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Blumenpflücker für die Zukunft
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Im Safiental ticken die Uhren langsamer. Abgelegen und idyllisch, gehört hier die Natur noch den Bauern und den Steinböcken. Doch für die Safier läuft die Zeit langsam ab. Die letzte Rettung heisst Tourismus. Wie ein Tal ohne Skilift, aber mit hohen Bergen um seine Zukunft kämpft.

Das Safiental beginnt im Postauto. Kurve für Kurve schlängelt sich der gelbe Bus aus der Rheinschlucht das Tal empor. Langsam und rumpelnd, über die schmale, schneebedeckte Strasse. «Wohin? Nach Safien?», fragt der Fahrer in breitem Bündner Dialekt und verzieht das Gesicht zu einem Grinsen, während er voll auf die Bremsen steht, damit das Postauto knapp vor dem Abgrund um die enge Kurve kommt. «Also nicht Berlin, nicht Paris?» Nein, Paris ist hier oben fast so weit entfernt wie der Mond.

Die Sonne. Knapp lugt sie über den hoch in den Himmel ragenden Felsmassen hervor, fast dreitausend Meter über Meer. Einst waren die Pässe, die das Walsertal in der Surselva eng umschliessen, der einzige Weg in die Aussenwelt. Doch das ist schon lange her. Oder doch nicht? Die Uhren ticken langsamer hier oben, sagen die Safier. Und bis die 30 Kilometer lange Holperstrasse durchgehend asphaltiert ist, dauert es mindestens noch 20 Jahre. Den Postautofahrer störts nicht, er zuckt mit den Schultern und pfeift gut gelaunt vor sich her. Draussen glitzert der Schnee in der Sonne, die Ställe der Viehzüchter thronen wie mächtige Burgen auf den Hügeln. Noch gehört die Natur hier oben Fuchs und Hase. Und den Bauern. Noch pflegen sie die saftigen Bergwiesen, die zur Schweiz gehören wie Heidi zum Peter. Und leben gut vom vielen Geld aus Bern. Aber vielleicht nicht mehr lange. Unrentable Bergregionen seien reine Geldverschwendung für die Schweiz, lassen die politischen Debatten im Flachland zugespitzt verlauten. Es sei an der Zeit, solche Täler zu entvölkern und der Natur zu überlassen. Für die Safier läuft die Zeit langsam ab. Es sei denn, die 1041 Einwohner zeigen, dass das Tal nicht nur um ihretwillen Millionen an Steuergeldern verschluckt - bedeutend mehr als andere Bergregionen. Die Losung heisst Tourismus. Doch eigentlich bleiben die Safier viel lieber unter sich.

Tourismus im Blut

Herz ist Trumpf. Maria Hunger-Fry hat aber kein Herz. Jedenfalls nicht in ihren Karten. Mit einem versöhnlich schnalzenden Laut wirft sie ihre letzte Karte auf den grünen, abgewetzten Jassteppich. Ein Versicherer, ein «Transpörtler», Safiens Jagdaufseher und ein Bauer, knochig und urchig, mit langem Bart wie aus dem Bilderbuch, sitzen mit ihr am Tisch. Gemütlich und gut gelaunt, im Rathaus, dem einzigen Gasthof im Ort. Safien Platz: Das sind ein Wasserkraftwerk, eine Schreinerei, ein Forstbetrieb und eine Schule. Der Arzt kommt einmal wöchentlich, die Coiffeuse kommt gar nicht mehr. Noch leben in der Gemeinde 350 Einwohner. Die Jungen aber ziehen nach Chur oder Zürich und kommen nicht wieder zurück. Dienstag ist Männerabend in Safien. Aber Maria, 49, gut aussehend und jung geblieben, hat hier lange genug gewirtet, um im gestandenen Männerkreis akzeptiert zu werden. In Safien hat sie einiges bewegt. Und weckt das Tal gemächlich aus seinem Schlaf.

