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Mit Handwerk zu mehr Mobilität

Als Orthopädistin macht Lisa Reinhard Menschen mobiler. Dieser Beruf vereint Handwerk, medizinisches Wissen und den Umgang mit Menschen.

Bewegung ist ihr Leben. Als professionelle Tänzerin schafft Lisa Reinhard mit Bewegung Kunst. Und als Orthopädistin bewegt sie Menschen, indem sie sie mobiler macht. Die 23-jährige Bernerin steht in der grossen Werkstatt des Ortho-Teams in Bern, wo sie Teilzeit arbeitet. Hier geht es um Einlagen, Orthesen und Prothesen. Um Korsette und massgefertigte Rollstühle. Um Gehhilfen und Spezialschuhe. In jeder Ecke dieser Werkstatt wird gegipst, geschliffen, gefräst und genäht. Reinhard hantiert mit grossen Maschinen, arbeitet mit modernster Technik am Computer oder in Feinstarbeit von Hand. Sie hat mit Metall und Kunststoff, Karbon und Polster, Leder und Stoff zu tun. Und in der Praxis vor den Türen der Werkstatt mit Menschen – den Kundinnen und Kunden, die diese Hilfsmittel benötigen.

Frauen in der Überzahl

Vor sich hat sie ein Korsett, das noch in Arbeit ist. Es wird seine Besitzerin, die an Muskelschwäche leidet, aufrecht halten und ihren Gang verbessern. Damit ihr Rü- cken gerader wird und die Schmerzen weniger werden. In einer Kiste warten die Unterschenkelorthesen eines Fünfjährigen mit cerebraler Lähmung. Diese «Schienen» sollen verhindern, dass sich seine Muskeln verkürzen, und ihm beim Laufenlernen helfen. Reinhard hat sie selbst gefertigt. Sie hat die Beine des jungen Kunden in der richtigen Stellung eingegipst und danach ein Modell gegossen, dieses geschliffen und mit Polster und erwärmtem Kunststoff überzogen. Nur die Näharbeit für Ledereinsatz und Klettverschlüsse überliess sie anderen Spezialistinnen. «Im Ortho-Team arbeiten wir in spezialisierten Abteilungen, aber eigentlich sind wir alle Allrounder und haben das Handwerk jedes Bereichs gelernt.»

Es sei die Abwechslung und Vielseitigkeit, die sie an diesem Beruf fasziniere, sagt Reinhard. Er verlange grosses handwerkliches Talent, soziale Kompetenzen und viel medizinisches Wissen. Die vierjährige Lehre, die in einem Orthopädie-Geschäft absolviert wird, sei daher gerade für Frauen attraktiv. Und tatsächlich: Waren noch vor 15 Jahren fast nur Männer an den zwei Berufsschulen in Zürich und Lausanne, seien die Frauen heute in der Überzahl. Pro Lehrjahr sind es rund 35 Lernende.

Sie kennt die andere Seite

Lisa Reinhard, die schon als Kind stundenlang bastelte, fühlt sich in der Werkstatt wohl. Das Talent und die Leidenschaft für den Beruf hat sie von ihrem Vater, der das Ortho-Team vor über 20 Jahren mitgründete. Heute werden schweizweit rund 200 Mitarbeitende beschäftigt. Als Jugendliche erfuhr sie selbst, was es heisst, wenn die Mobilität eingeschränkt ist: Ihre Wirbelsäule wuchs krumm heran und sie musste während drei Jahren ein hartes Korsett tragen. «Da lernte ich den Beruf kennen und schätzen. Ich erkannte, wie viel Arbeit in einem Hilfsmittel steckt.» Diese Dankbarkeit erhält sie heute von ihren Kunden. Sie sind gehbehindert, verletzt oder haben Schmerzen. Es sind Alte oder Kinder. Profifussballer, Banker oder geistig Behinderte.

Eine Arbeit, die Sinn macht

Der Umgang mit den Kunden sei so bereichernd wie herausfordernd, sagt die selbstbewusste junge Frau. Doch auch dies sei Teil der Ausbildung. «Das wichtigste ist, dass man jeden Kunden ernst nimmt. Auch mit Kindern oder mit geistig Behinderten kann man ganz normal reden – nur so findet man heraus, wo es drückt oder schmerzt. Und auch Senioren, die Schmerzen haben, muss man verstehen und ihnen zuhören können.» Ihre Stammkunden besucht Reinhard regelmässig im Spital, im Schulheim oder in Institutionen, und arbeitet dort mit Ärzten und Therapeutinnen zusammen. Die Mobilität ihrer Kunden gebe ihrer Arbeit Sinn, sagt Reinhard. «Mein Ziel ist es, dass sie ein eigenständigeres Leben führen können.» Oder dass sie schmerzfrei leben könnten – und dadurch mobiler seien. Denn mit Schmerzen nehme man immer den kürzesten Weg. Diese Herausforderung sei ihr Antrieb: «Ich weiss, wozu ich arbeite.»

Text und Bilder: Manuela Ryter, textbüro manuskript in Bern

Dieser Text erschien am 25.Februar 2014 in der BZ-Beilage "Bildung".