Roboter, Neuronen und ein Schweinehirn

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Am Gymnasium Köniz-Lerbermatt können sich seit Semesterbeginn zwei Mint-Klassen in den Naturwissenschaften austoben. Das neue Angebot soll die Nachfrage nach technischen Berufen steigern. Einiges deutet darauf hin, dass das gelingt.

Das Hirn ist bereits etwas geschrumpft. Das gelbliche Stück Fleisch schwappt im Alkohol hin und her. Es ist ein Teil des Grosshirns, auch ein Stück des Kleinhirns hängt noch dran. Der Rest dieses Schweinehirns wurde von den Schülerinnen und Schülern der Mint-Klasse am Gymnasium Köniz-Lerbermatt abgetrennt und liegt nun in kleine Stücke geschnitten in flüssigem Paraffin im Wärmeschrank. Biologielehrer Peter Nyffeler erklärt seinen Schülern, weshalb es zur Weiterverarbeitung ihrer Präparate keine Wasserresten in den Hirnstücken haben darf. Und ermahnt sie: «Sie sollen nicht nur lernen, wie die Forscher Präparate machen, sondern auch, warum sie es so machen.»

Projekt mit politischem Ziel

Mint steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Es sind ebendiese Fächer, mit denen sich viele Schülerinnen und Gymnasiasten schwertun. Es sind jene Fächer, die den Ruf haben, trocken, theoretisch und kompliziert zu sein, und in denen es in der Wirtschaft an Fachkräften und vor allem an Nachwuchs mangelt. Besonders Frauen sind in diesen Bereichen nur wenige zu finden. Um diesem Trend entgegenzuwirken, hat der Kanton Bern im vergangenen Jahr ein Projekt zur Förderung der Mint-Berufe lanciert. Unter anderem finanziert er auch eine der zwei neuen Mint-Klassen in Köniz - die ersten in der Schweiz -, die nun während der gesamten gymnasialen Ausbildung in zwei zusätzlichen Lektionen pro Woche in die Welt der Technik und der Naturwissenschaften abtauchen werden.

Hirn in allen Varianten

Es ist acht Uhr morgens, doch die sieben Schülerinnen und zehn Schüler gehen mit voller Konzentration an die Arbeit: Heute werden sie die kleinen Hirnstücke, die sie in einem langen Prozess entwässert haben, in Paraffinblöcken konservieren - um sie später gemeinsam mit den Profis am Naturhistorischen Museum sowie am Anatomischen Institut der Universität Bern in ultradünne Plättchen zu schneiden. Danach werden sie die Zellen und Strukturen der verschiedenen Hirnteile unter dem Mikroskop erforschen und miteinander vergleichen. «Wir können ins Hirn dieses Schweins hineinsehen und dann vielleicht auch verstehen, wie das menschliche Hirn aufgebaut ist und wie es funktioniert», sagt Etienne Hofstetter (17). Er sagt es nicht ohne Stolz, denn: «Wer hat schon die Möglichkeit, ein Hirn zu sezieren?»

«Think Mint - Denken in Netzwerken» ist das Thema des ersten Mint-Jahres - das Hirn ist der rote Faden der Lektionen. Vor den Herbstferien bauten die Schülerinnen und Schüler mit der Physiklehrerin einen Roboter aus speziellen Lego-Steinen und programmierten ihn. Dies sei eine Spielerei, aber auch eine Herausforderung gewesen, sagt Mario Trachsel (16): «Die Roboter mussten am Schluss durch ein Labyrinth gesteuert werden.» Man habe getüftelt und ausprobiert, bis die künstliche Intelligenz hergestellt war und funktionierte. Zeit zu haben zum Forschen und für viel Praxis statt Theorie, das sei das Tolle an Mint, sagt er. Seine Mitschüler nicken.

Vernetzung ist alles

Praktisch arbeiten die Jugendlichen jedoch nicht nur am Gymnasium. In der Sekunda, dem zweitletzten Jahr am Gymnasium, werden sie beispielsweise an der ETH Lausanne eine Woche lang in verschiedenen Bereichen arbeiten.

Nach der Robotik folgt die Anatomie. Und im Winter wird die Klasse ein Neuronennetzwerk konstruieren und der Reizverarbeitung des Gehirns auf die Spur gehen. «Mint verbindet Physik, Biologie, Chemie und Informatik miteinander - das macht das Projekt so spannend», sagt Etienne Hofstetter. Genau um diese Vernetzung gehe es, sagt Biologielehrer Nyffeler. «Die Schüler sollen lernen, in vernetzten Strukturen zu denken.» Vernetzung geschieht auch innerhalb der Klasse: Die Mint-Schüler haben im Gegensatz zu anderen Klassen verschiedene Schwerpunktfächer, von Musik bis Wirtschaft. «Da kommen verschiedene Denkweisen zusammen», sagt Seraina Bartetzko (16).

