Posts in reportage
kommen, um zu gehen – die pop-up-stores in bern

Der Wandel im Detailhandel hat ein neues Phänomen geschaffen: die Pop-up-Stores. Ihre Ladenkonzepte zeigen den etablierten Händlern auf, in welche Richtung es gehen könnte. Denn die Kundschaft will Erlebnisse. Immer und immer wieder von Neuem. Gleichzeitig sorgen die Pop-up-Stores für belebte Ortskerne – auch in Bern.

ein spannender hintergrundartikel über ein neues, lebendiges bern. im BernPunkt 22/2019.

text: manuela ryter, textbüro manuskript, bern
auftraggeber: BernPunkt, wirtschaftsraum bern

unternehmensbericht für praxis gruppe schweiz

für die praxis gruppe schweiz durfte ich – in sehr kreativer konzeptioneller zusammenarbeit mit franziska ingold und sandra hobi – einen unternehmensbericht schreiben. hat spass gemacht!

den gesamten unternehmensbericht lesen sie hier.

text und konzept: manuela ryter, textbüro manuskript, bern // franziska ingold
grafik und konzept: sandra hobi, 0grad, bern
bilder: tanja läser
auftraggeberin: praxis gruppe schweiz

gedrucktes licht

in zukunft wird nicht nur papier gedruckt, sondern auch licht. mehr über die revolution des drucks – und viele weitere geschichten – im kundenmagazin der ast & fischer ag. lesen sie das magazin als epaper.

content-konzept, texte und redaktion: manuela ryter, textbüro manuskript bern
auftraggeberin: ast & fischer ag

Ausser Atem – ein Bild- und Porträtbuch über Menschen mit Cystischer Fibrose

Endlich ist es da: "Ausser Atem", ein Porträtbuch von CFCH über Menschen mit Cystischer Fibrose. Es war meine erste Mitarbeit an einem Buch und es war eine tolle Erfahrung, mit Fotograf Remo Ubezio und der Agentur Bloom Identity zusammenzuarbeiten – trotz des enormen Zeitdrucks, unter dem das Buch in kurzer Zeit entstanden ist. Hier ein paar Gedanken, die ich mir anlässlich der gestrigen Vernissage gemacht habe – zum Buch, zum Entstehungsprozess und zu den wertvollen Begegnungen, die ich bei der Recherche machen durfte.

Als Journalistin bin ich dazu verpflichtet, zuzuhören. Mich in jemanden einzufühlen und gleichzeitig die nötige Distanz zu wahren. Die richtigen Fragen zu stellen, auch solche, die vielleicht nicht angenehm sind – weder für mich noch für die befragte Person. Und zwar möglichst ohne die Antworten hervorzulocken, die meiner Geschichte im Kopf dienen, die die Person aber nicht richtig abbilden. Und dann, wenn ich am Schreibtisch sitze, muss ich aus der Nähe, die durchs Gespräch entstanden ist, wieder Distanz entstehen lassen. Nur so ist es möglich, einigermassen objektiv zu bleiben und das Erfahrene und Gehörte nicht mit eigenen Erlebnissen, Gefühlen und Ängsten zu verbinden.

Nähe und Distanz, Objektivität und eigene Gefühle – dies waren bei den Interviewterminen sowie beim Schreiben des Buchs "Ausser Atem" die grossen Herausforderungen. Wer ein Porträt über eine Person mit CF schreiben will, kommt nicht darum herum, der Person die Frage nach der Zukunft zu stellen – und damit jene nach der Angst vor dem Tod, Angst vor Krankheit, Schmerz und Hoffnung. Nur so konnte ich herausfinden, mit welcher Überlebensstrategie die Personen ihr Leben lebten. Ich kam aufgewühlt, berührt und teils auch traurig von den Interviewterminen zurück ins Büro. Ich konnte mich nicht sogleich an den Computer setzen und anfangen mit Schreiben. Ich musste die Geschichten immer erst ein zwei Tage setzen lassen, bevor ich die Objektivität und Distanz wieder hatte, die fürs Schreiben erforderlich ist. Ansonsten wären Texte entstanden, die zu stark von meinen Gefühlen gefärbt gewesen wären.

Die Texte entstanden innerhalb eines kurzen Zeitraums, meist standen ein bis zwei Termine pro Woche an. Vielleicht war dieser Zeitdruck gut, denn er verhinderte, dass ich mich zu stark in die zutiefst ergreifenden Geschichten hineinreissen liess. Vielleicht verhinderte er jedoch auch, genügend in die Tiefe gehen zu können. Ich schrieb meist nachts. Es war mir wichtig, Zeit zu haben für die Geschichten – und nur für diese. Ohne Telefonate und Besprechungen. Ich hatte das Gefühl, dass ich dies den Protagonisten schuldig war. Ich wollte ihnen gerecht werden. Einen Text schreiben, der sie abbildete – und nicht meine Gedanken. Manchmal war ein Text fertig und ich spürte die Person nicht darin – dann verwarf ich ihn und startete neu, ev. in einer anderen Textform. Wir schrieben und gestalteten die Texte in drei Formen: einer Ich-Perspektive, einer Reportage und einem Feature, in welchem ich im Gegensatz zur Reportage mehr auf die "Geschichte" der Porträtierten einging und weniger auf das Geschehen am Interviewtag selber.

Anfangs befürchtete ich, dass es schwierig sein wird, nicht zehnmal die gleiche Geschichte zu schreiben. Doch die Protagonistinnen und Protagonisten machten es mir einfach: Jede einzelne Geschichte war spannend, beeindruckend – und anders als alle anderen. Es gab jene, die sich CF zur Überlebensaufgabe machten, andere, die die Krankheit schlicht ignorierten. Allen gemeinsam war, dass sie das Leben mehr als gesunde Menschen zu geniessen versuchten. Dass sie sich nicht durch Nebensächlichkeiten den Tag vermiesen lassen wollten. Dass sie dankbar waren, überhaupt noch am Leben zu sein, denn fast alle hatten sie ihre als Babys prognostizierte Lebenserwartung schon längst überschritten. Die einen waren unbekümmert, die anderen bekümmert. Die einen strotzten trotz Krankheit vor Lebenslust, die anderen waren bereits stark von CF gezeichnet. Alle sprachen jedoch sehr offen über ihr Leben mit der Krankheit, über ihre Ängste und Hoffnungen zu – sie schätzten es sehr, dass wir uns für sie interessierten und sie endlich einmal über ihre Krankheit und deren Folgen für ihr Leben sprechen durften. Ich bin tief beeindruckt, wie sie mit ihrer Krankheit umgehen. Jeder von geht anders mit ihr um und doch irgendwie richtig.

Als ich das Gut zum Druck des Buchs in den Händen hielt, setzte ich mich an die Aare und machte mich daran, allfällige Fehler zu suchen. Doch stattdessen liess ich mich wieder hereinziehen in die Geschichten. Ich liess mich berühren und beeindrucken, ohne dass ich Mitleid für die Porträtierten empfand, sondern in erster Linie Mitgefühl und Respekt. Und genau dies war das Ziel dieses Buches.

Das Buch hat auch mich verändert. "Alt werden ist geil", dieser Satz wird mir zeitlebends im Kopf bleiben. Denn was nerven wir uns ab einigen Falten, die mit jedem Geburtstag mehr werden? Die Bräschtelis, die mit dem Alter kommen werden? Die Jugend, die wir vermissen? Wir alle wissen nicht, wie lang unser Leben sein wird – weder Menschen mit CF noch gesunde. Statt uns bei jedem Geburtstag zu grämen, dass das gefürchtete Alter näher kommt, sollten wir dankbar sein für jeden Tag, den wir leben dürfen. Dies haben mir die Porträtierten Personen eindrücklich gezeigt. Ich bin ihnen dankbar dafür.

Das Buch "Ausser Atem" ist bei CFCH oder im Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-033-05749-4)

Auftraggeberin, Konzept, Layout: Bloom Identity
Bilder: Remo Ubezio
Reportagen und Redaktion: Manuela Ryter, textbüro manuskript

 
repo und redaktion für den neuen jahresbericht des acs

wow, das ist mal ein jahresbericht, der zum unternehmen passt: der report 2015 des acs, auch dieses jahr von der agentur bloom identity kreiert, sieht aus wie strassenbelag - und fühlt sich auch so an. strassen und autos prägen den jahresbericht auch in bild und text. etwa in der pannendienst-repo. einen tag lang durfte ich zusammen mit fotograf remo ubezio im auto von pannenhelfer philipp morgenegg mitfahren, während draussen dicke schneeflocken fielen. ein auto hatte einen leeren tank, beim anderen war die batterie leer, und dann musste morgenegg noch ein wrack abschleppen. kein wunder, bei dem wetter. die repo gibt einblick in die welt des acs - und bringt dem leser seine dienstleistungen nahe, indem er ihm spannende geschichten erzählt, statt ihn zu langweilen. 

reportage sowie redaktion texte: manuela ryter, textbüro manuskript, bern
auftraggeberin: bloom identity, bern

bernmobil magazin zum fahrplanwechsel

ein 16-seitiges kundenmagazin mit spannenden informationen, berichten und reportagen zum fahrplanwechsel.

auftraggeberin: casalini werbeagentur, bern
7 seiten text: manuela ryter, manuskript – das textbüro

Im Tempo der Seele
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Als Familie mit dem Fahrrad durch den Süden Neuseelands – ein unvergesslich schönes Erlebnis

 

Neuseelands Südinsel ist einsam und abwechslungsreich. Wer hier mit dem Velo unterwegs ist, lernt Landschaft in ihrer ursprünglichen Form kennen – unverbaut, wild und unverhältnismässig schön.

