Posts in pr
Markus Osterwalder: «London 2012 - Design ohne Seele»

Sieben Tage lang durfte ich den Fackellauf durch Griechenland begleiten, von der Entzündung des olympischen Feuers in Olympia  bis zur Übergabe an Sebastian Coe, den Präsidenten des Organisationskomitees von London 2012. Ich bin sehr glücklich, dass ich dieses ganze Ereignis einmal erleben durfte. Es waren sieben interessante und für mich als Olympiasammler sehr bereichernde Tage. Eine grosse Enttäuschung bleibt aber, denn ich hatte gehofft, dass auch ich einen Teil mit der Fackel in der Hand absolvieren dürfte, aber das Versprechen seitens des Griechischen Olympischen Komitees wurde leider nicht eingehalten. Ich hatte es mir einfacher vorgestellt, doch sie hatten bereits alles durchgeplant. Mein Trost: In Rio 2016 werde ich auf jeden Fall Fackelläufer sein, das habe ich bereits in die Wege geleitet. Wahrscheinlich werde ich durch den Urwald rennen.

Wir - zwei weitere Olympiasammler und ich - hatten eine Akkreditierung, mit der wir überall rein und raus konnten. Wir konnten deshalb sehr vieles erleben. Wir lernten Griechenland kennen, es ist ein wunderschönes Land. Es ist unglaublich, welche Logistik hinter dem Fackellauf steckt. Der Ablauf war jeden Tag ähnlich: Der Auto-Konvoi des Fackellauf-OKs fuhr ins nächste Städtchen, durch das der Fackellauf führte und sich die lokale Prominenz zusammengefunden hatte, stellte als erstes die grosse Schüssel auf und bereitete alles vor. Dann wartete man auf den Fackelläufer, der das Feuer entzündete.

Und dann begann das Rahmenprogramm, meistens folkloristische Tänze. Und die Reden. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Reden in so kurzer Zeit gehört! Die Griechen lieben Reden! Am Schluss der Zeremonie entzündete der nächste Fackelläufer seine Fackel und lief los. Und die Festlichkeiten zogen weiter: Alles wurde eingepackt, um am nächsten Ort gleich wieder ausgepackt und aufgestellt zu werden. So ging es sieben Tage lang, täglich zwei bis drei Mal. Wir drei Olympiasammler fuhren immer am Schluss des Auto-Trosses. Das passte, denn jedes der 16 Autos hatte seine Funktion: In einem waren die Sicherheitsleute, im nächsten die Organisatoren der Zeremonien oder jene, die die Unterkünfte organisierten. Und am Schluss eben wir, die «Touristen».

Leider haben wir nicht allzu viele Beteiligte des Fackellaufs näher kennengelernt. Die Griechen nahmen uns als Störfaktor wahr, was die Kommunikation mit ihnen erschwerte. Erst gegen Schluss war es möglich, Gespräche mit ihnen zu führen.

Abends hatten wir unser eigenes Programm. Und manchmal liessen wir auch eine Zeremonie aus. Und machten stattdessen das Postamt der Stadt ausfindig. Mein Sammlerkollege, mit dem ich unterwegs war, ist Olympia-Philatelist. Das heisst, er sammelt Olympia-Briefmarken und alles darum herum. In den grösseren Städten, durch die die Fackel getragen wurde - insgesamt sieben -, gab es einen Olympia-Sonderstempel. Mein Kollege setzte alles daran, jeden einzelnen dieser Stempel zu erhalten. Mitsamt Sonderumschlag und spezieller Olympia-Briefmarke (wenn auch die olympischen Ringe wegen den IOC-Gebühren jeweils nicht drauf waren). Er war unglaublich hartnäckig und machte auch vor einem geschlossenen Postbüro nicht Halt. So auch an jenem Sonntagabend, als er den Postchef, der in Athen weilte, überredete, die Postfiliale nur für uns öffnen zu lassen. Diese philatelische Schatzjagd war ein Teil unserer Reise. Ich kenne nun wohl jedes Postamt Griechenlands. Das war natürlich auch für mich spannend. Aber ich bin kein Philatelist - mich interessiert das Olympia-Design. Das Darum-Herum von Olympischen Spielen. Ich sog auf der Reise jedes Detail auf.

So etwa alles rund um die Fackel. Wie die Kisten mit den Fackeln am neuen Ort aus dem Lastwagen gehoben wurden. Oder wie der Engländer - er war Mitdesigner der Fackel - jede Fackel eigenhändig zusammenschraubte. Er hatte eigens dafür ein Gestell gebaut, damit es schneller ging. Das fand ich unglaublich spannend. 600 Fackelträger durften das Feuer in Griechenland weitergeben. 8000 werden es in England sein, bis das Feuer am 27. Juli in London ankommen wird. Insgesamt wurden 12 000 Fackeln produziert. Die 8600 Fackelträger dürfen ihre Fackel behalten, die restlichen 3400 werden an wichtige Leute verschenkt. Ich habe leider noch keine ergattert für mein Olympia-Museum. Noch sind sie zu teuer.

Als «Olympic Design»-Kenner interessiere ich mich natürlich sehr fürs Design der Fackel. Ich finde sie ok. Sie ist kein Traum, aber auch nicht schlecht. Solides Design, aber ohne richtige Idee dahinter. Sie ist golden, das ist ein Novum, das hat es noch nie gegeben. 8000 Löcher stehen für die 8000 Läufer in England, das Dreieck steht für die drei olympischen Grundideen Höchstleistung, Respekt und Freundschaft. Das ist nicht sehr kreativ. Vor allem, wenn man sie mit früheren Fackeln vergleicht!

Athen: Die Fackel hatte die Form von Olivenbaumblättern in getrockneter Form. Sydney: Das Design der Fackel war inspiriert von den Bögen des Opera House. Und von einem Boomerang. Peking: Die Fackel als Papyrus, diese Fackel war wahnsinnig schön. Sie alle hatten eines gemeinsam: eine Geschichte. Die Geschichte des jeweiligen Landes. Die Fackel von London hat keine Geschichte. Sie ist eine funktionstüchtige Fackel und fertig. Das gleiche gilt übrigens auch für die weiss-goldene Uniform. Das enttäuscht mich, da hätte ich von London mehr erwartet. Alles ist konservativ, etwas langweilig, ohne Geschichte dahinter. Auch die Medaille! Über die Medaille von Peking 2008 könnte man ein Buch schreiben. Jene von London: ohne Geschichte. Dabei gäbe es in London viele gute Designer. An früheren Olympischen Spielen versuchten die Designer, den Sachen eine Seele zu geben. In London sind sie einfach nur eines: nüchtern. Am schlimmsten sind die Piktogramme. Jene von Athen waren wunderschön, antiken Vasenmalereien nachgebildet. Jene von London sehen aus, als hätte sie ein Kindergartenkind gezeichnet. Keine schönen Formen, unausgeglichen. Das ist schlimm.

Ein persönliches Highlight der Reise war für mich die Begegnung mit der Design-Chefin von Athen 2004. Mit ihr konnte ich ewig über Olympiadesign, Ideen und Visionen fachsimpeln. So habe ich beispielsweise die Idee, ein Designprogramm für Olympische Spiele aufzugleisen. Bisher musste jeder Austragungsort von Null anfangen. Dabei könnte das neue OK von den früheren Austragungsorten profitieren. Ich habe in meinem Olympiamuseum alle nur möglichen Informationen zum Design von allen Olympischen Spielen gesammelt. Diese Informationen möchte ich zugänglich machen.

Grundsätzlich bin ich beeindruckt, wie professionell die Griechen - entgegen ihrem Ruf – den Fackellauf organisierten. Man merkte, dass sie dies nicht zum ersten Mal machten. Ich habe insbesondere das Ambiente im Panathinaiko-Stadion, dem ersten Olympiastadion der Neuzeit, ganz tief in mich einwirken lassen. Ich konnte mir richtiggehend vorstellen, wie die Spiele damals, 1898 waren. Und auch hier interessierten mich natürlich insbesondere die Details: Wie waren damals die Stühle nummeriert? Wie organisierte man die Eintrittskarten? Wo sass die Königin?

Sehr speziell war auch die Zeremonie an der türkischen Grenze. Wir drei Olympiasammler waren die einzigen Zuschauer, die restlichen Leute waren alles ranghohe Offizielle oder Polizisten. Das Ganze war skurril, insbesondere, wenn man an das angespannte Verhältnis zwischen den Türken und den Griechen denkt. Da war auf der einen Seite die griechische Fahne, auf der anderen die türkische, zwei Wächter und dazwischen ein Fluss und eine Brücke. Mitten in der Pampa. Die Türken kamen über die Brücke, es wurden Hände geschüttelt und in der Mitte der Brücke das Feuer angezündet. Ich rechnete damit, dass die Griechen den Türken eine Fackel schenken würden. Das wäre doch ein guter Moment gewesen, ein Zeichen zu setzen, schliesslich ist Freundschaft einer der Hauptpfeiler der Olympischen Spiele. Doch der OK-Chef des Fackellaufs drückte dem türkischen NOK-Präsidenten einen Pin in die Hand. Einen Pin!! Ob das eine Provokation war?

