Anflug auf Bern via «Hotel Whisky»

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Mit dem Heli fliegt Pilot Nicolas de Sinner Lasten auf Hochhäuser oder zu Alphütten - und überblickt Stadt und Land von oben.​

Von oben betrachtet ist die Menschheit plötzlich ganz klein, sagt Pilot Nicolas de Sinner. Mit der Crew der Heliswiss transportiert er Masten, Klimaanlagen, Antennen, Holz oder auch Tiere mit dem Helikopter durch die Lüfte und setzt sie millimetergenau wieder ab - auf dem Bahnhofturm in Bern oder in den Alpen.​

​Mit leisem Surren setzen sich die Rotoren in Bewegung. Wie Schwerter zerschneiden sie die Luft, immer schneller und schneller. 50- 100-, 200-, 400-mal pro Minute. Nun dröhnt es im Innern des Helikopters auf der kleinen Flugbasis der Heliswiss beim Flughafen Gruyères. Nicolas de Sinner setzt sich den Gehörschutz auf, testet das Mikrofon. Vor ihm leuchten unzählige Lämpchen, er kntrolliert jedes einzelne, jede Anzeige, jeden Knopf. «Also, los gehts», ruft er, und seine drei Flughelfer steigen in den ratternden Helikopter. Die Maschine des Typs Écureuil hebt ab, sanft und leicht wie ein Spielzeug, von Kinderhand durch die Lüfte getragen. Die erste Mission der Crew: Auf dem Weg nach Köniz und Bern, wo mehrere Aufträge anstehen, warten auf einer Alp drei Paletten mit Baumaterial auf den Transport ins Tal. 

Ein Lächeln liegt auf Nicolas de Sinners Lippen. Er blickt hinunter auf die Erde, auf die Felder, die in einem riesigen Mosaik die Häuser umkreisen. Dunst liegt über dem Greyerzersee, doch im Tal Richtung Schwarzsee, in welches der Pilot steuert, leuchten die Wiesen und Wälder bereits in der Morgensonne. Am Morgen sei die Stimmung am schönsten, sagt er - auch wenn jeder Flug einzigartig sei, egal zu welcher Tageszeit oder bei welchem Wetter. ​De Sinner mag es, die «wunderschöne Landschaft» von oben zu betrachten. Die Zeit dazu findet der 51-Jährige jedoch nur auf Überflügen. Sonst ist er jeweils so konzentriert bei der Arbeit hoch oben am Himmel, dass er keine Zeit hat für die Welt, die ihm zu Füssen liegt.

Im Nu vom Flugplatz auf der Alp

Der Helikopter schwebt nun 300 Meter über Boden. Doch die Erde erscheint nah im heli, der vorne fast nur aus Plexiglas besteht - für eine perfekte Sicht auf die Lasten. Seit 30 Jahren fliegt de Sinner in den rotweissen Helikoptern der Heliswiss Lasten durch die Lüfte, transportiert sie an Orte, wo Lastwagen zu gross und Krane zu klein sind, um hinzugelangen: Er setzt bei Alphütten Waren ab, er transportiert frisch gefällte Bäume aus dichten Wäldern, er platziert Antennen auf Hochhäuser und setzt Masten zusammen, über die später Luftseilbahnen die Berge hochrattern. Und nicht selten fliegt er Kühe am 50 Meter langen Seil durch die Luft, um sie einzeln von der Alp ins Tal zu bringen.

Beim Helifliegen werde er wieder um kleinen Bub, sagt de Sinner. «Der Heli ist für mich wie ein grosses Spielzeug.» Er habe das Bild noch vor sich, wie er als Kind zum ersten Mal einen Armeeheli sah: Wie er übers Feld rannte, bis er ganz nah war, fasziniert vom Ungetüm, das vom Boden abhob und ganz ruhig in der Luft schwebte. Doch erst Jahre später, als er im Fernsehen Reportagen über eine Rettung an der Eigernordwand sah, dachte er an seinen Bubentraum zurück. 

«Hier irgendwo sollte die Hütte sein», sagt de Sinner zu seiner Crew und kreist um eine Alphütte auf dem Grad beim Schwyberg. Dann erblickt er die winkenden Menschen, steuert auf sie zu, sinkt und landet. Gras wirbelt durch die Luft, die Flughelfer steigen aus, rennen gebeugt aus dem Radius der Rotoren hinaus, die im unebenen Gelände gefährlich tief drehen. Der Pilot bringt «schnell» einen Passagier nach Schwarzsee, während die Crew Seile um die mit Blachen bespannten Paletten bindet. Die plötzliche Stille und Einsamkeit der Berghütte in der Morgensonne ist bizarr: so abgeschieden und doch nur wenige Flugminuten vom Flugplatz entfernt. Bald erscheint der Heli wieder am Himmel, um die Lasten abzuholen - mit dem ratternden Geräusch, das ans Skifahren erinnert. An gebrochene Beine und schmerzverzerrte Gesichter.

Himmel über Bern ist kontrolliert

​Mit der Crew an Bord hebt de Sinner wieder ab, in leichtem Sturzflug und mit enger Kurve, bis er wieder an Höhe gewinnt. Es ist wie Achterbahnfahren, nur sanfter  und eindrücklicher. Von oben sieht die Welt wieder ganz klein aus: Ein winziges gelbes Postauto kriecht in den Hügeln von Guggisberg die Kurven empor, die mächtigen Bauernhäuser sind zu kleinen Flecken geschrumpft. Die Idylle ist perfekt. Der Heli fliegt am Gantrisch vorbei, am Horizont erscheint bald die Gurtenantenne und weiter hinten der Sendeturm auf dem Bantiger. 