Unwirklich und eine Spur zu leuchtend ist das Türkis des Lake Tekapo. Übertrieben die von Lupinen übersäte Weite, ein violettes Meer, das den Gletschersee umarmt. Viel zu blau der Himmel über den perfekt gepuderten Schneebergen am Horizont. Pathetisch und von gestochener Schärfe wie einer dieser modernen Animationsfilme in 3-D. Wir steigen aus dem kleinen Reisebus, schultern unsere zwei Kinder (eineinhalb- und knapp vierjährig) und laden unser Gepäck aus, das fast den gesamten Anhänger füllt: zwei Fahrräder, zwölf Taschen, ein Kinderanhänger. Dann schauen wir uns erst einmal um, blinzeln in die Sonne wie Häftlinge, denen gerade die Flucht gelungen ist. Überwältigt und unsicher, ob dies alles wirklich wahr ist.

Hier, an diesem unverschämt schönen Flecken Erde im Herzen von Neuseelands Südinsel, beladen wir unsere Fahrräder, setzen die Buben in den Chariot, montieren die beiden Fähnlein und fahren los. Hinaus in die Freiheit, hinein in die Natur, die uns in ihrer ursprünglichen Schönheit empfängt. Einige japanische Touristen blicken uns ungläubig hinterher.

Der Weg als Highlight

Drei Monate lang werden wir unterwegs sein, ohne Zeitplan und ohne Route, dafür mit Zelt, einer Ladung Windeln und genügend Proviant. Es ist Anfang Dezember, und der Sommer ist für Neuseeland ungewohnt mutig im Anmarsch. Noch schrecken wir bei jedem Auto, das uns überholt, auf. Viel Verkehr hat es nicht auf den meisten Strassen der Südinsel. Aber die Kiwis, wie sich die Neuseeländer liebevoll nennen, fahren schnell und sind Velofahrer nicht gewohnt. Sie bewegen sich lieber im Offroader als auf unmotorisierten Zweirädern.

Dabei hat die Südinsel dem Langsamreisenden viel zu bieten. Landschaften, die so schön sind, dass sie in Europa längst zugebaut wären, warten einsam auf Besucher. Hier ist der Weg das Highlight. Vielleicht ist dies der Grund, dass Rucksacktouristen und Reisende im Wohnmobil die Nordinsel mit ihren Vulkanen, Geysiren und Badestränden viel spektakulärer finden als die einsame, wilde Südinsel. Wer jedoch nicht nur auf der Jagd nach Sehenswürdigkeiten ist und sich fernab der Zivilisation wohl fühlt, ist im Süden glücklich.

Wir fahren durch die Berglandschaft, dem Mount Cook, mit seinen 3754 Metern der höchste Berg Neuseelands, entgegen. Wir beobachten, wie auf der «Mt Cook Alpine Salmon»-Farm Lachs heranwächst, und entdecken am Ende des schnurgeraden Lake-Tekapo-Kanals den neu erstellten «Alps 2 Ocean Cycle Trail». Der Radweg wird uns in den folgenden Tagen über zum Teil abenteuerliche Mountainbike-Strecken – es sind jene Teilstücke, die erst auf der Karte existieren – bis nach Oamaru ans Meer führen. Wir sind langsam unterwegs, und so suchen wir in der Natur einen geschützten Platz für unser Zelt. Als wir am Morgen am Ufer des Lake Pukaki erwachen, blicken wir ins Blaue – nur die weisse Bergkette der Southern Alps unterstreicht den Horizont zwischen Wasser und Himmel. So schön hätten wir uns Neuseeland nie zu erträumen gewagt.

Am Lake Ohau beenden wir die anstrengende Fahrt dem Kanal entlang. Kühl ist das Bad, befreiend die totale Einsamkeit. In Omarama stellen wir unser Zelt im Garten eines stämmigen neuseeländischen Ehepaars auf. Die Buben schlafen, während uns in der Stube zu einem Rotwein Geschichten und Fotos von Jagd- und anderen Abenteuern aufgetischt werden. In der Schlucht bei Ngapara schlagen wir die Heringe hoch oben auf einer leeren Kuhweide ein. Leicht beunruhigt darüber, ob nicht doch irgendwo hinter einer Kuppe ein Stier sein könnte, geniessen wir die Aussicht über die von Felsen durchzogene Gegend. An Heiligabend erreichen wir das Meer.

Das Velofahren wird zu unserem Alltag, die Natur zu unserem Zuhause. Wenn wir auf den einsamen Strassen dem Horizont entgegenfahren, entlang von Gletscherseen, durch bizarre Felslandschaften und über sanfte Hügel, werden wir euphorisch. Der steilste Berg wird überwindbar, der stärkste Gegenwind erträglich. Unsere Buben, schmutzig und mit verstrubbelten Haaren, beginnen sich in der freien Natur wohl zu fühlen. Kinder lieben Abenteuer. Und sie lieben Freiheit. Aber auch unser Blick wird offen, unser Kopf frei. Der Stress unseres Schweizer Alltags blättert ab wie alte Farbe.

Wir fahren von Oamaru der Ostküste entlang südwärts. Wir sind langsam unterwegs – im Durchschnitt fahren wir gut 40 Kilometer pro Tag. Den Rhythmus geben die Kinder vor. Und die Arbeiten, die Velofahren und Zelten mit sich bringen. Es dauert immer ewig, bis wir morgens wegkommen, bis die Velos bepackt, die Kinder gewickelt, gefüttert und eingecremt sind. Wer mit Kindern unterwegs ist, darf sich nicht zu viel vornehmen. Wir sind gezwungen, den Tag langsam anzugehen, möglichst keine Pläne zu schmieden und Ziele spontan zu ändern. Und wenn eine Nebenstrasse in einen mörderischen Highway mündet oder ein steiler Pass vor uns liegt, nehmen wir eben den Bus.

Abwechslungsreiche Strecke

Mit Rückenwind fliegen wir regelrecht durch die stürmischen Catlins ganz im Süden, wo Delphine in den Buchten auf Surfer warten, Pinguine die Zeltplätze bevölkern und Seelöwen die harschen Strände kontrollieren. Wo der Urwald die Nichtigkeit der Menschen demonstriert und Wind und Meer die Wucht der Natur unterstreichen. Wir kämpfen uns 150 Kilometer weit auf einer ehemaligen Zugstrecke – heute ist sie ein holpriger Veloweg – durch die kargen Weiten des Central Otago ins Landesinnere, bis nach Wanaka, das sich Schweiz von Neuseeland nennt.

Und wir fahren bei bestem Wetter die sonst so regenreiche Westküste empor, wo sich die nur wenig befahrene Strasse spektakulär zwischen Regenwald und den menschenleeren Sandstränden entlang der Tasmanischen See hindurch zwängt, bis sie in Kohaihai im Nichts endet.

Im Abel Tasman bei Nelson erwarten uns nach fast 1500 gefahrenen Kilometern goldene Badestrände, doch das Paradies, das wir wie Hunderte andere in einem kleinen Boot erreichen, erscheint uns nach drei Monaten im Sattel geradezu langweilig; die Touristen erschrecken uns. Uns wird klar: Wer reist, der sieht die Welt; wer mit dem Fahrrad reist, erlebt sie. Oder wie es ein von unserer Reise unendlich beeindruckter Schweizer Motorradfahrer auf einem Rastplatz an der Westküste nicht ohne Neid in der Stimme formulierte: Beim Fahrradfahren hat man exakt die richtige Geschwindigkeit, damit auch die Seele mitkommt. Wie wahr. Wie unglaublich wahr.

 

Diese Reisereportage erschien am 8. November 2013 in der NZZ

Text: Manuela Ryter, textbüro manuskript bern

Der Traum vom schwarzen Bändel

Wechä Gäggeler ist seit Jahren Gigathlet. Nun ist er einer von denen, die er immer mit viel Bewunderung und etwas Abscheu als Spinner bezeichnet hatte: ein Single. Mit Hilfe seiner Supporter, die in den Wechselzonen bei Hitze und Gewitter stundenlang warteten, um in den entscheidenden Minuten bereit zu sein. 