In der Schlusszeremonie in Athen kamen dann die Stars. David Beckham war da. Und Prinzessin Anne, die Tochter von Königin Elisabeth II., sie ist IOC-Mitglied. Es war sehr schön, so nah dran sein zu dürfen. Der Präsident vom Griechischen Olympischen Komitee erhielt das Feuer von der Oberpriesterin, die bereits bei der Entzündung des Feuers am ersten Tag dabei war. Dann entzündete er mit der Fackel zusammen mit Prinzessin Anne ein Lämpli und ging mit ihr Hand in Hand aus dem Stadion. Und schon ging der Fackellauf weiter. Nun aber in England.

Markus Osterwalder ist Grafiker und Olympiasammler. Sport ist für ihn Nebensache - sein Herz schlägt für das Design von Olympischen Spielen. In London 2012 wird er wie an vergangenen Olympischen Spielen erneut auf die Suche gehen nach den kleinen Details.

Bilder: Markus Osterwalder​

Text: aufgezeichnet von Manuela Ryter

Anmerkung: Dieser Artikel wurde für den Olympiablog verfasst.​

«Wir haben gefroren in London»

An den Olympischen Spielen in London 1948 flog und fror Turmspringer Ernst Strupler um die Wette. 40 Jahre später noch bestieg der damals 70-Jährige den 10-Meter-Turm. Nun macht er seine waghalsigen Sprünge nur noch mental – dafür umso perfekter.

Es war kalt im Sommer 1948. Es war einer der kältesten Sommer überhaupt, an die sich Ernst Strupler erinnern kann. Und das sind doch immerhin ein paar, mit seinen 94 Jahren. Es war so kalt, dass das Schwimmbad in Baden, in dem der damals knapp 30-Jährige seine kunstvollen Sprünge vom 10-Meter-Turm trainieren konnte, geschlossen blieb. Strupler bekam einen Schlüssel und trainierte trotzdem. Für einmal nicht beobachtet von vielen jungen Frauen, die der athletische Mann mit den blonden Locken sonst mit Doppelsalti und komplizierten Schrauben- und Handstandsprüngen beeindruckte, sondern im leeren Bad unter Aufsicht seiner Frau.

«Sie sass am Bassinrand, mit unserem Ältesten im Kinderwagen – für den Fall, dass mir etwas passiert wäre», erinnert sich Strupler und lacht verschmitzt. Es ist ein schüchternes, fast zahnloses Lachen. Passiert ist dann zum Glück nichts Aussergewöhnliches. «Ausser dass mein Sohn bei jedem Sprung herzzerreissend schrie und erst aufhörte, wenn ich wieder auftauchte.» 

Auch im kriegsversehrten London war es kalt. Durch den «Wembley Empire Pool», die olympische Schwimmhalle unmittelbar neben dem riesigen Stadion, zog ein eisiger Wind. «Wir haben gefroren», sagt Ernst Strupler. Dies ist die stärkste Erinnerung, die er an die Olympischen Spiele von 1948 hat. Mit Zug, Schiff und Bus waren die 165 Athleten und sieben Athletinnen der Schweizer Delegation an die Spiele gereist. Für den jungen Turmspringer sollten sie zur grossen Enttäuschung werden. Der mehrfache Schweizermeister, der es gewohnt war zu den Besten zu gehören, erreichte in London nur den 25. Rang. 

«Miserable Umstände»

In London war alles anders, als es der talentierte junge Schweizer gewohnt war. «Die Umstände waren miserabel», sagt Strupler heute, 64 Jahre später. Zwar gelangen ihm in der ersten Runde «ordentliche» Sprünge. Der «Handstand Durchschub» etwa oder der «fliegende Doppelsalto». Die Schweizer Schwimm-Delegation sei aber schlecht vorbereitet gewesen, «eine völlige Nietenbande!».

Und so kam es, dass die Athleten anderer Nationen bequem mit dem Auto an die Spielstätten chauffiert wurden, Ernst Strupler und Willy Rist, der zweite Schweizer Turmspringer, hingegen in aller Frühe mit der «Untergrund» anreisen mussten. Einen Beutel Milch und ein Stück Brot, am Abend zuvor beim Nachtessen entwendet, im Sack. «Dabei hätte ich mich doch gerne vor dem Wettkampf aufgewärmt und ein paar Sprünge gemacht!» 

Ernst Strupler mit seinem Sohn Ueli.

Ernst Strupler mit seinem Sohn Ueli.

Vergessen hat er das bis heute nicht. Auch nicht, dass er mit den Österreichern, den einzigen Athleten, die er in London kannte, hätte mitfahren können. Doch deren Delegationschef sei mit jenem der Schweizer zerstritten gewesen und habe ihm die Mitreise verweigert. Auch während des Wettkampfs war niemand da für die zwei Schweizer. Die ungewohnt langen Wartezeiten machten dem ehrgeizigen Athleten mental zu schaffen. Sein Unverständnis gilt noch heute dem damaligen Delegationschef der Schweizer Schwimmer, der es laut Strupler unterlassen hatte, für seine Athleten zu sorgen. «Er ging lieber ins Pub, als uns zu betreuen.»  

Ernst Strupler schüttelt den Kopf. Er, der heute im Altersheim in der Nähe von Bern ein sonniges Zimmer bewohnt und manchmal tagelang nicht redet, kommt richtig in Fahrt, obwohl er nur noch leise und langsam sprechen kann. Man spürt den Kampfgeist, der den ehemaligen Spitzensportler und leidenschaftlichen Turnlehrer früher antrieb. Der ihm sogar einen Prozess bescherte, weil er am Ende der Olympischen Spiele gegen besagten Delegationschef aufmüpfig wurde und statt an einem Länderwettkampf teilzunehmen ohne Pass und Geld die Rückreise in die Schweiz antrat. Doch davon später.

Mit dem Ägypter in der Badewanne

Denn da war noch das mit den Badewannen. Jenen Wannen, die andere Nationen für ihre Athleten mieteten. In denen die Athleten dann in den langen Wartezeiten sassen und sich aufwärmten. Die Schweizer hatten keine Badewanne, «auch das hat der Delegationschef versäumt», sagt Strupler. «Die anderen Athleten badeten und wir Schweizer standen da und schlotterten.» Irgendwann hatte ein Ägypter Mitleid und lud Strupler in seine Badewanne ein. Er blieb einer der wenigen Athleten, die Strupler während den Spielen kennenlernen durfte. 

Vom olympischen Geist, vom völkervereinenden Mythos, der die Olympischen Spiele bis heute umgibt, sei nicht viel zu spüren gewesen. Dabei hatte sich Strupler, der leidenschaftliche Turnlehrer und Trainer, der sich sogar in seiner Dissertation mit Sport und Olympia befasst hatte, darauf fast am meisten gefreut.

Die Amerikaner sprangen schöner

Dafür kam der ehrgeizige Athlet in London mit einem anderen Phänomen in Berührung: den Amerikanern. Noch nie zuvor hatte er die Amerikaner springen sehen. Und als er dann in London in der ersten Wettkampf-Runde zuschaute, wie unglaublich elegant und schön die Amerikaner vom Turm sprangen, wie präzise sie Absprünge und Rotationen ausführten, so anders und so viel perfekter als die Europäer, war er fasziniert. Die Amerikaner waren eine andere Dimension. 

«Und dann machte er seinen grössten Fehler», erzählt Ueli Strupler, der älteste Sohn, dem der Olympionike während seines langen Lebens viele seiner Geschichten anvertraut hat: «Statt sich zwischen der ersten und der zweiten Runde zu erholen, trainierte er.» Er wollte so gut wie die Amerikaner springen, war übermotiviert. Und scheiterte. Beim «Doppelsalto rückwärts gehechtet» erhielt er eine Null. Der elfte Rang aus der ersten Runde ging verloren.

«Zeitlebens hat er danach als Trainer gepredigt, dass man kurz vor oder während eines Wettkampfs nicht mehr trainiert», sagt der Sohn. Und noch heute ist der alte Mann fasziniert davon, mit welch professionellem Team die Amerikaner damals antraten. Strupler streicht sachte und stolz über das Foto, das ihn mit dem Olympiasieger Sammy Lee zeigt. «Der kam mir bis zur Achselhöhle!», sagt Strupler, «er sprach mich an und fragte mich, ob ich Ringer sei – gross und muskulös wie ich war.» Beide wurden sie in London dreissig Jahre alt.

