht. Als ich mit acht oder neun Jahren mit Badminton anfing, war ich das faulste Kind, das es gab. Ich joggte nicht gerne und war unmotiviert. Einzig Matches spielte ich gerne. Zielgerichtet trainierte ich erst ab 13 oder 14. Als ich dann merkte, dass ich viele Spiele verlor, weil ich keine Kondition hatte, konnte auch ich mich fürs Lauftraining motivieren. Heute jogge ich bis zum Umfallen, denn die Kondition ist nach wie vor mein Manko.

Nun sind Sie Badminton-Profi. Und dies, obwohl Badminton in der Schweiz ein Mauerblümchendasein fristet. Wie haben Sie das geschafft?

Erstens: Weil ich das unbedingt wollte. Und zweitens: Weil ich mit16 den Schritt wagte und von Brig nach Dänemark zog. Das war sehr hart für mich, aber ich wollte nicht stehen bleiben. Die Trainingsbedingungen in Dänemark waren nicht vergleichbar mit jenen in der Schweiz. In Saarbrücken ist es noch einmal eine Stufe härter. Für andere Schweizer Spieler war alles andere gleich wichtig wie der Sport: die Schule, Freunde, Freizeit. Für mich nicht. Für mich gab und gibt es nur Badminton.

In der Schweiz haben Sie längst alle Konkurrentinnen hinter sich gelassen. Mit Ihrem Namen verbindet man die Hoffnung, dass Badminton endlich den Durchbruch schafft. Wie gehen Sie mit diesem Druck um?

Ich spüre keinen Druck. Ich trainiere für mich selbst und es macht mir unheimlich Spass. Für mich ist Badminton immer noch ein Hobby. Ich sehe mich auch nicht als Vorbild. Es gibt noch so viele bessere Spielerinnen.

Im Olympiastützpunkt soll der europäische Nachwuchs unter asiatischem Drill zur Weltklasse gebracht werden – gegen die Dominanz der Asiaten. Wie sieht Ihr Alltag in Saarbrücken aus?

Von 8 bis 17 Uhr wird trainiert, gegessen, zwischendurch geschlafen. Das Training ist extrem hart und alles läuft sehr professionell. Wer einen schlechten Tag hat, sollte das besser für sich behalten – man muss immer hundert Prozent Einsatz geben.

Bleibt da noch Zeit für sich selbst? Für Freizeit und Freunde?

Nicht viel. Am Abend muss ich für meine Ausbildung als Fitnessfachwirtin lernen. Manchmal gehen wir danach Essen oder ich schaue mir einen Film auf DVD an. Das ist für mich in Ordnung. Ich habe eine andere Einstellung als die meisten Jugendlichen. Ich vermisse es nicht, jeden Tag in den Ausgang zu gehen und zu trinken. Ich erlebe hier viel schönere Dinge, die andere in meinem Alter nie erleben.

Zum Beispiel?

Etwa die vielen Reisen. Diesen Sommer spiele ich in Afrika, Neuseeland, Australien, Malaysia. Wir sehen uns jeweils die grössten Sehenswürdigkeiten an, in China reisten wir zur Chinesischen Mauer. Oder das Gefühl, wenn man gewinnt – das ist unbeschreiblich. Man fühlt sich so leicht, so zufrieden. Man hat etwas erreicht, wofür man hart gearbeitet hat. Das kompensiert alles, worauf man verzichtet hat. In diesen Momenten weiss ich wieder, weshalb ich so hart trainiere.

Und bei Niederlagen? Haben Sie da Freunde, die sie trösten?

Niederlagen sind hart, auch wenn sie manchmal gut sind um zu sehen, woran es noch fehlt. Rückhalt erhalte ich in solchen Situationen eher vom Trainer, weniger von Freunden – auch wenn ich in Frankfurt zwei sehr gute Freunde habe. Hier im Zentrum sind die Spielerinnen Konkurrentinnen. Von ihnen kann ich nach einer Niederlage keinen Trost erwarten. Das ist manchmal hart, aber man darf sich mental nicht fertig machen. Schliesslich ist es super, dass ich hier Konkurrenz habe, damit ich immer das Ziel vor Augen habe. Das wäre in der Schweiz anders.

Und die Liebe?

Die ist an der Distanz zerbrochen. Für dieses Jahr habe ich mir fest vorgenommen, single zu bleiben. Jetzt zählt nur noch Peking.

Dieses Porträt erschien am 14. Juni 2007 im swiss sport 5/07, Magazin von Swiss Olympic. ​

Text: Manuela Ryter