Es ist der schwarze Bändel am Handgelenk, der alles ausmacht. Wen Werner «Wechä» Gäggeler im Gigathon-Camp in Olten auch trifft, man blickt sich nicht in die Augen, sondern auf den Bändel. Hier ein ungläubiger Blick, dort ein Hauch von Erstaunen – Wechä Gäggelers Bändel ist schwarz. Nicht orange wie jene der Team-of-five-Athleten. Auch nicht grau wie bei den Couples. Er hat den Schritt gewagt: Nach etlichen Gigathlon-Jahren im Fünfer- und Zweierteam startet er nun alleine: Je fünf Etappen an zwei Tagen, insgesamt 92 Kilometer Inline, 12 Kilometer Schwimmen, 96 Kilometer Bike, 198 Kilometer Rad und 52 Kilometer Laufen. Über 7500 Höhenmeter. Ohne Ablösung. Fast ohne Pause. 

Wechä Gäggeler ist kein Hardcore-Athlet. Er ist auch kein geborener Ausdauersportler. Aber er ist einer, der eine Vision hatte. Und nun nur noch ein paar Stunden davon entfernt ist, seinen Traum zu realisieren. «Früher habe ich immer gedacht: ,Was sind das nur für Spinner!‘ Ich wollte mir beweisen, dass ich auch spinnen kann», sagt Gäggeler. Doch er weiss: Es ist nicht sicher, dass er das Ziel vor dem Besenwagen erreichen wird.

Jedes Ding an den richtigen Ort

Es ist Freitagabend. Gäggeler sitzt mit seinen zwei Supportern im Camper. Während rundherum hunderte Gigathleten darauf warten einzuchecken, sind sie hochkonzentriert am Packen. Für jede Disziplin gibt es einen Sack. Trikots, Ersatzpneus, Kraftgel, Salztabletten – jedes Ding muss an den richtigen Ort. Socken eingepackt? Startnummern angeheftet? Alles muss exakt geplant sein.

Gäggelers Supporter werden zwei Tage lang ganz in seinem Dienst stehen. «Die beiden sind massgeblich daran beteiligt, dass ich immer mehr will», sagt Gäggeler: Sein langjähriger Freund Michael Aebischer (43), Vater von vier Kindern, der 1999 mit dem TransSuisse die gemeinsame Gigathlon-Serie begann. Damals war Gäggeler sein Supporter. Und Simone Ryser (42), seine  Couple-Partnerin. Sie wäre eigentlich fit genug, um selbst am Gigathlon zu starten. Aber sie zögerte keinen Moment, ihn zu unterstützen. Sie freue sich, einmal auf dieser Seite des Gigathlon zu stehen, sagt sie. 

Stimmung zwischen Openair und Volkslauf

Vier Disziplinen-Wechsel gibt es pro Tag. Viermal umziehen, Schuhe wechseln, Nahrung tanken. Jedes Mal an einem anderen Ort. Während die Supporter den Gigathleten in vergangenen Jahren von Ort zu Ort im Auto hinterherreisten, ist der Gigathlon 2012 autofrei. Das heisst für die Supporter: Sie tragen das ganze Material von Wechselzone zu Wechselzone.


Das Team sucht sich einen Weg durchs Gigathlon-Camp. Durch die hunderten roten Zelte, die Stände der Sponsoren. Durch das Gewimmel von Musik, Farben und Gerüchen. Die Stimmung schwankt zwischen Openair und Volkslauf. Im Oltener Eishockeystadion wird der Gigathlon eröffnet. Wechä Gäggeler kennt fast jeden. Er ist immer gut gelaunt, hat immer gute Sprüche parat. Jeder freut sich, ihn zu sehen. Und jeder richtet als erstes den Blick auf den Bändel. Erstaunt, erfreut, neidisch. Gäggeler wird nervös. Aber er kann beruhigt schlafen - seine Supporter haben alles im Griff.

Gigathleten zelebrieren Leidenschaft zum Sport

Samstagmorgen, 3.30 Uhr. Heute ist Gäggelers Geburtstag. Ein Müesli zum Frühstück. Die lange Inline-Strecke geht in die Beine. Simone Ryser wartet bei der Wechselzone in Altreu, wo sie Gäggeler in den Neopren steckt und ihn motiviert fürs Schwimmen, seine schwächste Disziplin. 9 Kilometer aareabwärts bei schwächster Strömung sind jedoch ein harter Brocken. So weit ist er noch nie am Stück geschwommen. Irgendwann kann er nicht mehr, hält bei einem Boot und fragt, wie weit es noch sei. Er ist erst in der Hälfte.

Michael Aebischer wartet derweil bereits in Solothurn. Mountainbike, Notvorräte, Sonnencreme und Handy liegen in der dicht gedrängten Wechselzone am Boden. Neben Campingstühlen, Rucksäcken und Helmen. Warten ist eine der Hauptaufgaben der 820 Supporter. Stundenlanges Warten, um dann in den entscheidenden Minuten parat zu sein. Aebischer ist jedoch nicht allein. Man kennt sich in der Single-Wechselzone. Man hilft sich aus. Hält zusammen in der mörderischen Hitze. 

Aebischer beobachtet die Singles, die nun zahlreicher in die Wechselzone kommen, um sich gleich wieder mit dem Bike den Weg durchs Gewimmel zu bahnen. Es wurmt ihn nur zuzusehen, wie die anderen Vollgas geben und ihre Leidenschaft zum Sport zelebrieren. Er, der sich seit langem am Biennathlon mit Gäggeler duelliert. Doch der Gigathlon 2012 war für Aebischer kein Thema - er hatte im November seine Achillessehne gerissen. Ein guter Grund, stattdessen seinen Freund zu betreuen.

Dank Supportern kurz abschalten

Und dann kommt er. Aebischer lotst Gäggeler zum seinem Platz im Chaos der Wechselzone. Gäggeler strahlt. Die Schwimmstrecke habe ewig gedauert, sagt er. Raus aus dem Neopren, abtrocknen, Velotrikot an, Schuhe, Trinken, Sonnencreme. Gäggeler setzt sich gelöst auf den Campingstuhl. Plaudert, isst ein paar Nüsse. Er ist zufrieden mit seiner Form. Müde, aber motiviert. Dank seinen Supportern kann der Gigathlet in der Wechselzone kurz abschalten. Und sie sind es, die ihn wieder auf die Piste schicken und es nicht zulassen, dass er in der Wechselzone liegen bleibt.

Aebischer nimmt Gäggelers Bike und die beiden verschwinden im Gewimmel. Vier Stunden wird der Gigathlet für die nächste Etappe haben. Vier Stunden auf und ab, ohne Unterbruch. Und das in der grössten Mittagshitze und zum Teil durch den Morast, bis nach Oensingen. Danach folgen über fünf Stunden auf dem Rennvelo, während die Schnellsten schon lange im Camp am Duschen sind.

Weshalb tut er sich das an? Vielleicht macht er es für sein Ego. Um sich zu beweisen, dass er mit seinen 43 Jahren noch zu so etwas fähig ist. Vielleicht wegen der Anerkennung. Vielleicht ist es die Angst vor dem Älterwerden. Wann, wenn nicht jetzt?, hatte er sich am letztjährigen Gigathlon gefragt. 

Im Ziel ist am Start

Es ist 18 Uhr in Sissach. Gäggeler ist noch auf dem Rennvelo unterwegs. Das Warten geht weiter, zu Swing und Sonne. Es ist nach sieben Uhr, als er eintrifft. Er nimmt es gemütlich, er hat keinen Stress mehr. Das einzige Ziel ist jetzt, noch die letzte Etappe zu schaffen, die 24 Kilometer Laufen. Er lacht noch immer, doch er ist erledigt. Zu hart war die Strecke. Die fiesen Steigungen, immer und immer wieder. Zu heiss die glühende Hitze. Er kann kaum etwas essen und trinken. Aebischer besteht aber darauf, drückt ihm ein Biberli und ein Becher Cola in die Hände. Gäggeler muss sich hinlegen. Er beginnt zu zweifeln, ob sein Traum noch realistisch ist. Aebischer befiehlt ihm, weiterzukämpfen. Aufgeben ist kein Thema. Heute nicht. Aber morgen?