Rückreise ohne Pass und ohne Geld

London 1948 waren die ersten Spiele der Nachkriegszeit. Deutschland und Japan durften nicht teilnehmen, die UdSSR verzichtete. Strupler, der im Militär Fünfkampf trainiert hatte und somit auch während des Kriegs immer viel Sport machen konnte, erinnert sich jedoch nicht an die zerbombte Stadt. Dafür umso besser an seine abenteuerliche Heimreise von den Spielen: Mit der Delegation ging er weiter nach Amsterdam. Strupler weigerte sich vor dem Wettkampf, «auch nur einen weiteren Tag» unter dem verhassten Delegationschef zu starten. Doch dieser gab Geld und Pass für die Rückreise nicht heraus.

Strupler setzte sich trotzdem ab. Auf einer «Rundfahrt durch die Kanäle» pumpte er eine Schweizerin an. Durch sie kam er zu einem Hotel-Pianisten, der Geld in die Schweiz transferieren wollte. Und tatsächlich: Der Pianist vertraute Strupler sein Geld an und dieser konnte damit in die Schweiz reisen. «Dank der Olympia-Uniform und meinem Armee-Ausweis kam ich auch ohne Pass weiter.» Der alte Mann schüttelt den Kopf, als könne er die Geschichte heute noch nicht glauben.

Der Sport lebt im Kopf weiter

Strupler räuspert sich, er rückt seinen gelähmten Arm zurecht, versucht sich im Rollstuhl aufzurichten. London 1948 rückt plötzlich in weite Ferne. Doch dann blitzt es in seinen Augen auf. In Peking 2008, sagt er, dort sei er viel besser gewesen. In Peking habe er vier Goldmedaillen geholt. Er sagt es mit Stolz.

Ernst Strupler hat sein Leben dem Sport gewidmet. Er hat den Sport gelebt. Und als Spitzensportler und Politiker für den Breitensport gekämpft. Als erster Sportprofessor der Uni Bern baute er dort das Sportinstitut auf und arbeitete gleichzeitig mit voller Leidenschaft als Turnlehrer. Er war Sportdirektor der Stadt Zürich. Und er nahm noch als 70-Jähriger, als er wegen Hüftproblemen kaum mehr gehen konnte, auf dem 10-Meter Anlauf, um einen seiner Sprünge zu zeigen (und wurde mit seiner veralteten Springmanier als «Acapulco-Springer» berühmt). Seine Frau war Turnlehrerin. Und auch seine sechs Kinder wurden mit einer Ausnahme alle Turnlehrer.

Und alle – ausser Ueli, dem Ältesten, «wahrscheinlich von den Olympia-Vorbereitungen des Vaters traumatisiert» – wurden sie Turmspringer. Wie auch viele der Enkelkinder. Sport war der rote Faden in seinem Leben. Strupler bildete gar als 80-Jähriger noch Turmspringer aus und schlief mit ihnen im Trainingslager im Massenlager. Bis ihn ein Hirnschlag aus seinem bewegten Leben katapultierte und kurz darauf ein schwerer Autounfall ihn endgültig an den Rollstuhl fesselte. 

Seither übt der belesene Mann seine sportlichen Abenteuer im Kopf aus. Er besteigt den Himalaya. Er nimmt in Peking an den Olympischen Spielen teil und gewinnt vier Medaillen. Wehe, wenn jemand sagt, dass er das nur erfunden hat. Er kann sich an jedes Detail erinnern. Ist dies die Verwirrung eines alten Mannes? Vielleicht. Oder ist es die Überlebensstrategie eines vom Alter gezeichneten Spitzensportlers und Bewegungsmenschen? Wohl eher. Aber das spielt eigentlich keine Rolle. Es ist die Leidenschaft für den Sport, die zählt.

Strupler wird nie aufhören mit Turmspringen. «Es ist eine schöne Sportart. Sie verlangt Mut und Körperbeherrschung. Das Fliegen ist einfach schön. Und die Angst, die macht es gerade aus: Man macht den Sprung trotzdem und ist danach zufrieden mit sich selbst.» Welche Sprünge Ernst Strupler wohl für London 2012 geplant hat?

Mehr Informationen zu Ernst Strupler, der die Entwicklung des Sports in der Schweiz mitgeprägt hat, lesen Sie in seiner Biographie.

2012 finden die Olympischen Spiele in London statt – nach 1908 und 1948 bereits zum dritten Mal. Wir haben uns auf die Suche nach den Schweizer Olympioniken von London 1948 gemacht. Und haben einige von ihnen besucht.

Lesen Sie auch den Artikel über die fünf Ruderer, die in London 1948 dank enger Kameradschaft Silber gewonnen haben. Oder das Porträt über die Schwimmerin Liselotte Kennel-Kobi.

Bilder: Manuela Ryter und zvg

Anmerkung: Dieser Artikel wurde für den Olympiablog verfasst.

Das Ende der Weltrekorde ist noch fern

Sportlerinnen und Sportler werden immer schneller, Weltrekorde purzeln seit den ersten modernen Olympischen Spielen. Damit soll bald Schluss sein, sagen Wissenschaftler. Doch Usain Bolt und Michael Phelps belehrten sie in Peking eines anderen. Wird der Mensch auch in Zukunft immer schneller? Oder sind die physischen Grenzen irgendwann erreicht?

Der Beste zu sein, die Schnellste, der Stärkste – das ist und war schon immer eine Triebfeder für jeden Sportler, der Hintergrund eines jeden Wettkampfs. Der Beste des Dorfs, der Schnellste der Stadt, die Stärkste des Landes, von Europa und schliesslich der Welt zu sein, dieses Streben nach Perfektion ist im Sport so verankert wie der Ball im Fussballspiel. Das höchste Ziel dabei: Der Beste aller Zeiten zu sein – einen Weltrekord aufzustellen.

Damit soll laut neusten Studien bald Schluss sein, die physischen Grenzen des menschlichen Körpers sollen bald erreicht sein. «Das Ende der Weltrekorde», titelten die Zeitungen im vergangenen Winter denn auch, als Jean-François Toussaint seine Studie präsentierte. Der Leiter des Instituts für Biomedizinische und Epidemologische Forschung des Sports (Irmes) sagte darin das Ende der Weltrekorde im Jahr 2060 voraus. Und zwar in allen klassischen Disziplinen.

In der Studie untersuchte der französische Wissenschaftler insgesamt 3263 Weltrekorde in allen klassischen Sportarten seit dem Beginn der Olympischen Spiele der Neuzeit 1896. Das Resultat: In allen Disziplinen werden die Sportler immer besser, immer schneller, immer stärker. Doch die Steigerungskurve flacht immer mehr ab.

Toussaint wendet diese exponentiell abfallende Entwicklung für eine Prognose der Zukunft an: Eines Tages wird die Kurve ganz flach und das Maximum erreicht sein. In der Hälfte aller Sportarten und Disziplinen soll dies bereits in 20 Jahren der Fall sein. Denn laut Toussaint haben wir heute bereits 99 Prozent der maximal möglichen Leistungsfähigkeit erreicht. In der Königsdisziplin 100-Meter-Sprint rechnet Toussaint mit einer noch möglichen Steigerung von 14 Tausendstel (Anfang 2008 lag der Weltrekord bei 9,74 Sekunden), im Marathon errechnete er die Leistungsgrenze bei 2:03:08 – 78 Sekunden unter dem damaligen Weltrekord. Der Körper stosse an seine Grenzen.

Leistungsgrenze bereits unterboten

Der Hohn am Ganzen: Die Ergebnisse der Studie hielten nicht einmal ein halbes Jahr stand, die Realität lehrte die Wissenschaft, dass sich die menschliche Leistungsentwicklung nicht in Kurven prognostizieren lässt. Usain Bolt liess die Wissenschaftler im Regen stehen: Die prognostizierte Leistungsgrenze von 9,72 Sekunden erreichte er bereits im Mai 2008. Und mit seinen 9,69 Sekunden, in denen er die 100 Meter an den Olympischen Spielen in Peking rannte (und zwar zum Erstaunen aller auf den letzten Metern bereits im abgebremsten Siegesschritt), unterbot er Toussaints prognostiziertes «Ende der Weltrekorde» um 36 Tausendstel.

Auch Schwimmer Michael Phelps und seine Kollegen liessen im vergangenen Jahr Wissenschaftler und Zuschauer perplex zurück. Ausgerechnet im Schwimmen, wo die Weltrekorde seit Jahren nur in winzigen Schritten purzeln, fielen heuer etliche Rekorde. In Peking gab es Rennen, in denen gleich mehrere Schwimmer unter der Weltrekordzeit anschlugen. Und auch im Marathon verbesserte Haile Gebrselassie seinen Weltrekord im September in Berlin um unglaubliche 27 Sekunden. Mit einer Zeit von 2:03:59 kommt er Toussaints Leistungsgrenze damit unerhört nah.