Mehr lernen dank Erlebnis

Sie macht sich nun mit ihrer Gruppe daran, «ihr» Hirnstück zu präparieren. Mit ruhiger Hand platzieren die jungen Frauen Winkel auf Glasscheiben, füllen die Öffnungen mit flüssigem Paraffin. Sie müssen den richtigen Moment erwischen, um das gelbe Stück Fleisch in die erkaltende Flüssigkeit zu geben. «Es ist extrem spannend, dass wir diesen Einblick erhalten», sagt Lea Hiller (15), «über das Hirn ist noch lange nicht alles erforscht, und es ist unvorstellbar, was es alles leistet.» Dieses Schweinehirn sei gar im Schweinekopf geliefert worden, «so konnten wir sehen, wie das Hirn im Kopf eingebettet ist». Als sie es rausgenommen hätten, sei es fast auseinandergefallen - das Hirn bestehe ja nur aus einem einzigen Strang.

Die jungen Frauen erzählen voller Begeisterung. Sie sind stolz, dass sie lernen dürfen, was sonst nur in Forschungslabors und Universitäten gemacht wird. «Es ist einfach der Wahnsinn, dass wir im ersten Gymerjahr die Möglichkeit haben, mit Profis von der Uni zusammenzuarbeiten», sagt Lea Hiller. Gerade für sie, die später Veterinärmedizin studieren will - das sei seit je klar -, sei dies von grosser Bedeutung.

Der Biolehrer ist zuversichtlich

Ob das politische Ziel, dass sich mehr Maturanden und vor allem Maturandinnen für ein naturwissenschaftliches Studium entscheiden, erreicht wird, ist offen. Die Wahrscheinlichkeit sei jedoch gross, sagt Biologielehrer Nyffeler. Denn: «Ausgerechnet im letzten Jahr, wenn es auf die Matura zugeht und die Studienwahl ein Thema wird, werden nach Lehrplan ausser Mathematik keine naturwissenschaftlichen Fächer unterrichtet. Dabei wären die Schüler dann geistig so weit, auch kompliziertere Sachen zu machen.» Die Mint-Klasse ermögliche nun ein Kontinuum, und man werde diese Schüler nach dem Gymnasium «motiviert in die Welt katapultieren». Das Praktische sowie die Zusammenarbeit mit den Hochschulen und Unternehmen machten die technischen Berufe fassbarer, sagen die Schüler: «Man kann konkreter an ein Studium oder einen Beruf herangehen, wenn man bereits einen Einblick hatte», so Mario Trachsel. Dies werde die Studienwahl erleichtern.

Mint-Klasse

Für 2014 schon 60 Anmeldungen

Von wegen Technikflaute - die Mint-Klasse ist ein voller Erfolg: Bereits im ersten Jahr meldeten sich mehr Schüler an als erwartet, weshalb mit zwei statt einer Klasse gestartet wurde. Das grosse Interesse zeige, dass die Gymnasien trotz vollem Lehrplan mehr Freiraum schaffen müssten für mehr Praxis und «fürs Forschen und Tüfteln», sagt Projektleiterin und Konrektorin Gabriele Leuenberger. Dies fördere die Kompetenzen sowie die Selbstständigkeit und die Vernetzung der Schüler. «Wir müssen die Gymnasien modernisieren und sie öffnen und vernetzen.» Wie viele Mint-Klassen ins Schuljahr 2014/15 starten werden, ist noch unklar - es haben sich bereits 60 angehende Gymnasiasten angemeldet. «Wir wissen noch nicht, wie wir mit diesem Ansturm umgehen werden», sagt Leuenberger. Man werde auf jeden Fall eine Lösung finden, denn das Gymnasium wolle nicht schon im zweiten Jahr Schüler abweisen. Umso weniger, als das Projekt eines der Ziele erreicht habe: Die Mint-Klasse begeistert auch junge Frauen. Im nächsten Jahr wird voraussichtlich fast die Hälfte der Teilnehmenden weiblich sein. (mry)

 

Dieser Artikel erschien am 13. November 2013 im "Bund".

Text: Manuela Ryter, textbüro manuskript, bern