Endlich läuft Gäggeler los. Aebischer würde ihn gerne begleiten. So wie früher, als die Supporter die Gigathleten noch mit dem Bike begleiten und auf der Strecke betreuen durften. Er würde ihn beschwatzen und mit ihm lachen. «Wir hätten es lustig», ist er überzeugt. Nun wird Gäggeler alleine durch den Wald rennen, im Dunkeln  – ohne die dringend nötige Stirnlampe, die im Camper blieb. Er wird daran zweifeln, ob er es noch bis ins Camp schafft. Die Beine wollen sich nicht an den Rhythmus des Laufens gewöhnen. Es ist 23.15 Uhr nachts, als Wechä Gäggeler nach über 17 Stunden im Ziel einläuft, Arm in Arm mit zwei anderen Läufern. Er strahlt, ist glücklich. Aber zuversichtlich ist er nicht. «Morgen könnt ihr ausschlafenl», sagt er seinen Supportern. Unvorstellbar erscheint es ihm, in ein paar Stunden schon wieder loszufahren, das Ganze von vorne. Geburtstagsparty wird es keine mehr geben.

Der Besenwagen im Rücken

Es ist Sonntag. Der blaue Punkt auf dem Tracker bewegt sich vorwärts, es sind Gäggelers Lebenszeichen. Simone Ryser und Michael Aebischer reisen wieder von Wechselzone zu Wechselzone. Sie wechseln sich wie immer ab, damit die Wege mit dem Zug kürzer werden. Von Olten nach Nottwil, über Sursee nach Rothrist, dann nach Oensingen und wieder zurück nach Olten. Dieses Mal nicht durch die Hitze, dafür durch Blitz und Donner. Ein Hagelsturm deckt die Inline-Strecke zu, Bäche fliessen über die Bike-Singletrails. Der blaue Punkt bleibt nie stehen, das ist ein gutes Zeichen. Der zweitletzte Wechsel klappt nicht gut, es regnet in Strömen, Aebischer ist nicht parat. Der Camelbag mit dem Wasser für die Laufstrecke bleibt liegen. Doch Wechä Gäggelers blauer Punkt im GPS kriecht weiter, den Besenwagen im Rücken seinem Ziel entgegen. Seinem Traum, nicht nur einen schwarzen Bändel zu tragen, sondern mit ihm das Ziel vor Wettkampfschluss zu erreichen. Um sich danach noch höhere zu stecken. Seine Supporter erwarten ihn im Dunkeln.

Text und Fotos: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 1. Juli 2012 im Olympiablog und auf www.gigathlon.ch.

Anflug auf Bern via «Hotel Whisky»
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Mit dem Heli fliegt Pilot Nicolas de Sinner Lasten auf Hochhäuser oder zu Alphütten - und überblickt Stadt und Land von oben.​

Von oben betrachtet ist die Menschheit plötzlich ganz klein, sagt Pilot Nicolas de Sinner. Mit der Crew der Heliswiss transportiert er Masten, Klimaanlagen, Antennen, Holz oder auch Tiere mit dem Helikopter durch die Lüfte und setzt sie millimetergenau wieder ab - auf dem Bahnhofturm in Bern oder in den Alpen.​

​Mit leisem Surren setzen sich die Rotoren in Bewegung. Wie Schwerter zerschneiden sie die Luft, immer schneller und schneller. 50- 100-, 200-, 400-mal pro Minute. Nun dröhnt es im Innern des Helikopters auf der kleinen Flugbasis der Heliswiss beim Flughafen Gruyères. Nicolas de Sinner setzt sich den Gehörschutz auf, testet das Mikrofon. Vor ihm leuchten unzählige Lämpchen, er kntrolliert jedes einzelne, jede Anzeige, jeden Knopf. «Also, los gehts», ruft er, und seine drei Flughelfer steigen in den ratternden Helikopter. Die Maschine des Typs Écureuil hebt ab, sanft und leicht wie ein Spielzeug, von Kinderhand durch die Lüfte getragen. Die erste Mission der Crew: Auf dem Weg nach Köniz und Bern, wo mehrere Aufträge anstehen, warten auf einer Alp drei Paletten mit Baumaterial auf den Transport ins Tal. 

Ein Lächeln liegt auf Nicolas de Sinners Lippen. Er blickt hinunter auf die Erde, auf die Felder, die in einem riesigen Mosaik die Häuser umkreisen. Dunst liegt über dem Greyerzersee, doch im Tal Richtung Schwarzsee, in welches der Pilot steuert, leuchten die Wiesen und Wälder bereits in der Morgensonne. Am Morgen sei die Stimmung am schönsten, sagt er - auch wenn jeder Flug einzigartig sei, egal zu welcher Tageszeit oder bei welchem Wetter. ​De Sinner mag es, die «wunderschöne Landschaft» von oben zu betrachten. Die Zeit dazu findet der 51-Jährige jedoch nur auf Überflügen. Sonst ist er jeweils so konzentriert bei der Arbeit hoch oben am Himmel, dass er keine Zeit hat für die Welt, die ihm zu Füssen liegt.

Im Nu vom Flugplatz auf der Alp

Der Helikopter schwebt nun 300 Meter über Boden. Doch die Erde erscheint nah im heli, der vorne fast nur aus Plexiglas besteht - für eine perfekte Sicht auf die Lasten. Seit 30 Jahren fliegt de Sinner in den rotweissen Helikoptern der Heliswiss Lasten durch die Lüfte, transportiert sie an Orte, wo Lastwagen zu gross und Krane zu klein sind, um hinzugelangen: Er setzt bei Alphütten Waren ab, er transportiert frisch gefällte Bäume aus dichten Wäldern, er platziert Antennen auf Hochhäuser und setzt Masten zusammen, über die später Luftseilbahnen die Berge hochrattern. Und nicht selten fliegt er Kühe am 50 Meter langen Seil durch die Luft, um sie einzeln von der Alp ins Tal zu bringen.

Beim Helifliegen werde er wieder um kleinen Bub, sagt de Sinner. «Der Heli ist für mich wie ein grosses Spielzeug.» Er habe das Bild noch vor sich, wie er als Kind zum ersten Mal einen Armeeheli sah: Wie er übers Feld rannte, bis er ganz nah war, fasziniert vom Ungetüm, das vom Boden abhob und ganz ruhig in der Luft schwebte. Doch erst Jahre später, als er im Fernsehen Reportagen über eine Rettung an der Eigernordwand sah, dachte er an seinen Bubentraum zurück. 

«Hier irgendwo sollte die Hütte sein», sagt de Sinner zu seiner Crew und kreist um eine Alphütte auf dem Grad beim Schwyberg. Dann erblickt er die winkenden Menschen, steuert auf sie zu, sinkt und landet. Gras wirbelt durch die Luft, die Flughelfer steigen aus, rennen gebeugt aus dem Radius der Rotoren hinaus, die im unebenen Gelände gefährlich tief drehen. Der Pilot bringt «schnell» einen Passagier nach Schwarzsee, während die Crew Seile um die mit Blachen bespannten Paletten bindet. Die plötzliche Stille und Einsamkeit der Berghütte in der Morgensonne ist bizarr: so abgeschieden und doch nur wenige Flugminuten vom Flugplatz entfernt. Bald erscheint der Heli wieder am Himmel, um die Lasten abzuholen - mit dem ratternden Geräusch, das ans Skifahren erinnert. An gebrochene Beine und schmerzverzerrte Gesichter.

Himmel über Bern ist kontrolliert

​Mit der Crew an Bord hebt de Sinner wieder ab, in leichtem Sturzflug und mit enger Kurve, bis er wieder an Höhe gewinnt. Es ist wie Achterbahnfahren, nur sanfter  und eindrücklicher. Von oben sieht die Welt wieder ganz klein aus: Ein winziges gelbes Postauto kriecht in den Hügeln von Guggisberg die Kurven empor, die mächtigen Bauernhäuser sind zu kleinen Flecken geschrumpft. Die Idylle ist perfekt. Der Heli fliegt am Gantrisch vorbei, am Horizont erscheint bald die Gurtenantenne und weiter hinten der Sendeturm auf dem Bantiger. 

«Inbound Hotel Whisky», meldet de Sinner dem Tower von Bern und gibt damit seine Position - im Westen von Bern - durch. Das ist Pflicht, denn der Himmel über Bern wird kontrolliert: Jeder, der in die Kontrollzone fliegen will, muss sich beim Tower melden. Berns Süden heisst «Sierra», der Norden «November» und der Osten «Hotel Eco». In der Helisprache, um Missverständnisse zu verhindern.

Flughafen Belp: De Sinner startet «zur neuen Mission» beim Gymnasium Lerbermatt in Köniz. Eine neue Lüftung muss aufs Dach. Hier ist eine neue Crew zuständig, die drei Flughelfer aus Gruyères fahren im Auto bereits zum nächsten Arbeitsort: Bahnhof Bern, Postautoperrons. Auf dem Bahnhofturm muss das neue Funksystem der Kantonspolizei installiert werden. Die Lastwagen sind schon da: Die Flughelfer binden die Funkanlagen mit Seilen ein oder hüllen sie gekonnt in riesige Netze. Alls muss schnell gehen, denn schon bald ist ein roter Punkt am Himmel zu sehen, der immer näher heranschwebt, das lange Seil hinter sich herziehend. Flughelfer Marco Sartori steht auf dem Bahnhofturm, wartet und betrachtet das Rundpanorama: das Münster, die Universität, das Geleisewirrwarr. Menschen, die aneinander vorbeihetzen. Dann geht es Schlag auf Schlag: Der Helikopter schwebt über dem Funkkasten unten bei den Postautos und sinkt, genau nach den Anweisungen der Crew. Diese sei ebensowichtig wie der Pilot, sagt de Sinner später: «Lastenfliegen ist Teamwork, bei dem nur einer die Lorbeeren trägt.»