Bessere Technik, mehr Leistung

Ist ein Ende der Weltrekorde überhaupt voraussehbar? Oder wird sich der menschliche Körper stets weiterentwickeln? Wird der Mensch auch in Zukunft noch schneller, höher, stärker? «Wir sollten davon ausgehen, dass es immer eine Entwicklung geben wird», sagt Sportwissenschaftler Ralf Seidel von der Leistungsdiagnostik der Schulthess Klinik. Einen der Hauptgründe dafür sieht Seidel in der Entwicklung zukünftiger Technologien: «Sie werden das Training laufend verändern und eine kontinuierliche Leistungssteigerung ermöglichen.»

So hätten beispielsweise die Gegenströmungsanlagen den Schwimmsport massiv verändert. Mit Kameras und Messgeräten kann heute die Qualität des Trainings, die Motorik des Athleten und vieles mehr gemessen werden. «So etwas hätte man sich vor 50 Jahren nicht erträumt», sagt Seidel. Genauso wisse man nicht, welche Technik uns in 50 Jahren erwarte: «Wir werden nicht stehen bleiben.»

Es gebe im Leistungssport noch vieles, das nicht ausgeschöpft sei, sagt Seidel. So seien beispielsweise die Talentsuche und die professionelle Sportförderung noch in keiner Weise ausgereizt. Und auch in den Bereichen Ernährung, Schlaf und Sportpsychologie sieht er noch Lücken – sowohl in der Kenntnis darüber wie auch in der Anwendung des bisherigen wissenschaftlichen Wissensstands: «Da ist noch Verbesserung möglich.» Auch sei die Trainingswissenschaft noch eine junge wissenschaftliche Disziplin, die sich weiterentwickle. «Wenn man schaut, wie man vor 40 Jahren trainierte, kann man heute über die Trainingspläne von damals schmunzeln.»

Wird also nie eine physiologische Grenze erreicht werden? Entscheidend für eine kontinuierliche Leistungssteigerung sei die Steigerung der Qualität des Trainings sowie der Belastbarkeit der Athleten, womit mehr und intensiveres Training möglich werde. Wenn zusätzlich die Erholung – zum Beispiel durch Schlaf und Ernährung – verbessert werde, sei wiederum eine Leistungssteigerung möglich. Ob physiologische Grenzen irgendwann erreicht werden, «spielt gar nicht so eine wichtige Rolle», sagt Seidel. Denn schlussendlich garantiere die beste körperliche Leistungsfähigkeit nicht, dass man am Tag X die Leistungen auch abrufen könne. Zu viele Faktoren, etwa mentale, spielten da eine Rolle. Diese in eine Formel zu packen und daraus Prognosen aufzustellen, sei deshalb rein hypothetisch.

Das von Toussaint erwartete Ende der Weltrekorde dürfte also noch fern sein. Unbestritten ist jedoch: Die Schritte, in denen es aufwärts geht, werden immer kleiner. Weshalb sie jedoch beispielsweise im Schwimmen gerade ansteigen statt kleiner werden, ist allerdings auch den Wissenschaftlern ein Rätsel. Klar zu sein scheint, dass die Steigerung nicht nur auf die neuen Schwimmanzüge zurückzuführen ist, wie dies auch die Hersteller bestätigen.

Weltrekorde nur mit Doping?

Sind Weltrekorde also nur noch mit Doping machbar? So wurden beispielsweise zwölf aktuelle Weltrekorde der Frauen in der Leichtathletik in den 80er Jahren aufgestellt – in der Hochphase von Anabolika. In jener Zeit, als Dopingkontrollen nur an Wettkämpfen, nicht aber im Training durchgeführt wurden. Auch die heutigen Kugelstösser sind weit von den Weltrekorden der 80er Jahre entfernt. Dies spricht wiederum gegen Studien, die Leistungsgrenzen aufgrund von früheren Weltrekorden voraussagen, da sie sich auf zum Teil verfälschte Daten stützen. Laut Toussaint erreicht Doping zwar lediglich, dass die Leistungskurve schneller ansteigt – die physiologische Grenze werde mit Doping jedoch kaum verschoben, denn es sei schon immer gedopt worden, geändert hätten sich nur die Methoden. Allerdings: Ob gerade Gendoping die physiologischen Grenzen künftig nicht doch illegal übergehen könnte – diese Diskussion wird künftig sicherlich im Zentrum stehen, sollten eines Tages die Weltrekorde wieder auffällig schnell purzeln.

​Dieser Artikel erschien am 22. Dezember 2008 im swiss sport 6/08, Magazin von Swiss Olympic.

Text: Manuela Ryter

«Das Glück liegt häufig auf meiner Seite»

2004 wurde Nino Schurter Junioren-Weltmeister, in Peking holte er nun Bronze. Der Weg des 22-jährigen Bikers führt steil nach oben. Dank viel Talent, Glück und angemessener Förderung.

Nino Schurter sitzt im «Café Maron», direkt am Bahnhof in Chur, auf einer mit Seide überzogenen Bank. Neben ihm nippen alte Damen an ihren Cappuccinos und stecken ihre Gabeln tief in klebrig-süsse Kuchen. In grau-schwarz gestreiftem Hemd sitzt er da, die blonden Haare elegant zur Seite gekämmt. Hübsch, jung, bescheiden und stets mit dem Lächeln des netten Jungen von nebenan im Gesicht. 

Der Medienrummel der letzten Wochen hat Schurter ein professionelles Auftreten gelehrt. Seit er im August in Peking beim Cross Country-Rennen vor dem zehn Jahre älteren Landsmann Christoph Sauser als Dritter ins Ziel kam und die einzige Schweizer Medaille der Biker in Empfang nahm, ist Schurter ein gefragter Mann. Überall soll der laut Presse «talentierteste Biker der Welt», der bereits als Nachfolger des französischen Seriensiegers Julien Absalon gefeiert wird, mit dabei sein. «Das ehrt mich natürlich», sagt Schurter. Doch das Leben geht für ihn auch nach einer Olympiamedaille weiter wie bisher. London 2012 wartet.

Wenn Nino Schurter in London Gold holt, wird dies niemanden überraschen. Zu steil ging sein Weg stets nach oben, als dass ihm jemand diesen Exploit nicht zutrauen würde. Aufs Bike sass Schurter bereits als kleiner Junge, damals in Tersnaus, einem winzigen Dorf in den Bündner Bergen. Wie sein Bruder fuhr er erst einmal Skirennen, wie das die meisten sportlichen Kinder in einem Bergdorf tun. Im Sommertraining ging es auf dem Velo in die Berge und bald brausten die Schurter-Brüder auf Bikes statt auf Skis die Berge hinunter. «Wir hatten von Anfang an Erfolg.»

Auch sein Vater liess sich vom Bike-Virus anstecken. In die Ferien ging die Familie Schurter fortan nicht mehr ans Meer, sondern mit dem Bike in die Berge Italiens. Ninos Bruder wechselte später nach einem Unfall zum Downhill, sein Vater ist noch heute Trainer der Schweizer Downhill- Nationalmannschaft.

Viel Training dank Sportlerlehre

Als 16-Jähriger entschied sich Schurter für den Spitzensport. Er verliess sein Elternhaus und zog nach Bern, um dort eine Sportlerlehre zum Mediamatiker zu absolvieren, einer Mischung aus IT, Kaufmännischer Ausbildung und Multimedia-Design. Drei Jahre lang ging er Teilzeit in dieBerufsschule, die ihm viel Zeit fürs Training ermöglichte. Anschliessend machte er ein zweijähriges Praktikum bei einer Werbeagentur, bei der er für die Werbeunterlagen seines Teams, dem Swisspower MTB-Team, zuständig war. «Mein Teamchef war somit indirekt auch mein Chef und sorgte dafür, dass ich genügend zum Trainieren kam», sagt Schurter schmunzelnd.

Der Einsatz zahlte sich bald aus: 2004 wurde Schurter bei den Junioren Welt- und Europameister, als 19-Jähriger Dritter bei der U23-WM und ein Jahr später holte er die U23-Welt- und Europameistertitel, seither ist er in dieser Kategorie fast ohne Konkurrenz. Auch bei den Weltcuprennen in der Elite fährt er seit zwei Jahren vorne mit. Und nun die Olympiamedaille. Nino Schurter, der seit seinem Lehrabschluss vor einem Jahr und der Spitzensport-RS im vergangenen Winter Profibiker ist, sieht der Zukunft zuversichtlich entgegen. «Bisher war das Glück häufig auf meiner Seite.» Er hoffe, dass ihm nun auch der Anschluss an die Elite gelinge.

