Die urbane Sehnsucht nach mehr Natur

Urban Gardening ist mehr als nur ein Trend. Die junge, urbane Stadtbevölkerung holt sich die Natur zurück in die Stadt. Auch in der Stadt Bern verdecken Kräuter, Wildblumen und Gemüse grauen Beton.

Nicht jedes Blumenbeet in einem städtischen Vorgarten ist dem Trend Urban Gardening zuzuschreiben. Nicht jeder Schrebergarten gehört dem Phänomen an, das in den vergangenen Jahren von New York in die europäischen Grossstädte schwappte. Urban Gardening ist mehr: Der Griff zu Spaten, Schaufel und Setzlingen ist Ausdruck eines modernen, städtischen Lebensgefühls. Er beschreibt die Sehnsucht der jungen, urbanen Bevölkerung nach mehr Natur und Bodenständigkeit. Nach Wildblumen und naturnahen Erholungsräumen, nach gesundem und regionalem Bio-Gemüse, Artenvielfalt und gemeinschaftlichen Projekten. Es zieht sie hinaus in die Hinterhöfe und auf die Quartierplätze, die sie beleben und begrünen wollen, statt nur noch über Facebook zu kommunizieren. Sie wollen ihren Lebensraum selbst gestalten und holen sich mit Kreativität die Natur zurück in die Stadt.

Freiraum für Experimente

Kreativ geht es auch im Zentralpark in der Berner Lorraine zu und her. Auf der Brachfläche ziehen seit 2011 die Quartierbewohner gemeinsam Gemüse aus Säcken, Kisten und Abflussrohren. Im Gegensatz zu den Schrebergärten, wo jeder sein eigenes Gärtli hegt und pflegt, gärtnern hier rund 25 junge Städter zusammen und die Kartoffeln, Krautstiele und Kräuter, die hier wachsen, gehören allen. Jeder, der hilft, darf ernten. Und einmal im Monat wird gemeinsam gekocht, mit dem eigens gezogenen Gemüse. «Die Leute wollen wissen, woher ihr Gemüse kommt», sagt Sebastian Haas, der seit Beginn dabei ist.

Doch im Zentralpark stehe nicht der Ertrag im Vordergrund, hier gehe es um das Gemeinschaftliche. Das Gärtnern verbinde und schaffe Freiraum und Freiheit. «Es ist spannend, den öffentlichen Raum aktiv gestalten zu dürfen», sagt der 32-jährige Krankenpfleger und Landschaftsgärtner, «wir haben hier Narrenfreiheit – die Brache ist unsere Experimentierfläche.» Mit der Saatgutbank im Q-Laden und an der jährlichen Setzlingsbörse sensibilisieren die Lorraine-Gärtner ausserdem für die Biodiversität – ein grosses Anliegen von Urban Gardener Haas: «Es gibt unzählige Tomatensorten, nur sind die wenigsten davon bekannt.»

Die Kreativität der urbanen Gärtner wertet die Stadt auf: In der Lorraine ist nicht nur ein Garten, sondern ein naturnahes Gelände entstanden, das auch von Schülern, Familien und Arbeitern aus dem Quartier genutzt wird – zum Picknicken, Spielen oder Ausspannen. Urban Gardening sei jedoch nur der Anfang, sagt Haas. Wen die Gärtner-Leidenschaft packe, werde früher oder später im Boden statt in Kisten anpflanzen wollen – und sich ein Stück Land oder einen Schrebergarten suchen.

Wildpflanzen statt Blumenrabatte

Dass der Trend Urban Gardening in die 27 Stadtberner Schrebergärten mit den über 2000 Parzellen dringt, bestätigt auch Walter Glauser, Bereichsleiter Familiengärten von Stadtgrün Bern. «Die Familiengärten verändern sich», sagt er – dies sehe man nicht nur an den jüngeren, urbaneren Gärtnern, sondern auch an den Pflanzen. Bio hält Einzug, neu wachsen hier auch Wildpflanzen anstelle herausgeputzter Blumenrabatte. «Wir begrüssen dies», sagt Glauser, selbst leidenschaftlicher Gärtner.

Auf der Brache des alten Tramdepots am Burgernziel eröffnete er 2013 einen Gemeinschaftsgarten – nur dass die rund 30 Gärtnerinnen und Gärtner hier nicht wie in der Lorraine gemeinsam säen und ernten, sondern nebeneinander. Der Ertrag sei klein, aber der Aufwand auch, sagt Katja Jucker, die das Projekt koordiniert. «Die Leute – und vor allem die Kinder – sind fasziniert zu sehen, wie ein Gemüse wächst.» Und der Garten sorge über den Gartenhag hinaus für Leben. Auf der Wiese bei der Markuskirche wird in diesem Frühling ein ähnliches Projekt entstehen. Am Ralligplatz in der Länggasse ziehen die Bewohner seit 2012 Rüebli und Fenchel für die Schmetterlinge. An der Normannenstrasse in Bümpliz stellt die Stadt den Anwohnern Parzellen als «Küchengärten» zur Verfügung. Und im Brünnengut steht eine grosse Obstwiese, auf der die Bevölkerung die Bäume pflegt, die Äpfel und Birnen dann erntet und mostet.

«Die Menschen entdecken die Lust am Gärtnern neu», sagt Glauser – für ihn sei dieser Trend ein Glücksfall. «Die Menschen sollen ihren Lebensraum mitgestalten und den Kontakt mit Erde und Pflanzen wieder finden. Das ist meine Motivation.» Und das Potenzial sei noch lange nicht ausgeschöpft. In der Elfenau will Glauser einen Naschgarten anpflanzen, wo die Bevölkerung ab 2015 legal Beeren stehlen darf. Ein gemeinschaftlich bebauter Acker schwebt Glauser vor. Oder ein in Mischkultur besätes Stück Land, das man meterweise pachten, pflegen und ernten kann. Sein ausgefallenstes Projekt, ein vertikaler Garten, an dem Bernerinnen und Berner dereinst auf kleinstem Raum Gemüse ernten dürfen, ist Glauser noch im eigenen Garten am testen.

Urban Gardening auf dem Land

Urban Gardening drängt jedoch nicht nur in die Schrebergärten, sondern auch aufs Land. In Worb bepflanzen 220 Leute des Vereins Radiesli mithilfe zweier Gärtnerinnen eine halbe Hektare Land nach biologischen Grundsätzen. Die Ernte wird wöchentlich an die Vereinsmitglieder verteilt. Und viele Städter, die wegen der Wohnungsnot aufs Land ziehen, verwandeln dort mit Betonplatten eingerahmte Rasenflächen und eingezäunte Rabatten in Erholungsräume mit einheimischen Pflanzen, biologisch angebauten Gemüsegärten, Kiesplätzen und Trockensteinmauern, die nicht nur Schmetterlinge und Insekten, sondern auch Igel, Vögel und Salamander anziehen. Denn so urban der Trend Urban Gardening ist, so naturnah und nachhaltig möchte er sein.

dieser artikel erschien in der bz-beilage zur eigenheim bern 14.
text: manuela ryter, textbüro manuskript, bern