Neue Wanderwege, Ferienwohnungen in alten Walserhäusern, eine Sauna im Schnee und Kartenmaterial für Tourenskifahrer und Wanderer, für Spurensucher und Wildforscher - das alles schwebt Maria Hunger-Fry vor. Keine Massen, sondern «sanfter Tourismus» soll sich in den vier kleinen Dörfern Versam, Valendas, Tenna und Safien etablieren: Biker, Eiskletterer, Kanufahrer und Spaziergänger - jene Leute eben, die sich auch ohne Skilift, Schneebar und Shopping-Mall beschäftigen können. Tourismus ist Maria Hunger-Frys Leidenschaft. Schliesslich ist sie Safiens Tourismusdirektorin - «ehrenamtlich, versteht sich». Mit Verbündeten gründete sie die IG Safiental Tourismus, lockte Künstler ins Tal und gestaltete die Webseite im Internet. «Wir leben nicht am Ende der Welt, sondern in einer der schönsten Ecken Graubündens», schreibt sie dort. Ein Aufruf an potenzielle Gäste, aber auch an die Safier, die potenziellen Gastgeber. Denn noch steht im Safiental jedes zweite Haus leer und keiner schert sich darum. Investiert wird in die Landwirtschaft und nicht in den Tourismus. Die Bauern - in Safien sind es 37 Betriebe, die jährlich mehrere Millionen Subventionen verschlucken - werden das Projekt Tourismus erst unterstützen, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Der Spielraum ist jedoch klein - die Gemeinden sind verschuldet und Kredite benötigen eine Bewilligung vom Kanton.

Der Kampf ums Überleben geht harzig voran. Doch langsam lassen sich auch die Politiker dafür begeistern: Gemeinsam mit den Touristikern gestalteten sie den «Wegweiser Tourismus», einen Fahrplan in die Zukunft. Mit mehr Kooperation soll das Safiental zur Marke werden für Kultur, Natur und Erholung. Die Gäste sind begeistert - in den Ferienzeiten ist jedes Bett vergeben. Dazwischen aber ist es tot im Safiental. Das will Maria ändern. Ihre Visionen sind allgegenwärtig - sie plaudert beim Nachtessen in ihrem Bauernhaus über die Umnutzung eines Maiensässes und auf der Schneeschuhtour zu den Eisfällen zuhinterst im Tal über die Vermarktung einheimischer Produkte. Nebenbei macht sie Fotos, damit alle im Internet sehen, wie Bergführer Christian Zinsli an Pickeln und Steigeisen den vereisten Wasserfall hochklettert - in der Hoffnung, die Leute auf ein Abenteuer «gluschtig» zu machen. Beim Jassen im Rathaus allerdings kommt Tourismus nicht zur Sprache.

Heimat - ein Menschenrecht?

An der Wand des Gasthofs hängen alte Fotos mit stolzen Bauern und kräftigen Kühen. Sie erinnern schwarz auf weiss an die Zeiten, als Heimat noch ein unantastbares Menschenrecht war und niemand davon sprach, abgelegene Täler seien aufzuforsten zu Naturparks für Rehe und Abenteurer. Als Maria noch Fry hiess und nicht Hunger wie jeder zweite im Tal und der Tourismus nach St. Moritz gehörte und nicht nach Safien Platz.

Sie ist eine Aussteigerin, wie viele andere 68er auch. Die einen gingen nach Indien. Maria kam ins Safiental. Zuhinterst, dort wo sich das Tal öffnet und sich die steilen Bergwände vereinen, übernahm sie als junge Frau das «Turrahus», bewirtete Bergler, Blumenpflücker und Tourenskifahrer. Zwei, drei Jahre wollte sie bleiben. Doch die Rätoromanin verliebte sich in die schöne Landschaft und in Safiens Schreinermeister. Das war vor 25 Jahren. Ein wenig «anders» blieb sie bis heute. Aber leben und leben lassen war schon immer das Motto der Walser. Und so lässt man auch sie leben, sie und ihren Tourismus. Auch wenn manch einer im Dorf den Kopf schüttelt.