Erfolg nur dank Unterstützung

Schurters sportliche Laufbahn gleicht einer Bilderbuchkarriere. Während in der U23-Kategorie viele seiner einst genauso talentierten Kollegen den Sport wegen ausbleibender Erfolge an den Nagel hängten, geht der Rätoromane seinen Weg nach oben. Die Medaille in Peking war nun die Krönung. Dabei wäre er schon mit einem Diplom überglücklich gewesen, sagt Schurter. Er sei nicht mit dem einzigen Ziel, Gold zu holen, an den Start gegangen. «Ich habe noch viel Zeit», sagt Schurter. Wenn alles gut laufe, wolle er noch mindestens zwei Mal an Olympischen Spielen teilnehmen. Denn sein Potenzial sei noch nicht ausgeschöpft: «Ich weiss, dass mein Körper noch stärker werden kann, das gibt mir Sicherheit.»

Aber im Sport müsse alles stimmen, damit man Leistungen zeigen könne. Bisher habe er viel Glück gehabt. Er habe sich nie schwerwiegend verletzt und sei stets grosszügig unterstützt worden: In erster Linie durch seine Eltern und Grosseltern, aber auch durch Swiss Olympic, die Sporthilfe und den Club Sport Heart. Heute könne er gut vom Sport leben. «Aber gerade in den Junioren-Jahren war die Förderung enorm wichtig», sagt Schurter. Auch habe ihm die Sportlerlehre ermöglicht, eine gute Ausbildung zu machen, viel zu trainieren und trotzdem Zeit für Freunde und seine Freundin zu haben.

Er gehe auch mal aus, fahre häufig Ski oder spiele ab und zu Golf. Dieser Ausgleich sei ihm immer wichtig gewesen. «Hätte ich eine normale Lehre machen müssen, wäre ich wohl nicht beim Spitzensport geblieben», sagt Schurter, «ich wäre nicht bereit gewesen, für den Sport alles aufzugeben.» Der Spass sei ihm immer sehr wichtig gewesen. Er kenne Athleten, die morgens um sechs Uhr trainierten, dann den ganzen Tag im Lehrbetrieb arbeiteten und abends wieder aufs Bike stiegen. «Das hätte ich nicht lange gemacht. Ich bin nicht der Typ dazu.»

«Nachwuchsförderung könnte noch besser werden»

Die Nachwuchsförderung könnte laut Schurter aber noch besser werden. Denn es sei wichtig, dass es einem gut gehe. «Der Kopf ist zentral im Sport. Wenn dort etwas nicht stimmt, kann man noch so gut in Form sein, erfolgreich ist man nicht.» Die Doppelbelastung mit Sport und Beruf, die eine normale Lehre mit sich bringe, berge die Gefahr, sich zu überfordern, und bei Sportlerausbildungen seien die Möglichkeiten in der Berufswahl eingeschränkt. Doch eine gute Ausbildung sei wichtig, da der Sport viel zu unsicher sei. «Ich habe sehr früh auf den Sport gesetzt und es hätte auch anders kommen können: Man weiss nie, ob man den Anschluss an die Elite schaffen wird.»

Hätte er es nicht geschafft, hätte er ein paar Jahre verloren, da die Sportlerlehre etwas länger dauerte, aber wenigstens eine gute Ausbildung gemacht. Auch die Weiterbildung sei ihm wichtig, sagt Schurter, er werde jeweils im Winter Zeit dafür investieren. «Man muss als Sportler auch an ein Leben nach dem Sport denken.» Denn man wisse nie, wann man die Leistungen nicht mehr erbringe oder wegen einer Verletzung aufhören müsse. Er wolle sich in Richtung Marketing weiterbilden. «Ich kann mir vorstellen, später einmal in der Velobranche tätig zu sein.» Aber das sei noch so weit weg. Nur weil Schurter nun bereits eine Olympiamedaille im Palmarès hat, ist sein sportlicher Ehrgeiz noch lange nicht versiegt.

Dieses Porträt erschien am 27. Oktober 2008 im swiss sport 5/08, Magazin von Swiss Olympic.​

Text: Manuela Ryter

«Wir waren damals auch Muskelprotze»

Er war einer der kräftigsten Turner und der beste an den Ringen: Karl Frei gewann vor genau 60 Jahren Olympiagold in London. Während er im Fernsehen die Kunstturner in «Beijing» kritisch beobachtet, erzählt der 91-Jährige, wie er die ersten Spiele nach dem Zweiten Weltkrieg in Erinnerung hat.

Zwei Chinesen und sechs Europäer seien im Finale der Ringe-Turner in Peking, berichtet der Kommentator am Fernsehen während der Live-Schaltung aus Peking. Schweizer sind keine dabei. Die Zeiten, als die Eidgenossen im Turnen noch auftrumpften, sind lange her. Karl Frei sitzt gemütlich in seinem Sessel vor dem Fernseher, über dem ein grosses Plakat von den Olympischen Spielen 1948 hängt. «Gleich drei Goldmedaillen haben die Schweizer Turner aus London heimgebracht», sagt der rüstige, 91-jährige Mann.

Frei zeigt auf die Bilder an der Wand in seinem Einfamilienhaus in Regensdorf, wo er seit seiner Kindheit lebt. Auf einem der alten Fotos ist ein Turner mit angespanntem Gesicht zu sehen, die Hände fest an die beiden Ringe gekrallt, die Beine waagerecht nach vorne gerichtet, die Muskeln der Arme aufgebläht und eisern. «Das bin ich», sagt Frei stolz. Ja, kräftig sei er tatsächlich gewesen – einer der kräftigsten Turner überhaupt. Deshalb sei er schliesslich auch Olympiasieger geworden: Weil die Konkurrenz für die Abfolge der Übungen, die Frei zeigte, schlicht zu wenig kräftig war. Während sich die Athleten in Peking aufwärmen, zieht der alte Mann seine Pantoffeln aus, steigt auf die Eckbank und öffnet den Wandschrank, in dem er seine bedeutendsten Auszeichnungen aufbewahrt. «Das war noch eine richtige Medaille», sagt Frei, «nicht so eine zum Umhängen.» Heute ist der 91-Jährige der älteste noch lebende Schweizer Olympiasieger.

«Wir wussten kaum, was eine Olympiade ist»

Am Fernsehen ist nun Iovtchev Iordan, der erste Turner des Ringe-Finals in Peking, zu sehen. Frei verstummt und beobachtet ihn gespannt. Wie er an die Ringe hochgehoben wird. Wie er mit angespannten Armen die Beine beugt und hebt, in den Handstand übergeht und mit ganzer Kraft schwungvoll seine Kür turnt. Diese Schwungteile habe man damals noch nicht geturnt, sagt Frei. Deshalb könne man die Athleten auch nicht vergleichen. «Heute haben sie ‹Rölleli› in den Handschuhen, das ist eigentlich ein Schwindel. Wir haben noch mit blossen Händen geturnt.» Die Kraftteile der heutigen Turner seien aber nicht anders als bei ihnen damals. «Wir waren damals auch Muskelprotze», sagt er, «diese Kraft braucht es halt an den Ringen.» Deshalb hätten sich die Ringe im Gegensatz zu den anderen Disziplinen im Kunstturnen auch kaum verändert.

Dafür war damals sonst alles anders an den Olympischen Spielen. London lag in Schutt und Asche, die Athleten hatten laut Frei untereinander kaum Kontakt. Und Olympia hatte noch nicht eine so grosse globale Bedeutung wie heute. «Es gab ja noch kein Fernsehen», wirft Freis Frau Ruth ein. Einzig in der «Wochenschau» im Kino sei vielleicht mal etwas über die Olympischen Spiele berichtet worden. «Damals wussten wir hier auf dem Land kaum, was eine Olympiade ist», sagt Frei und lacht heiter. Für ihn sei Olympia jedenfalls wie jedes andere Turnfest gewesen. Und sogar in London habe nicht jeder gewusst, dass die Olympischen Spiele stattfanden.

Als Schweizer strenger benotet

Alexander Worobjew, ein Ukrainer, ist an der Reihe. Stramm zeigt er seine Übungen. Exakt und kraftvoll. 16,325 Punkte erhält er für seine Kür. «Das ist ja verrückt», sagt Frei und schüttelt den Kopf. Einen Unterschied zu früher gebe es eben schon: «Wir waren damals Amateure, heute sind alle Profis.» Dreimal die Woche hatte Frei in Regensdorf trainiert – zuerst in einem Weinkeller, dann in einem eigens gebauten Turnschopf. Die nötige Kraft habe er von der harten Arbeit als Schmid und Abwart gehabt: «Ich musste nie in den Kraftraum.» Trotz dem geringen Training sei er im Dorf immer wieder «angezündet» worden: «Die Bauern sagten, ich solle doch arbeiten statt ‹umegumpe›.»