Der Traum vom Fliegen

Von unten ist ein weisser Punkt im Heli zu sehen: der Helm des Piloten, der sich konzentriert in die Bubble-Door lehnt. Wie ein Fischauge klebt diese Ausbuchtung an der Scheibe des Helikopters - sie erlaubt dem Pilot freie Sicht nach unten. Die Fracht wird eingehängt und der Heli zieht sie hinauf, als wäre sie leicht wie ein Lego-Stein.​ Der Heli werde mit der Last schwerfällig, sagt de Sinner. Wie ein Auto, das einen Berg hinaufkeucht. Für schwere Lasten - der Écureuil schafft maximal 1,2 Tonnen - sei deshalb Erfahrung und Fingerspitzengefühl wichtig: Denn sonst kann die Last gefährlich ins Schlingern geraten.

Doch jetzt sitzt jeder Griff, sowohl im Heli wie auch am Boden. Der Helikopter ​schwebt majestätisch über der Crew, der Funkkasten sinkt ruhig und langsam. «Noch zwei Meter. Noch einen Meter. Noch 50 Zentimeter. Noch 20 Zentimeter. Es passt», gibt Sartori dem Piloten durchs Mikrofon durch. Die Last wird platziert - millimetergenau. Der 24-jährige Tessiner hängt den riesigen Haken aus, und schon ist der Heli wieder weg, bereit für die nächste Ladung. Die Passanten in den Strassen halten inne und sehen sich das Spektakel an. Helikopter verkörpern noch heute den grossen Traum vom Fliegen. Den Wunsch, den Himmel wie ein Vogel zu erobern. Im Heli fühle er sich frei, sagt Sartori, der selber fliegt und davon träumt, Lasten zu transportieren. Im heli gebe es Action. Man könne hinfliegen wohin und landen wo man wolle. «Im Flugzeug hat man diese Freiheit nicht.» Im Heli fühle er sich wie ein kleiner Astronaut - am Boden jedoch werde er in seiner Arbeiterkleidung kaum beachtet.

Zivilisation wird zur Märklin-Welt

Wie eine Mondlandschaft sieht es neben dem Burgerheim aus, wo riesige Bagger den Neufeldtunnel in die Erde graben. Auch hier wird das neue Polizeifunksystem platziert. Danach eilen Marco und seine Leute in den Gäbelbach, de Sinner wartet im Neufeldstadion, trinkt Kaffee und fliegt los, sobald die Crew parat ist. Jedes Detail dieses Arbeitstages ist durchgeplant. Sonst wird es teuer: Eine Flugminute kostet mindestens 39 Franken. ​De Sinner fliegt nun über die farbigen Häuser in der Länggasse, über das leuchtend blaue Schwimmbecken im Weyermannshaus. Von seinem Arbeitsplatz aus überblickt er die Welt.

Nach der Arbeit über den massiven Hochhäusern führt ihn die Arbeit zurück nach Köniz, nach Belp und dann nach Muri. Am Nachmittag wird er das gleiche Funksystem bei Château-d'Oex auf ein Hochhaus fliegen, einen 1,2 Tonnen schweren Masten auf dem Col des Mosses montieren, schwere Steinziegel auf dem Dach eines Chalets in Villars abladen und Holz auf einer Alp bei der Gummfluh abholen. De Sinner kennt jeden Gipfel, jede Bergkette, jedes Tal. Distanzen werden relativ, aber auch die Menschheit: «Am Boden meinen wir Menschen, wir seien das Zentrum der Welt», sagt der Pilot. Aus der Luft aber werde der Mensch ganz klein: «Die Zivilisation wird zu einer Märklin-Welt, winzig und unbedeutend.» Nur 300 Meter über Boden veränderten die Sicht auf die Welt: Von hier aus seien Natur und Landschaft, Berge und Wälder mächtig, nicht der Mensch.

Text: Manuela Ryter

Diese Reportage erschien am 30. Juli 2007 im "Bund".​

Blumenpflücker für die Zukunft
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Im Safiental ticken die Uhren langsamer. Abgelegen und idyllisch, gehört hier die Natur noch den Bauern und den Steinböcken. Doch für die Safier läuft die Zeit langsam ab. Die letzte Rettung heisst Tourismus. Wie ein Tal ohne Skilift, aber mit hohen Bergen um seine Zukunft kämpft.

Das Safiental beginnt im Postauto. Kurve für Kurve schlängelt sich der gelbe Bus aus der Rheinschlucht das Tal empor. Langsam und rumpelnd, über die schmale, schneebedeckte Strasse. «Wohin? Nach Safien?», fragt der Fahrer in breitem Bündner Dialekt und verzieht das Gesicht zu einem Grinsen, während er voll auf die Bremsen steht, damit das Postauto knapp vor dem Abgrund um die enge Kurve kommt. «Also nicht Berlin, nicht Paris?» Nein, Paris ist hier oben fast so weit entfernt wie der Mond.

Die Sonne. Knapp lugt sie über den hoch in den Himmel ragenden Felsmassen hervor, fast dreitausend Meter über Meer. Einst waren die Pässe, die das Walsertal in der Surselva eng umschliessen, der einzige Weg in die Aussenwelt. Doch das ist schon lange her. Oder doch nicht? Die Uhren ticken langsamer hier oben, sagen die Safier. Und bis die 30 Kilometer lange Holperstrasse durchgehend asphaltiert ist, dauert es mindestens noch 20 Jahre. Den Postautofahrer störts nicht, er zuckt mit den Schultern und pfeift gut gelaunt vor sich her. Draussen glitzert der Schnee in der Sonne, die Ställe der Viehzüchter thronen wie mächtige Burgen auf den Hügeln. Noch gehört die Natur hier oben Fuchs und Hase. Und den Bauern. Noch pflegen sie die saftigen Bergwiesen, die zur Schweiz gehören wie Heidi zum Peter. Und leben gut vom vielen Geld aus Bern. Aber vielleicht nicht mehr lange. Unrentable Bergregionen seien reine Geldverschwendung für die Schweiz, lassen die politischen Debatten im Flachland zugespitzt verlauten. Es sei an der Zeit, solche Täler zu entvölkern und der Natur zu überlassen. Für die Safier läuft die Zeit langsam ab. Es sei denn, die 1041 Einwohner zeigen, dass das Tal nicht nur um ihretwillen Millionen an Steuergeldern verschluckt - bedeutend mehr als andere Bergregionen. Die Losung heisst Tourismus. Doch eigentlich bleiben die Safier viel lieber unter sich.

Tourismus im Blut

Herz ist Trumpf. Maria Hunger-Fry hat aber kein Herz. Jedenfalls nicht in ihren Karten. Mit einem versöhnlich schnalzenden Laut wirft sie ihre letzte Karte auf den grünen, abgewetzten Jassteppich. Ein Versicherer, ein «Transpörtler», Safiens Jagdaufseher und ein Bauer, knochig und urchig, mit langem Bart wie aus dem Bilderbuch, sitzen mit ihr am Tisch. Gemütlich und gut gelaunt, im Rathaus, dem einzigen Gasthof im Ort. Safien Platz: Das sind ein Wasserkraftwerk, eine Schreinerei, ein Forstbetrieb und eine Schule. Der Arzt kommt einmal wöchentlich, die Coiffeuse kommt gar nicht mehr. Noch leben in der Gemeinde 350 Einwohner. Die Jungen aber ziehen nach Chur oder Zürich und kommen nicht wieder zurück. Dienstag ist Männerabend in Safien. Aber Maria, 49, gut aussehend und jung geblieben, hat hier lange genug gewirtet, um im gestandenen Männerkreis akzeptiert zu werden. In Safien hat sie einiges bewegt. Und weckt das Tal gemächlich aus seinem Schlaf.