«Inbound Hotel Whisky», meldet de Sinner dem Tower von Bern und gibt damit seine Position - im Westen von Bern - durch. Das ist Pflicht, denn der Himmel über Bern wird kontrolliert: Jeder, der in die Kontrollzone fliegen will, muss sich beim Tower melden. Berns Süden heisst «Sierra», der Norden «November» und der Osten «Hotel Eco». In der Helisprache, um Missverständnisse zu verhindern.

Flughafen Belp: De Sinner startet «zur neuen Mission» beim Gymnasium Lerbermatt in Köniz. Eine neue Lüftung muss aufs Dach. Hier ist eine neue Crew zuständig, die drei Flughelfer aus Gruyères fahren im Auto bereits zum nächsten Arbeitsort: Bahnhof Bern, Postautoperrons. Auf dem Bahnhofturm muss das neue Funksystem der Kantonspolizei installiert werden. Die Lastwagen sind schon da: Die Flughelfer binden die Funkanlagen mit Seilen ein oder hüllen sie gekonnt in riesige Netze. Alls muss schnell gehen, denn schon bald ist ein roter Punkt am Himmel zu sehen, der immer näher heranschwebt, das lange Seil hinter sich herziehend. Flughelfer Marco Sartori steht auf dem Bahnhofturm, wartet und betrachtet das Rundpanorama: das Münster, die Universität, das Geleisewirrwarr. Menschen, die aneinander vorbeihetzen. Dann geht es Schlag auf Schlag: Der Helikopter schwebt über dem Funkkasten unten bei den Postautos und sinkt, genau nach den Anweisungen der Crew. Diese sei ebensowichtig wie der Pilot, sagt de Sinner später: «Lastenfliegen ist Teamwork, bei dem nur einer die Lorbeeren trägt.»

Der Traum vom Fliegen

Von unten ist ein weisser Punkt im Heli zu sehen: der Helm des Piloten, der sich konzentriert in die Bubble-Door lehnt. Wie ein Fischauge klebt diese Ausbuchtung an der Scheibe des Helikopters - sie erlaubt dem Pilot freie Sicht nach unten. Die Fracht wird eingehängt und der Heli zieht sie hinauf, als wäre sie leicht wie ein Lego-Stein.​ Der Heli werde mit der Last schwerfällig, sagt de Sinner. Wie ein Auto, das einen Berg hinaufkeucht. Für schwere Lasten - der Écureuil schafft maximal 1,2 Tonnen - sei deshalb Erfahrung und Fingerspitzengefühl wichtig: Denn sonst kann die Last gefährlich ins Schlingern geraten.

Doch jetzt sitzt jeder Griff, sowohl im Heli wie auch am Boden. Der Helikopter ​schwebt majestätisch über der Crew, der Funkkasten sinkt ruhig und langsam. «Noch zwei Meter. Noch einen Meter. Noch 50 Zentimeter. Noch 20 Zentimeter. Es passt», gibt Sartori dem Piloten durchs Mikrofon durch. Die Last wird platziert - millimetergenau. Der 24-jährige Tessiner hängt den riesigen Haken aus, und schon ist der Heli wieder weg, bereit für die nächste Ladung. Die Passanten in den Strassen halten inne und sehen sich das Spektakel an. Helikopter verkörpern noch heute den grossen Traum vom Fliegen. Den Wunsch, den Himmel wie ein Vogel zu erobern. Im Heli fühle er sich frei, sagt Sartori, der selber fliegt und davon träumt, Lasten zu transportieren. Im heli gebe es Action. Man könne hinfliegen wohin und landen wo man wolle. «Im Flugzeug hat man diese Freiheit nicht.» Im Heli fühle er sich wie ein kleiner Astronaut - am Boden jedoch werde er in seiner Arbeiterkleidung kaum beachtet.

Zivilisation wird zur Märklin-Welt

Wie eine Mondlandschaft sieht es neben dem Burgerheim aus, wo riesige Bagger den Neufeldtunnel in die Erde graben. Auch hier wird das neue Polizeifunksystem platziert. Danach eilen Marco und seine Leute in den Gäbelbach, de Sinner wartet im Neufeldstadion, trinkt Kaffee und fliegt los, sobald die Crew parat ist. Jedes Detail dieses Arbeitstages ist durchgeplant. Sonst wird es teuer: Eine Flugminute kostet mindestens 39 Franken. ​De Sinner fliegt nun über die farbigen Häuser in der Länggasse, über das leuchtend blaue Schwimmbecken im Weyermannshaus. Von seinem Arbeitsplatz aus überblickt er die Welt.

Nach der Arbeit über den massiven Hochhäusern führt ihn die Arbeit zurück nach Köniz, nach Belp und dann nach Muri. Am Nachmittag wird er das gleiche Funksystem bei Château-d'Oex auf ein Hochhaus fliegen, einen 1,2 Tonnen schweren Masten auf dem Col des Mosses montieren, schwere Steinziegel auf dem Dach eines Chalets in Villars abladen und Holz auf einer Alp bei der Gummfluh abholen. De Sinner kennt jeden Gipfel, jede Bergkette, jedes Tal. Distanzen werden relativ, aber auch die Menschheit: «Am Boden meinen wir Menschen, wir seien das Zentrum der Welt», sagt der Pilot. Aus der Luft aber werde der Mensch ganz klein: «Die Zivilisation wird zu einer Märklin-Welt, winzig und unbedeutend.» Nur 300 Meter über Boden veränderten die Sicht auf die Welt: Von hier aus seien Natur und Landschaft, Berge und Wälder mächtig, nicht der Mensch.

Text: Manuela Ryter

Diese Reportage erschien am 30. Juli 2007 im "Bund".​