Schweigend schaut Frei die nächste Kür – als Profi, der mit Argusaugen anderen Profis kritisch zuschaut. Yang Wei, der muskulöse Chinese, der nun seine Kür zeigt, beeindruckt Frei nicht. Diesen Schwierigkeitsgrad habe man damals schon geturnt. Einzig «solche Abgänge hat damals noch keiner gemacht», sagt Frei, nachdem Wei seine Kür mit einem Doppelsalto gestreckt mit Doppeldrehung abgeschlossen hat, «wir sind gar nicht auf die Idee gekommen.»

Ganz automatisch mache er die Noten jeweils selber, sagt Frei, als auch der nächste Athlet fertig geturnt hat. Er sei nicht immer einverstanden mit den Kampfrichtern. Frei zuckt mit den Schultern: «Was will man machen?» Bereits als Athlet habe er jeweils akzeptieren müssen, wenn er strenger bewertet wurde als die anderen. Wie etwa damals, in London: «Es hiess, die Schweizer hätten keinen Krieg gehabt und über all die Jahre trainieren können», sagt er, «das stimmte nicht.» Auch die Schweizer seien eingezogen worden. Und im Winter habe man den Turn- schopf nicht heizen können. Nur am Sonntagmorgen, da sei er manchmal um fünf Uhr früh aufgestanden, habe Kohle aus dem Schulhaus in den Schopf gekarrt und geheizt.

Sein Name wurde in London verewigt

Frei beobachtet gespannt, welche Figurenabfolgen die Athleten turnen. Seine Faszination fürs Turnen ist ihm ins Gesicht geschrieben, seine Leidenschaft, die er bis 65 aktiv ausgeübt hat, deutlich zu spüren. Heute mache er nur morgens noch ein paar Turnübungen, sagt Frei. Seinen grossen Garten bestellt er immer noch selbst. Und täglich fährt er mit dem Velo zur Post. Einzig auf Bäume klettere er nicht mehr, seit er vor ein paar Jahren beim Äste sägen heruntergefallen sei.

In Peking geht es nun um die Olympiamedaille, die letzten Turner zeigen ihr Können. Und bald steht fest: Der Chinese Chen Ybing holt Gold, auch Silber geht an China, Bronze an die Ukraine. Was er damals gefühlt habe, als er auf dem Podest stand und den Schweizer Psalm hörte? Das wisse er nicht mehr, sagt Frei. Man vergesse so vieles. Aber wenn er nun die Spiele schaue, kämen viele Erinnerungen hoch. Viel Publikum hätten sie damals nicht gehabt, erzählt er, es habe in Strömen geregnet. «Der Wettkampf musste immer wieder verschoben werden.» Nach drei Tagen und drei schlaflosen Nächten sei er «kaputt» gewesen wie noch nie. Geturnt hat er dann trotzdem besser als alle anderen. «Gold und Silber gingen an die Schweiz, Bronze an Tschechien», sagt Frei stolz und erinnert sich, wie er nach der einwöchigen Rückreise per Schiff und Zug in Regensdorf empfangen wurde: Das ganze Dorf feierte ihn wie einen Helden und führte ihn mit einer Kutsche hinter der Blasmusik her durchs Dorf.

Von London habe er jedoch nicht viel gesehen, sagt Frei. Erst ein paar Jahre später sei er mit seiner Familie zurück gegangen, um sich das Stadion noch einmal anzusehen. «Als ich dann auf einer Tafel mit allen Gewinnern meinen Namen fand, war das schon speziell, da habe ich schön dumm geschaut.» Erst in diesem Moment sei ihm bewusst geworden, was eine Olympiamedaille bedeute.

Diese Porträt erschien am 27. Oktober 2008 im swiss sport 5/08, Magazin von Swiss Olympic.​

Text: Manuela Ryter

Fotos: Luc-François Georgi

«Jeder kann seinen Traum leben»

Seit 2000 ist Taekwondo offizielle olympische Sportart. Mit Manuela Bezzola hat sich für «Beijing 2008» nun erstmals eine Schweizerin für die Olympischen Spiele qualifiziert. Mit dem Glauben, dass alle Ziele erreichbar sind, hat die 18-Jährige ihren Traum erfüllt. Ausgeträumt hat sie aber noch lange nicht: «In Peking ist alles möglich.»

Istanbul, 26. Januar 2008. Nun war sie da: die letzte Chance. Der Traum von Olympia, den Manuela Bezzola seit Jahren geträumt hatte, war plötzlich in greifbarer Nähe. Bereits als 10-Jährige hatte Bezzola die Olympischen Spiele in Sydney im Fernsehen mitverfolgt. Zum ersten Mal war Taekwondo als offizielle olympische Sportart zugelassen. «So weit möchte ich auch kommen», hatte sich die junge Taekwondo-Kämpferin damals gedacht. Und vor vier Jahren, als sie Federer, Fischer und Co. bei der Eröffnungsfeier in Athen einlaufen sah, war für sie klar: «In ‹Beijing 2008› will ich dabei sein. Unbedingt.»

«Es war mein Tag und ich wusste es»

Und nun war ihre letzte Chance da. Die erste, am weltweiten Qualifikationsturnier in Manchester, hatte Bezzola im Herbst vergeben. An der kontinentalen Ausscheidung in Istanbul waren noch einmal drei Tickets pro Gewichtsklasse zu holen. Wer einen Match verliert, ist draussen. Manuela Bezzola stellte sich der ersten Gegnerin und gewann. Dann der zweiten. Der dritten. Wenn sie kämpft, fliegen ihre Beine blitzschnell durch die Luft, sie greift an, weicht aus, alles geht so rasant schnell, dass die einzelnen Bewegungen kaum auszumachen sind. «Es hat alles gepasst. Es war mein Tag und ich wusste es.» Schon als sie am Morgen aufgewacht sei, habe sie sich gesagt: «Heute fühle ich mich super, heute bin ich besser als die anderen, heute ist meine Chance.»

Und dann stand sie im entscheidenden Match – und gewann. Sie habe keine Erinnerung an diesen Match, sie habe beim Kämpfen jedes Zeitgefühl verloren, sagt glauben. Ich war überglücklich.» Jahrelang habe sie dafür trainiert, in den letzten Jahren täglich bis zu fünf Stunden neben ihrer kaufmännischen Sportlehre. Geschlafen habe sie in jener Nacht keine Minute.

Mit Selbstbewusstsein zum Erfolg

Heute blickt Manuela Bezzola mit Gelassenheit auf diesen Wintertag in Istanbul zurück. Sie sitzt auf dem Sofa in ihrem Elternhaus in Studen bei Biel, in Jeans und schwarzem Pulli, ihre gelockten Haare wie eine Ballerina streng nach hinten gekämmt. Ihre Qualifikation schreibt sie in erster Linie ihrem positiven und zielgerichteten Denken zu, denn «ich bin nicht besser als die anderen». Auf diesem Niveau seien die Leistungsunterschiede minimal, sagt die Junioreneuropameisterin 2005 und WM-Fünfte 2007, die erst seit einem Jahr in der Elite startet. Entscheidend seien Kleinigkeiten – und die mentale Stärke.

«Wenn man etwas wirklich will und alles dafür gibt, erhält man auch einmal 100 Prozent zurück. Jeder kann seinen Traum leben.» Sie sei von Natur aus ehrgeizig, dickköpfig und hartnäckig. Und das Selbstvertrauen werde durch Bezzola rückblickend. «Plötzlich machte es Piep und es war fertig.» Eine riesige Last sei von ihr gefall en: «Mein Traum war in Erfüllung gegangen. Ich konnte es gar nicht ihren Sport enorm gestärkt, sagt Bezzola. Das Vertrauen in die eigene körperliche und geistige Kraft sei im Taekwondo zentral, dies habe ihr René Bundeli, ihr Taekwondo-Lehrer und «Übervater», beigebracht. Wenn sie ihre Kraft und ihren Willen auf ein Ziel fokussiere, sei sie auch fähig, mit der Hand ein Holzbrett oder einen Ziegelstein zu zerschlagen. An ein mögliches Versagen denke sie gar nicht erst. Und falls sie doch mal eine Niederlage einstecke, dann motiviere sie das, «noch härter an mir zu arbeiten».