«Tourismus?», fragt ein junger Landwirt am Stammtisch, der mit dem «Manneturnverein» ein Bier trinkt und Erdnüsse knabbert. Auch er schüttelt den Kopf. «Wofür denn? Bis die Touristen hier sind, bin ich schon lange nicht mehr da.» Die Männerrunde lacht ob der Vorstellung, Touristenmassen im Safiental anzutreffen. Was wollen die hier oben schon machen? Skilift habe es schliesslich keinen. «Auf der Strasse langlaufen!», ruft einer und erzählt, wie ihm am Morgen ein «Auswärtiger» auf Langlaufskis entgegenkam, «mitten auf der Strasse»! Er sei eigentlich für das Präparieren der Loipe zuständig, sagt er und blickt flüchtig auf den Nebentisch, wo Maria Hunger-Fry lachend und jassend ihren Charme ausspielt. «Aber leider bin ich noch nicht dazu gekommen.»

Lamas für die Zukunft

In Safien braucht alles seine Zeit - auch der Tourismus. Das wissen Angelika und Erwin Bandli nur zu gut. Auch sie sind «Aussteiger», grün und bodenständig, kamen nach Safien, «um wieder die Natur zu spüren». Aber in ihren Ställen stehen keine Rinder, sondern tibetische Yaks. Kein Hund bewacht den Hof, sondern ein mongolisches Kamel. Dschingis ist sein Name. Und damit Angelika und Erwin auch im Safiental Fremde zu Gesicht bekommen, kauften sie sich Lamas. Mit gestressten Städtern laufen sie nun seit fünf Jahren die Pässe hoch und kommen mit entspannten Menschen zurück. Doch die Ruhe im Tal wirkt nicht immer: Beim Gedanken an «jene ignoranten Politiker, die nur in Zahlen denken und das Safiental als nicht lebenswert bezeichnen», zieht Angelika Bandli wütend die Augenbrauen zusammen. Gegen diese Wut hilft auch das Lama nicht viel, das die Ohren in den Wind streckt und schläfrig hinter ihr her trottet. Dank dem Lamatrecking muss sich die Familie nicht auf die Direktzahlungen verlassen. Nötig seien sie trotzdem: Auch der Tourismus habe keine Chance, wenn das Safiental entvölkert sei. «Und die Bauern pflegen schliesslich das, was Touristen hier suchen: Die alte alpine Kulturlandschaft.»

Das Ende der Welt oder eine der schönsten Ecken Graubündens? Mehr Tourismus soll im Safiental neue Perspektiven öffnen. Christian Zinslis Touren zu den Eisfällen am Safierberg und Kamel Dschingis ziehen schon heute viele Gäste an. Maria Hunger-Fry/Manuela Ryter

Infos

Detaillierte Informationen: www.safiental.ch oder Verkehrsverein Safien (081 647 12 09).

Anreise: ÖV: Rhätische Bahn Chur- Versam, dann Postauto. Auto: Über Bonaduz (N 13) nach Versam.

Übernachtung: Gasthäuser: Thalkirch: Turrahus (081 647 12 03), Safien Platz: Rathaus (081 647 11 06), Tenna: Alpenblick (081 645 11 23) und Versam: Rössli (081 645 11 13). Lagerhäuser: Thalkirch: Thaler Lotsch (081 647 11 07), Tenna: Waldhaus (081 645 12 02). Privat: Schlafen im Stroh, in Alphütten oder Ferienwohnungen, Ferien auf dem Bauernhof. Siehe Homepage/ Verkehrsverein.

Angebot: Eisklettern, Biken, Wandern, Bergsteigen, Ski-/Schneeschuhtouren, Schlittschuhlaufen. Bergführer: C. Zinsli (079 683 80 30) und W. Stucki (081 921 68 38). Lamatrekking: Ein bis vier Tage (081 647 12 05, www.bandli.ch). Riverrafting/Kanu: 081 645 13 24.

Internetcafé im «z’cafi» in Safien Platz. 

 

Text: Manuela Ryter

Diese Reisereportage entstand für den Graubünden Nachwuchspreis für Reisejournalisten und erschien am 21. Januar 2006 im "Bund".