Neue Wanderwege, Ferienwohnungen in alten Walserhäusern, eine Sauna im Schnee und Kartenmaterial für Tourenskifahrer und Wanderer, für Spurensucher und Wildforscher - das alles schwebt Maria Hunger-Fry vor. Keine Massen, sondern «sanfter Tourismus» soll sich in den vier kleinen Dörfern Versam, Valendas, Tenna und Safien etablieren: Biker, Eiskletterer, Kanufahrer und Spaziergänger - jene Leute eben, die sich auch ohne Skilift, Schneebar und Shopping-Mall beschäftigen können. Tourismus ist Maria Hunger-Frys Leidenschaft. Schliesslich ist sie Safiens Tourismusdirektorin - «ehrenamtlich, versteht sich». Mit Verbündeten gründete sie die IG Safiental Tourismus, lockte Künstler ins Tal und gestaltete die Webseite im Internet. «Wir leben nicht am Ende der Welt, sondern in einer der schönsten Ecken Graubündens», schreibt sie dort. Ein Aufruf an potenzielle Gäste, aber auch an die Safier, die potenziellen Gastgeber. Denn noch steht im Safiental jedes zweite Haus leer und keiner schert sich darum. Investiert wird in die Landwirtschaft und nicht in den Tourismus. Die Bauern - in Safien sind es 37 Betriebe, die jährlich mehrere Millionen Subventionen verschlucken - werden das Projekt Tourismus erst unterstützen, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Der Spielraum ist jedoch klein - die Gemeinden sind verschuldet und Kredite benötigen eine Bewilligung vom Kanton.

Der Kampf ums Überleben geht harzig voran. Doch langsam lassen sich auch die Politiker dafür begeistern: Gemeinsam mit den Touristikern gestalteten sie den «Wegweiser Tourismus», einen Fahrplan in die Zukunft. Mit mehr Kooperation soll das Safiental zur Marke werden für Kultur, Natur und Erholung. Die Gäste sind begeistert - in den Ferienzeiten ist jedes Bett vergeben. Dazwischen aber ist es tot im Safiental. Das will Maria ändern. Ihre Visionen sind allgegenwärtig - sie plaudert beim Nachtessen in ihrem Bauernhaus über die Umnutzung eines Maiensässes und auf der Schneeschuhtour zu den Eisfällen zuhinterst im Tal über die Vermarktung einheimischer Produkte. Nebenbei macht sie Fotos, damit alle im Internet sehen, wie Bergführer Christian Zinsli an Pickeln und Steigeisen den vereisten Wasserfall hochklettert - in der Hoffnung, die Leute auf ein Abenteuer «gluschtig» zu machen. Beim Jassen im Rathaus allerdings kommt Tourismus nicht zur Sprache.

Heimat - ein Menschenrecht?

An der Wand des Gasthofs hängen alte Fotos mit stolzen Bauern und kräftigen Kühen. Sie erinnern schwarz auf weiss an die Zeiten, als Heimat noch ein unantastbares Menschenrecht war und niemand davon sprach, abgelegene Täler seien aufzuforsten zu Naturparks für Rehe und Abenteurer. Als Maria noch Fry hiess und nicht Hunger wie jeder zweite im Tal und der Tourismus nach St. Moritz gehörte und nicht nach Safien Platz.

Sie ist eine Aussteigerin, wie viele andere 68er auch. Die einen gingen nach Indien. Maria kam ins Safiental. Zuhinterst, dort wo sich das Tal öffnet und sich die steilen Bergwände vereinen, übernahm sie als junge Frau das «Turrahus», bewirtete Bergler, Blumenpflücker und Tourenskifahrer. Zwei, drei Jahre wollte sie bleiben. Doch die Rätoromanin verliebte sich in die schöne Landschaft und in Safiens Schreinermeister. Das war vor 25 Jahren. Ein wenig «anders» blieb sie bis heute. Aber leben und leben lassen war schon immer das Motto der Walser. Und so lässt man auch sie leben, sie und ihren Tourismus. Auch wenn manch einer im Dorf den Kopf schüttelt.

«Tourismus?», fragt ein junger Landwirt am Stammtisch, der mit dem «Manneturnverein» ein Bier trinkt und Erdnüsse knabbert. Auch er schüttelt den Kopf. «Wofür denn? Bis die Touristen hier sind, bin ich schon lange nicht mehr da.» Die Männerrunde lacht ob der Vorstellung, Touristenmassen im Safiental anzutreffen. Was wollen die hier oben schon machen? Skilift habe es schliesslich keinen. «Auf der Strasse langlaufen!», ruft einer und erzählt, wie ihm am Morgen ein «Auswärtiger» auf Langlaufskis entgegenkam, «mitten auf der Strasse»! Er sei eigentlich für das Präparieren der Loipe zuständig, sagt er und blickt flüchtig auf den Nebentisch, wo Maria Hunger-Fry lachend und jassend ihren Charme ausspielt. «Aber leider bin ich noch nicht dazu gekommen.»

Lamas für die Zukunft

In Safien braucht alles seine Zeit - auch der Tourismus. Das wissen Angelika und Erwin Bandli nur zu gut. Auch sie sind «Aussteiger», grün und bodenständig, kamen nach Safien, «um wieder die Natur zu spüren». Aber in ihren Ställen stehen keine Rinder, sondern tibetische Yaks. Kein Hund bewacht den Hof, sondern ein mongolisches Kamel. Dschingis ist sein Name. Und damit Angelika und Erwin auch im Safiental Fremde zu Gesicht bekommen, kauften sie sich Lamas. Mit gestressten Städtern laufen sie nun seit fünf Jahren die Pässe hoch und kommen mit entspannten Menschen zurück. Doch die Ruhe im Tal wirkt nicht immer: Beim Gedanken an «jene ignoranten Politiker, die nur in Zahlen denken und das Safiental als nicht lebenswert bezeichnen», zieht Angelika Bandli wütend die Augenbrauen zusammen. Gegen diese Wut hilft auch das Lama nicht viel, das die Ohren in den Wind streckt und schläfrig hinter ihr her trottet. Dank dem Lamatrecking muss sich die Familie nicht auf die Direktzahlungen verlassen. Nötig seien sie trotzdem: Auch der Tourismus habe keine Chance, wenn das Safiental entvölkert sei. «Und die Bauern pflegen schliesslich das, was Touristen hier suchen: Die alte alpine Kulturlandschaft.»

Das Ende der Welt oder eine der schönsten Ecken Graubündens? Mehr Tourismus soll im Safiental neue Perspektiven öffnen. Christian Zinslis Touren zu den Eisfällen am Safierberg und Kamel Dschingis ziehen schon heute viele Gäste an. Maria Hunger-Fry/Manuela Ryter

Infos

Detaillierte Informationen: www.safiental.ch oder Verkehrsverein Safien (081 647 12 09).

Anreise: ÖV: Rhätische Bahn Chur- Versam, dann Postauto. Auto: Über Bonaduz (N 13) nach Versam.

Übernachtung: Gasthäuser: Thalkirch: Turrahus (081 647 12 03), Safien Platz: Rathaus (081 647 11 06), Tenna: Alpenblick (081 645 11 23) und Versam: Rössli (081 645 11 13). Lagerhäuser: Thalkirch: Thaler Lotsch (081 647 11 07), Tenna: Waldhaus (081 645 12 02). Privat: Schlafen im Stroh, in Alphütten oder Ferienwohnungen, Ferien auf dem Bauernhof. Siehe Homepage/ Verkehrsverein.

Angebot: Eisklettern, Biken, Wandern, Bergsteigen, Ski-/Schneeschuhtouren, Schlittschuhlaufen. Bergführer: C. Zinsli (079 683 80 30) und W. Stucki (081 921 68 38). Lamatrekking: Ein bis vier Tage (081 647 12 05, www.bandli.ch). Riverrafting/Kanu: 081 645 13 24.

Internetcafé im «z’cafi» in Safien Platz. 

 

Text: Manuela Ryter

Diese Reisereportage entstand für den Graubünden Nachwuchspreis für Reisejournalisten und erschien am 21. Januar 2006 im "Bund". 

 

Keuchend den Alten Schyn hinauf
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BIKEN IN GRAUBÜNDEN

Nach jedem Aufstieg eine rasante Abfahrt, hinter jedem Berg eine neue Welt. Wer mit dem Bike durchs Bündnerland fährt, zieht an romantischen Auen vorbei, bezwingt steile Pässe und fährt durch malerische Dörfer. Nun soll der Gebirgskanton als Bikerhochburg vermarktet werden.

Es ist nicht nur das prächtige Schloss des SVP-Bundesrats, mächtig über dem Hinterrhein thronend, das den Bikertrupp zum Stoppen bringt. Es ist auch der Ausblick auf das sprudelnde, milchig-blaue Wasser, das in Rhäzüns über die Steine fliesst, es ist die kahle, steile Schlucht, es sind die tannengrünen Berge. Sie bieten eine lohnende Gelegenheit für ein erstes Ausschnaufen seit dem Beginn der Bike-Tour in Chur. Vier Tage soll die Reise dauern, quer durch die vielen Landschaften des gebirgigen Kantons.