Kampf für mehr Anerkennung

Nun geniesst Bezzola den Rummel, den sie mit ihrer Olympia-Qualifikation ausgelöst hat. Freunde haben ihr gratuliert, alte Bekannte schickten Blumen, ehemalige Lehrer Karten, die Medien, «die sich vorher nie für unseren Sport interessierten», standen plötzlich vor der Tür. Es freue sie enorm, dass Taekwondo dank ihrer Qualifikation nun auch in der Schweiz etwas mehr Anerkennung erhalte, sagt Bezzola. In Spanien, Italien, Amerika – und natürlich Asien – sei Taekwondo seit langem sehr bekannt und beliebt. In der Schweiz aber kenne diese traditionelle koreanische Kampfsportart fast niemand. Es werde Zeit, dass sich dies ändere.

Dass die Olympischen Spiele in Asien stattfinden, wo ihr Sport herkommt, sei umso spannender, «auch wenn die Spannungen in China die Vorfreude etwas trüben». Sie glaube aber daran, dass der Sport die Welt vereine: «Die Olympischen Spiele sind wohl das einzige Ereignis, das so viele Kulturen zusammenbringt.» Spitzensport sei in dem Sinn eine gute Lebensschule: Man lerne nicht nur «zu beissen», sondern auch den Umgang mit anderen Mentalitäten und Kulturen. Asien kennt Bezzola bereits bestens: Sie war schon viele Male in Korea, Vietnam und China und hat Freundschaften mit asiatischen Sportlerinnen geschlossen. «Wer sich in Asien in Taekwondo für die Olympischen Spiele qualifiziert, ist dort ein Superstar, ähnlich wie hier Roger Federer.»

Peking und das Olympische Dorf, wo im vergangenen Jahr die Taekwondo-WM stattfand, seien unglaublich imposant, sagt die18-Jährige, «auch wenn damals noch alles eine Baustelle war». Die Chinesen hätten gar die Autobahnen gesperrt, um die Busse mit den Sportlern ins Olympische Dorf zu eskortieren.

An Manuela Bezzolas Zimmertür hängt eine selbstgemalte Zeichnung mit den olympischen Ringen und dem Schriftzug «Beijing 2008». Jahrelang habe sie jede Minute an Peking gedacht, daran, dass sie es schaffen könnte. Nun werde sie in ein paar Monaten selbst neben ihren Idolen an der Eröffnungsfeier einlaufen. «Plötzlich bin ich eine von ihnen.» Das sei wirklich einmalig. Sie werde sich jedoch neben all den Sportgrössen «klein vorkommen». Doch sie wolle ihren Traum nun weiterträumen: Sie gehe nicht an die Olympischen Spiele, um dabei zu sein, sagt sie in ihrer unerschrockenen und doch bescheidenen Art: «In Peking ist alles möglich.» Auch die beste Taekwondo- Kämpferin sei schlagbar. Auch Gold sei möglich. «Weshalb sollte mein Traum nicht weitergehen?»

Text: Manuela Ryter

Dieses Porträt erschien am 17. April 2008 im swiss sport 2/08, Magazin von Swiss Olympic.​

«Ich habe mein Glück gefunden»

Bruno Risi gibt noch einmal Gas: In «Beijing 2008» steht der weltbeste Sechstage-Radrennfahrer und Olympiazweite bereits zum fünften Mal an Olympia am Start. Das einzige, was dem 39-jährigen Urner noch fehlt, ist Olympiagold. Im Zentrum steht bei ihm heute jedoch seine Familie: Der «Uristier» ist ruhiger geworden – und damit auf der Rennbahn umso gefährlicher.

Bruno Risi, an den Sechstagerennen sind Sie der ewige Gewinner. Ihren Standardpartner wechselten sie in 17 Profijahren nur einmal. Sie zogen nie aus dem Kanton Uri weg, tragen seit jeher die gleiche Frisur. Sie sind kein Fan von Veränderungen.

Ich bin in einem konservativen Kanton aufgewachsen. Wir sind keine Hinterwäldler hier hinten, aber man ist etwas alteingesessen, da gibt es immer einen gewissen Aspekt an konservativem Denken. Das hängt wohl mit der Erziehung zusammen. Oder mit den Bergen.

2006 trat ihr langjähriger Partner Kurt Betschart vom Rennradsport zurück. Seit 2003 fahren Sie – nicht weniger erfolgreich – mit Franco Marvulli. Bedeutete dieser Wechsel eine Zäsur in ihrem Leben?

Nein, es war eher ein fliessender Übergang. Wir sind nur durch Zufall zusammen gekommen, weil sich Marvullis Standardpartner verletzte und ich für die WM in die Bresche sprang. Wir wurden auf Anhieb Weltmeister. Wir haben von Anfang an bestens harmoniert, technisch und menschlich. Betschart hatte irgendwann keine Freude mehr am Rennsport. Wir waren wirklich ein erfolgreiches Team. Heute herrscht jedoch Funkstille. Das ist vielleicht gut so. Wir hatten so viel Zeit zusammen verbracht, wir waren gesättigt voneinander, wie ein altes Ehepaar. Ich musste ihn nur anschauen und wusste, wie er drauf ist. Auch Sie sind nun bereits seit 17 Jahren Profisportler.

Hatten Sie noch nie genug?

Es gab in meiner Karriere auch Momente, in denen ich alles hinschmeissen wollte. Dann kamen die Kinder und mit ihnen neue Herausforderungen und neue Motivation. Grundsätzlich habe ich aber ganz einfach Freude am Velofahren und an unserer schönen Welt. Ich habe Freude, mein Hobby leben zu können. Und an der Landschaft. Uri ist der schönste Kanton der Schweiz, in der Berglandschaft steckt Energie. Ich geniesse es immer noch, eine Strecke zu fahren, die ich schon hundert Mal gefahren bin. Die Landschaft ist meine Energiequelle. Deshalb kam es auch nie in Frage, von hier wegzuziehen, auch wenn es trainingsmässig viel bessere Gebiete gäbe.

Und die immergleichen Runden, die Sie während eines Sechstagerennens auf der Bahn drehen? Ist das nicht monoton?

Nein, da kommt nie Langeweile auf. Es läuft so viel auf der Bahn! Während eines Rennens nimmt man die Umgebung nicht wahr, da spielt es keine Rolle, ob man auf der Strasse fährt oder auf der Bahn. Am Sechstagerennen sind wir auch Entertainer. Ein Strassenfahrer fährt von A nach B, um als erster anzukommen. Wir fahren auch fürs Publikum, das bezahlt hat. Wir spielen mit den Gegnern, das macht alles viel spannender, wir wollen dem Publikum etwas bieten. Etwa in Zürich, wenn Marvulli und ich eine Attacke machen, ist das ganze Publikum hinter uns, das bekommen wir natürlich mit: Wir bringen den Funken ins Publikum. Und wenn die Halle kocht, kommt der Funke zurück. Das ist Adrenalin, das macht süchtig! Die Beine sind schwer, das Rennen ist hart, aber wenn das Publikum auf den Bänken steht und ich weiss, es ist wegen uns, dann bekomme ich Hühnerhaut.

Also denken Sie noch nicht ans Aufhören?

Doch. Ich werde im September 40, auch ich muss einmal aufhören. Es ist schade, wenn man nach so einer Karriere erst aufhört, wenn der Erfolg nachlässt. Ich werde noch alles geben bis zwei Jahre nach den Olympischen Spielen in Peking. Dann höre ich auf mit den Rennen. Mit Velofahren selbstverständlich nicht.

Und danach?

Danach kommt wahrscheinlich ein riesiges Loch. [lacht] Nein, ich habe drei Kinder, eine wunderbare Familie. Ich freue mich sehr, wieder mehr Zeit für sie zu haben. Sie mussten sehr häufig auf mich verzichten. Und immer, wenn ich aus einem Trainingslager zurückkehre und sehe, wie sich die Kinder wieder verändert haben, wird mir bewusst, wie viel ich verpasse. Das stimmt mich melancholisch.

Wie werden Sie Ihren Ehrgeiz ausleben, wenn Sie nicht mehr Profirennfahrer sind?

Ich weiss noch nicht, was ich heute in zwei Jahren machen werde. Wahrscheinlich erst einmal eine Auszeit: Zeit haben, um den Kopf zu leeren und um über mich und meine Ziele nachzudenken. Auf jeden Fall wird es ein Neufanfang sein. Je näher der Zeitpunkt kommt, desto öfter denke ich darüber nach. Es ist eine Ungewissheit, aber auch eine Chance. Und eine Motivation, das Ansehen und den Erfolg, den ich jetzt im Sport habe, später in einem anderen Bereich wieder zu erreichen. Im Zentrum wird jedoch meine Familie stehen.

Hat Sie die Familie verändert?

Ja, enorm. Velofahren ist meine Leidenschaft, aber heute ist meine Familie mein Lebensmittelpunkt – Velofahren ist mein Beruf. Seit ich Kinder habe, gehe ich ganz anders an ein Rennen heran.