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150 Täler zählt Graubünden, der flächenmässig grösste Kanton der Schweiz, und jedes davon hat seine eigene Landschaft und Geschichte. Diese Vielfalt macht das Bündnerland für den Biker interessant: Es gibt unzählige Pässe zu bezwingen, steile Abfahrten auf Schotterwegen oder schmalen Pfaden, Single-Tracks genannt, aber auch sanfte Wege entlang von Flüssen und Auen. Viel schneller als der Wanderer und doch in dessen Spur, kann der Biker inmitten der Natur in kurzer Zeit stattliche Distanzen zurücklegen. «So viele ungeteerte Strassen, Wander- und Forstwege gibt es in der Schweiz in kaum einer anderen Region», sagt Gerd Schierle aus Parpan, der als «Bike-Explorer» bekannt ist - unter diesem Label bietet er Tourenvorschläge, Infos und Bike-Karten an.

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Sanft führt der Weg ins hügelige Domleschg. Grasende Kühe beobachten mit gewohnter Gleichgültigkeit die keuchenden Biker. «Burgenland von Graubünden» wird das Tal genannt. Tomils, Paspels, Scharans - die schmucken Dörfer sind menschenleer, die Zeit scheint still zu stehen. Kein Laut ist zu hören, nur das Zirpen der Grillen und das Knirschen der Räder. Häuser und Menschen passen sich der Landschaft, ihrer Ruhe und Intensität, an.

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Wer mit dem Bike durch Graubünden fährt, kommt zwar auch wegen der Ruhe in den Bergen - sucht jedoch immer auch die Herausforderung: Er will Kilometer runterspulen, Höhenmeter bezwingen. «Viele Touren beginnen hier bereits auf 1000 oder 1500 Metern», sagt Schierle, «erst auf dieser Höhe wird es spannend.»

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Scharans liegt auf 760 Metern. Lenzerheide auf 1500. Fast bedrohlich ragt die Bergwand des Alten Schyn vor dem anfahrenden Biker in den Himmel. Der Weg wird steiler, schmaler und steiniger, im kleinsten Gang strampelt man in der brütenden Hitze langsam empor. Die Zeit, Schmetterlinge zu beobachten und die Landschaft zu bestaunen, findet man erst oben. Dieses Gefühl, den Gipfel erreicht und die Strapazen überwunden zu haben, ist es, was viele Biker überwältigt. Und dann die Abfahrt ins nächste Tal, in vollem Tempo den Abhang hinunter, das Fahrrad auf dem losen Geröll der Schotterwege balancierend. Einem Wanderer begegnet man so gut wie nie.

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Erstellt wurden die vielen Wege für Wanderer - erst in den letzten Jahren wurden sie von den Bikern erobert, was von der Wanderlobby nicht immer goutiert wurde. «Biken war bis vor einem Jahr ein rotes Tuch im Graubünden», sagt Claudio Duschletta von Engadin Tourismus. Das solle sich nun ändern, denn es komme fast nur im Tal zu Problemen zwischen Velofahrern und Spaziergängern, «in der Höhe gibt es kaum Konflikte».

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Von Lenzerheide führt der Weg auf schmalen Single-Tracks nach Alvaschein und ins Landwassertal, vorbei am berühmten, hundertjährigen Landwasserviadukt der Rhätischen Bahn. Man fährt durch tiefe Wälder, das Bike muss hier über einen Baumstamm getragen, dort über steile, verwurzelte Wegstücke gestossen werden. Wer schliesslich von Bergün ins Engadin gelangen will, hat die Wahl: Er nimmt die 900 Höhenmeter des Albulapasses unter die Räder - oder setzt sich zwischen die Touristen in der Rhätischen Bahn, die über viele Rundtunnels und Viadukte den Albula passiert: Die gemütliche Version, einen Pass zu überwinden.

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Nicht nur die Rhätische Bahn, die in fast allen Zügen Selbstverlad von Bikes anbietet, auch die Touristiker haben das Potenzial von Graubünden als Biker-Destination erkannt. Mit Bike-Karten, geführten und ausgeschilderten Touren, Bikeparcours, Downhillstrecken, GPS-Touren (Text unten), Rennen und Bike-Hotels wollen sie das Wanderparadies nun auch zur Bikerhochburg machen - in der Hoffnung, so den Sommertourismus anzukurbeln. Einzig die Bergbahnen machen nicht mit - viele Betreiber weigern sich, die sperrigen Bikes zu transportieren.

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Hinter dem Albula ist das Tor ins Oberengadin, in eine neue Welt - das Tal erstreckt sich mit sanften Steigungen von Pontresina nach Zernez, durch steile Bergketten hindurch. Ein Radweg dem Inn entlang führt an romantischen Auenseen vorbei, in denen sich die Berge spiegeln. Alte, schöne Häuser mit Sgraffito-Verzierungen stehen neben protzigen Ferienhäusern ohne Charme. Erst im Unterengadin in Lavin oder Guarda, Ardez oder Ftan findet man in die engen, malerischen Bündner Dörfer und zum sanfteren Tourismus zurück. Die Brunnen warten stets mit frischem Wasser - in Scuol sprudelt gar säuerliches Mineralwasser aus dem Dorfbrunnen.

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Biken boomt, und an Initiativen fehlt es nicht. Gute Karten und Infos zu Wegbeschaffenheit, Kondition- und Technikanforderung sind für den Biker von Auswärts ein Muss, denn nicht alle Wanderwege sind auch mit dem Bike passierbar. Zwar bietet die Dachorganisation «Graubünden Ferien» verschiedene Informationen an, doch der Individualbiker muss sich durch etliche Webseiten, Tourenangebote und Prospekte kämpfen - es sei denn, er fährt nach einem Führer, der Tourenvorschläge, Karten und Infos im Internet, als Buch oder auf DVD anbietet.

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Nicht nur um das Bike zu schonen verlässt man das Engadin wieder im roten Zug, diesmal durch den Vereina-Tunnel ins Prättigau. Hier ist alles grüner, die Berge sind hügeliger, die Häuser aus Holz, die Sprache wieder Deutsch. Und Chur rückt immer näher.


Zweittext:  

Mit GPS in die Berge

Biken fast ohne Karte - immer mehr Bike-Touren in Graubünden werden mit Navigationssystem angeboten

Wer seine Ferien in Lenzerheide mit Biken verbringen will, hat es einfach: Er sucht sich im Tourismusbüro oder Internet eine Tour aus, lädt sie für wenige Franken auf sein - oder das gemietete - GPS-Gerät und fährt los. GPS, kurz für Global Positioning System, ist Zukunftsmusik für den Biketourismus: Das Gerät ist nicht viel grösser als ein Handy, wird am Lenker befestigt und zeigt dem Biker via Satelliten Standort und Fahrtroute an - er muss einzig der roten, einprogrammierten Linie nachfahren. Regelmässiges Halten und Kartenlesen bei jeder Kreuzung gehört somit der Vergangenheit an, der Biker kann wortwörtlich «seiner Nase» nach fahren.

GPS ist im Grunde das Satelliten-Navigationssystem des US-Verteidigungsdepartements. 28 Satelliten kreisen um die Erde und senden Informationssignale aus. Das GPS-Gerät empfängt diese und errechnet so seine Standortkoordinaten aus - bei gutem Empfang bis auf 3 Meter genau. Was für Biker von Vorteil ist: Der virtuelle Führer berechnet auch zurückgelegte und noch zu bewältigende Distanz, Höhenmeter und Geschwindigkeit.

Der virtuelle Führer

Statt selber Touren zu planen und auf gut Glück abzufahren, bietet sich GPS also gerade für den ortsfremden Biketouristen an. Lenzerheide bietet insgesamt 20 Touren an, von einfach bis schwierig, von leicht bis anstrengend. Ausführliche Angaben zum Schwierigkeitsgrad der Route, Aussichtspunkten und Wegbeschaffenheit wird in einem handlichen Führer mitgeliefert. GPS-Touren werden auch in Savognin und im Münstertal angeboten, in anderen Bündner Ferienorten wird das Angebot aufgebaut. GPS-Touren sind auch im Internet herunterladbar, Vorsicht ist jedoch geboten bei Anbietern, die ihre Tourenvorschläge nicht selber abgefahren sind.

«GPS ersetzt die Karte nicht»

So einfach das System ist - es darf nicht überschätzt werden, sonst steht man bald ratlos an der nächsten Kreuzung. «Wer GPS benutzt, muss wissen, was es kann und was es nicht kann», sagt «Bike-Explorer» Gerd Schierle, der seit 15 Jahren Biketouren recherchiert und diese nun auch als GPS-Touren anbietet. «Wenn es regnet, hat man im Wald keinen Empfang», sagt er. Schlecht sei der Satellitenempfang auch in Schluchten oder an Hängen mit steiler Neigung, «da ist man schnell einmal um 30 Meter verschoben». Nicht zu vergessen sei auch ein möglicher technischer Defekt oder ganz einfach leere Batterien. «GPS wird immer nur ein Zusatzhilfsmittel sein, die Karte ersetzt es nicht», sagt der ehemalige Profirennradfahrer und -biker. Er sieht denn auch eine Gefahr, wenn unerfahrene Touristen per GPS durch Berge und Wälder kurven. Denn wenn das Gerät versagt, können sie froh sein, wenn sie den Weg zurück wiederfinden.

Infos für Biker

Bike-Touren: www.graubuendenferien.ch; Biken o. Gepäck: engadinferien.ch, daroserheide.ch; Gourmet-Tour: bike-gourmet-tour.ch; rad-bike-arena.com; Nationalpark-Bike-Tour/Wellness-Tour: scuol.ch.

Bike-Führer: bike-explorer.ch (Graubünden, Top of Graubünden, Mittelbünden, Unterengadin); Veloland Schweiz (Band 6); MTB-Bikeführer von Vital Eggenberger; Cycline MTB-Guide Engadin.

Bike-Karten: graubuendenferien.ch, biketrailmap.ch.

GPS-Touren: bikerheide.ch, bike-explorer.ch. Miete GPS: 25 Franken.

Bike-Hotels: Mit Bikekeller, Werkstatt, Bikernahrung, Wäscheservice: bikehotels.ch, Lenzerheide: bikerheide.ch, Scuol: bellaval-scuol.ch, Pontresina: sporthotel.ch.

Bike-School: frischibikeschool.ch

Bike-Park: In Samedan und Scuol.

Bike-Events: Swisspower Cup, Samedan, 20.-21. Aug.; Nationalpark Bike-Marathon, Scuol, 15. Aug.

Bike-Transport: Tageskarte RhB: 15/10 Franken (o./m. Halbtax).

Text: Manuela Ryter

Diese Reisereportage erschien am 11. Juli 2005 im "Bund". 

 

Ski fahren auf Wolke 7
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13 Sehbehinderte sind mit dem Skikurs der Blindenskischule Frutigen auf der Piste

Sie fahren mal schnell und mal vorsichtig, geniessen den Wind in den Haaren und die Sonne auf dem Gesicht - einzig die Berge können sie nicht sehen. 13 Sehbehinderte aus der ganzen Schweiz fahren bis am Freitag mit der Blindenskischule Frutigen Ski - ein jeder im Team mit seinem Skilehrer.

Mit Sonnenbrille und roter Mütze steht Sabine Reist auf der Piste und fährt langsam los, ihre Skilehrerin Katrin Ramu dicht hinterher. Es ist noch früh, die Sonne wirft die ersten Strahlen in die verschneite Berglandschaft auf der Elsigenalp. Synchron fahren die beiden in grossen Bögen die Piste hinunter, Ramu wirft alle paar Momente einen kontrollierenden Blick nach hinten. Der Schnee knirscht laut unter den Skiern. Unten angekommen, lässt sich Sabine in den Schnee fallen. Sie lacht und geniesst die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Über der Skijacke trägt sie eine Weste mit der Aufschrift «Sehbehindert». Sabine ist fast blind - nur mit dem linken Auge kann sie Umrisse erkennen. Aber das bringe ihr beim Skifahren nichts.

Skilehrer und Blinde im Team

Ihre eigenen Augen können die 13 Sehbehinderten, die seit Freitag am Skikurs der Blindenskischule Frutigen teilnehmen, nicht oder kaum gebrauchen. Umso mehr sind sie auf jene ihrer Skilehrer angewiesen. Zu zweit fahren sie die Piste hinunter, mal schnell und mal vorsichtig, wie alle anderen auch, - aber eben im Team, mit nur einem Paar sehenden Augen.

Die Vertrautheit unter den Teilnehmern und Skilehrern ist gross, die Freude offensichtlich: «Es ist auch für uns eine Bereicherung, mit sehbehinderten Menschen zusammenzuarbeiten», sagt Urs Ramu, der die Blindenskischule Frutigen leitet. Er hat Erfahrung mit blinden Gästen: 1988 gründete er die Blindenschule mit anderen Skilehrern - das Know-how erlernten sie von Blindenskilehrern aus St. Moritz. Heute geben sie 320 Halbtageslektionen pro Jahr. «Das ist nur möglich dank einem Fonds der Skischule und dem Entgegenkommen der Bahnen - auf der Elsigen- und Engstligenalp sowie in Aeschi fahren die Blinden gratis.»

Schneller als mit Blindenhund

Blind Ski zu fahren ist für Sehende unvorstellbar: Mit Geschwindigkeit ins Schwarze zu brettern und eine Piste hinunterzukurven, deren Hangneigung, Buckel, Eisschichten und Schanzen man nicht sieht, einzig der Stimme des Skilehrers vertrauend? Schon beim kurzen Selbstversuch verliert man sofort Orientierung und Gleichgewicht, und die Skier verkanten im harten Schnee.

Für sie sei das ganz normal, sagt Sabine Reist. Sie sei nun schon zum vierten Mal mit dabei: «Ich stelle mir das Gelände - und auch die Bergwelt - dank den Beschreibungen vor, wie auf einem Foto», erklärt sie. Sie liebe die Geschwindigkeit, mit der sie die Pisten hinunterflitzen könne, sagt die 23-jährige KV-Angestellte aus Zuchwil. Sie geniesse es, einmal schneller unterwegs zu sein, als mit ihrem Blindenhund, und den Wind im Gesicht zu spüren. Angst habe sie dabei keine - Vertrauen in andere gehöre zu ihrem Alltag.

«3-2-1-Abbügeln»

Über einen Funk im Ohr erhält Sabine Reist die Anweisungen ihrer Skilehrerin: Auf das Kommando «3-2-1-Abbügeln» lässt sie den Bügel los, und als Katrin Ramu ihr sagt, sie könne «nach elf Uhr abfahren», fährt sie los, ein wenig links gerichtet. Wie beim Essen werden die verschiedenen Richtungen auch beim Blindenskifahren nach dem Zifferblatt angegeben: Zwölf Uhr ist dort, wo die Skier hinzeigen, neun Uhr ist 90 Grad links davon, drei Uhr rechts.

Sabine Reist fährt ohne Zögern los, Katrin Ramu dicht hinter ihr her: «Liiiinks, rechts, liiiinks, rechts», spricht diese in ihr Mikrophon. Je länger ein Wort ausgesprochen wird, desto grösser soll der Bogen werden. In leichter Rücklage erspürt sie mit den Skiern den Schnee, fährt die Kurven aus und carvt sogar - auf Kommando. «Blinde haben beim Skifahren eine andere Körperhaltung, denn sie agieren nicht wie Sehende, sondern sie reagieren», sagt Katrin Ramu. Der Kontakt dürfe deshalb nie abbrechen. Das sei auch für sie eine grosse Herausforderung: «Man muss den Gast auf alle Seiten abschirmen und ihm gleichzeitig exakte Anweisungen geben», sagt sie, das erfordere extreme Konzentration.

Dem schwarzen Strich hinterher

Sehbehinderte, die genügend sehen können, fahren dem Skilehrer nicht voraus, sondern hinterher. Roberta Angelini aus Basel sieht zwar nicht, ob nun Piste, Tiefschnee oder Eis vor ihr liegen, aber sie sieht einen schwarzen Strich, dem sie hinterherfährt - es ist ihr Skilehrer. Es gehe ihr jedoch nicht nur ums Skifahren, sagt die aufgestellte Italienerin mit den pechschwarzen Augen: Sie mache auch gerne mal eine Pause zum Plaudern oder geniesse die Sonne.

Fasziniert vom Skifahren sind sie alle: Die Tessinerin Marija Barsic erzählt, sie spüre beim Fahren ein riesiges Freiheitsgefühl. Für die Bernerin Doris Stalder ist Ski fahren nicht Freiheit - schon eher hartes Training: «In Bewegung kann man nicht alles ertasten - was unter meinen Skiern passiert, muss ich spüren», sagt sie. Sie gehe jeweils auch in die Tourenwoche und das Hochgebirgslager, die wie dieser Skikurs vom Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) ausgeschrieben und mitfinanziert werden. Durch dieses Training werde sie auch in der Stadt viel sicherer.

Und sie geniesse es, sich einfach mal führen lassen zu können, ohne Angst, irgendwo anzustossen: «Hier kann ich ausklinken. Die vielen Schwierigkeiten, die sich im Alltag tagtäglich stellen, gibt es hier nicht - es ist wie auf Wolke 7», schwärmt die medizinische Masseurin. Sie sei sehr dankbar, dass sich Sehende so viel Mühe geben, um ihnen dieses Erlebnis zu ermöglichen - «wir sind wie eine grosse Familie».

Text: Manuela Ryter

Diese Reportage erschien am 20. Januar 2005 im "Bund". ​