In welcher Hinsicht?

1996 in Atlanta und 2000 in Sydney wollte ich so viel, Velofahren war der Mittelpunkt in meinem Leben, ich setzte mich selbst enorm unter Druck. Seit ich eine Familie habe, ist der sportliche Erfolg relativ: Alles rückt ins richtige Verhältnis. Das gibt mir Halt, eine innere Ruhe. Und die brauche ich. Ich bin immer noch ehrgeizig, aber ich habe nicht mehr die innere Unruhe, die mich immer dann versagen liess, wenn ich es hätte bringen sollen. Heute gehe ich ans Rennen und gebe mein Bestes. Aber was zählt, ist die Familie. Wenn ich nach Hause komme, strahlen die Kinder – ob ich nun Weltmeister bin oder nicht. Für sie spielen Resultate keine Rolle.

Gehen Sie seither auch besser mit Niederlagen um?

Auf jeden Fall. Schulterklopfer gibt es viele, wenn man Erfolg hat. Wenn er ausbleibt, ist es die Familie, die für dich da ist. Ich war nicht immer erfolgreich, auch ich hatte sehr schwierige Erlebnisse. In Atlanta und Sydney habe ich kläglich versagt, obwohl ich der Favorit war. Da ist für mich die Welt zusammengebrochen, ich hatte sehr lange, um diese Niederlagen zu verarbeiten. Ich war so enttäuscht, dass ich meinen eigenen Erwartungen nicht gerecht wurde. Aber als Sportler muss man lernen zu verlieren und frisch anzufangen. Der Sport ist deshalb eine enorm gute Lebensschule. Für mich war es jedoch sehr schwierig, dies zu lernen – ich bin wirklich sehr ehrgeizig. Ich konnte schon als Bub nie verlieren.

In «Beijing 2008» werden Sie wieder als Favorit starten – und bereits zum fünften Mal an Olympia. Die Medaille, die in Ihrem Palmarès noch fehlt, ist Olympiagold. Wird der Druck diesmal nicht besonders hoch sein?

Für mich als Sportler wäre Gold natürlich das «Pünktli auf dem i». An Olympia Erfolg zu haben, ist das Höchste, was du als Sportler erreichen kannst, das ist genial. Für meinen Ehrgeiz wäre Gold deshalb sehr wichtig. Aber: Mit meiner Familie habe ich mein Glück, mein «Inseli» gefunden. Ich muss mein Glück nicht mehr im Sport suchen.

Text: Manuela Ryter

Dieses Interview erschien am 17. April 2008 im swiss sport 02/08, Magazin von Swiss Olympic.

«Für mich gibt es nur Badminton»

Jeanine Cicognini hat ihre Schweizer Konkurrentinnen – und die Schweiz – längst hinter sich gelassen. Für die 20-jährige Walliserin, grösste Schweizer Badminton-Hoffnung aller Zeiten, gibt es nur eines im Leben: den Sport. Und für den gibt sie alles.

Jeanine Cicognini, im Februar wurden Sie zum vierten Mal in Folge Schweizermeisterin im Einzel, und am Swiss Open gewannen sie heuer einen Match gegen eine Weltklassespielerin – für Schweizer Verhältnisse ein aussergewöhnlicher Erfolg. Was kommt als nächstes?

Jeanine Cicognini Dieses Jahr ist jedes Turnier wichtig. Im Mai hat die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Peking 2008 begonnen, und Peking geht über alles. Ich bin zufrieden: Ich bin die Nummer 1der Schweiz und momentan die Nummer 66 der Weltrangliste. Um in Peking teilzunehmen, brauche ich ein Ranking zwischen 60 und 70. Im Moment sieht es also gut aus. Aber ich muss dran bleiben – schliesslich will ich nicht den zweitletzten Qualifikationsplatz. 

Erfolg bedeutet Ihnen alles. Woher kommt dieser Ehrgeiz?

Mein Ehrgeiz ist riesig. Aber nicht grösser als bei den anderen Spielerinnen, mit denen ich im Olympiastützpunkt in Saarbrücken wohne und trainiere. Sie alle sind die Nummer 1 ihres Landes. Ohne diesen Ehrgeiz könnte man niemals zwei Mal pro Tag so hart trainieren.

Waren Sie schon immer so ehrgeizig?

Nein, überhaupt nicht. Als ich mit acht oder neun Jahren mit Badminton anfing, war ich das faulste Kind, das es gab. Ich joggte nicht gerne und war unmotiviert. Einzig Matches spielte ich gerne. Zielgerichtet trainierte ich erst ab 13 oder 14. Als ich dann merkte, dass ich viele Spiele verlor, weil ich keine Kondition hatte, konnte auch ich mich fürs Lauftraining motivieren. Heute jogge ich bis zum Umfallen, denn die Kondition ist nach wie vor mein Manko.

Nun sind Sie Badminton-Profi. Und dies, obwohl Badminton in der Schweiz ein Mauerblümchendasein fristet. Wie haben Sie das geschafft?

Erstens: Weil ich das unbedingt wollte. Und zweitens: Weil ich mit16 den Schritt wagte und von Brig nach Dänemark zog. Das war sehr hart für mich, aber ich wollte nicht stehen bleiben. Die Trainingsbedingungen in Dänemark waren nicht vergleichbar mit jenen in der Schweiz. In Saarbrücken ist es noch einmal eine Stufe härter. Für andere Schweizer Spieler war alles andere gleich wichtig wie der Sport: die Schule, Freunde, Freizeit. Für mich nicht. Für mich gab und gibt es nur Badminton.

In der Schweiz haben Sie längst alle Konkurrentinnen hinter sich gelassen. Mit Ihrem Namen verbindet man die Hoffnung, dass Badminton endlich den Durchbruch schafft. Wie gehen Sie mit diesem Druck um?

Ich spüre keinen Druck. Ich trainiere für mich selbst und es macht mir unheimlich Spass. Für mich ist Badminton immer noch ein Hobby. Ich sehe mich auch nicht als Vorbild. Es gibt noch so viele bessere Spielerinnen.

Im Olympiastützpunkt soll der europäische Nachwuchs unter asiatischem Drill zur Weltklasse gebracht werden – gegen die Dominanz der Asiaten. Wie sieht Ihr Alltag in Saarbrücken aus?

Von 8 bis 17 Uhr wird trainiert, gegessen, zwischendurch geschlafen. Das Training ist extrem hart und alles läuft sehr professionell. Wer einen schlechten Tag hat, sollte das besser für sich behalten – man muss immer hundert Prozent Einsatz geben.

Bleibt da noch Zeit für sich selbst? Für Freizeit und Freunde?

Nicht viel. Am Abend muss ich für meine Ausbildung als Fitnessfachwirtin lernen. Manchmal gehen wir danach Essen oder ich schaue mir einen Film auf DVD an. Das ist für mich in Ordnung. Ich habe eine andere Einstellung als die meisten Jugendlichen. Ich vermisse es nicht, jeden Tag in den Ausgang zu gehen und zu trinken. Ich erlebe hier viel schönere Dinge, die andere in meinem Alter nie erleben.

Zum Beispiel?

Etwa die vielen Reisen. Diesen Sommer spiele ich in Afrika, Neuseeland, Australien, Malaysia. Wir sehen uns jeweils die grössten Sehenswürdigkeiten an, in China reisten wir zur Chinesischen Mauer. Oder das Gefühl, wenn man gewinnt – das ist unbeschreiblich. Man fühlt sich so leicht, so zufrieden. Man hat etwas erreicht, wofür man hart gearbeitet hat. Das kompensiert alles, worauf man verzichtet hat. In diesen Momenten weiss ich wieder, weshalb ich so hart trainiere.

Und bei Niederlagen? Haben Sie da Freunde, die sie trösten?

Niederlagen sind hart, auch wenn sie manchmal gut sind um zu sehen, woran es noch fehlt. Rückhalt erhalte ich in solchen Situationen eher vom Trainer, weniger von Freunden – auch wenn ich in Frankfurt zwei sehr gute Freunde habe. Hier im Zentrum sind die Spielerinnen Konkurrentinnen. Von ihnen kann ich nach einer Niederlage keinen Trost erwarten. Das ist manchmal hart, aber man darf sich mental nicht fertig machen. Schliesslich ist es super, dass ich hier Konkurrenz habe, damit ich immer das Ziel vor Augen habe. Das wäre in der Schweiz anders.

Und die Liebe?

Die ist an der Distanz zerbrochen. Für dieses Jahr habe ich mir fest vorgenommen, single zu bleiben. Jetzt zählt nur noch Peking.

Dieses Porträt erschien am 14. Juni 2007 im swiss sport 5/07, Magazin von Swiss Olympic. ​

Text: Manuela Ryter