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Kleinere Karrierechancen trotz guter Ausbildung

Die jungen Berner Frauen haben in der Bildung aufgeholt: An den Berner Hochschulen studieren mehr Frauen als Männer. Auf dem Arbeitsmarkt können die top ausgebildeten Frauen ihr Potenzial jedoch auch heute noch nicht ausschöpfen.

Die Zeiten, in denen Frauen den Männern punkto Ausbildung nachhinkten, sind vorbei: Die jungen Frauen im Kanton Bern sind heute sogar etwas besser ausgebildet als die jungen Männer. Frauen sind an der Universität Bern mit 54 Prozent in der Mehrheit. Noch vor 30 Jahren sassen in den Berner Hörsälen nur ein Drittel Frauen. An der Pädagogischen Hochschule Bern sind Frauen mit über zwei Dritteln vertreten. Nur an der Berner Fachhochschule sind sie mit 42 Prozent in der Minderheit. Begründet wird dies unter anderem damit, dass viele junge Berner Frauen das Gymnasium besuchen, während sich junge Männer häufiger für eine duale Ausbildung mit Lehre, Berufsmaturität und Fachhochschule entscheiden.

Dies sind beachtliche Zahlen und sie liegen im Schweizer Durchschnitt. Die Studienrichtung wählen die jungen Frauen jedoch nach wie vor nach Stereotypen, ähnlich wie die angehenden Lernenden bei der Berufswahl. Auch wählen sie aus einem viel kleineren Spektrum an Fächern und Berufen als Männer. Im Kanton Bern studieren Frauen Recht, Medizin oder wählen ein Studium an der geisteswissenschaftlichen Fakultät. Oder sie bilden sich zur Lehrerin, Pflegefachfrau oder Designerin aus. In technischen Fächern wie Informatik, Technik, Architektur, Bau oder Wirtschaftswissenschaften sind sie zum Teil stark untervertreten.

Geringere Karrierechancen, weniger Lohn

So gut die Frauen ausgebildet sind – in der Arbeitswelt können sie ihr Potenzial auch heute nicht ausschöpfen. Gute Qualifikationen führen bei Frauen viel weniger häufig zu einem gut bezahlten Job als bei Männern: Fünf Jahre nach dem Masterabschluss besetzen 27 Prozent der studierten Frauen in der Schweiz eine Kaderstelle, nach einem Fachhochschulstudium 32 Prozent. Bei den Männern sind es 39 Prozent bzw. 50 Prozent. Und wenn die Kinder kommen, sinkt der Frauenanteil in Kaderpositionen weiter ab. Im Espace Mittelland waren 2012 16 Prozent aller erwerbstätigen Frauen Vorgesetzte. Bei den Männern waren es 24 Prozent. Auch an der Universität Bern wird nur jede fünfte Professur von einer Frau besetzt.

Auch bei den Besten der dualen Grundausbildung, jenen, die mit Auszeichnungen von Berufs- oder Weltmeisterschaften zurückkehren, gibt es keinen Leistungsunterschied zwischen Männern und Frauen, wie Ueli Müller, Unternehmer und Generalsekretär von SwissSkills, betont. Eine berufliche Karriere machten dann trotzdem vorwiegend die Männer, «weil die Frauen Kinder bekommen». Es sei die brutale Realität in der KMU- Welt, die die Schweiz präge, dass die Verfügbarkeit entscheidend für die Karriereentwicklung sei – da könne bereits der Mutterschaftsurlaub zum Problem werden. Teilzeit sei meist nicht möglich, schon gar nicht in einer verantwortungsvollen Position. Die Gesellschaft müsse aufhören, Frauen ein schlechtes Gewissen zu machen, wenn sie Karriere machen wollten, sagt Müller. «Doch meine persönliche Erfahrung im KMU-Umfeld zeigt, dass viele Frauen kein Interesse mehr an einer Karriere haben, sobald Kinder da sind.»

Frauen stossen an gläserne Decke

Dieses Argument lässt Barbara Ruf von der Kantonalen Fachstelle für Gleichstellung nicht gelten: «Wir kämpfen dafür, dass Frauen wählen können. Und dies ist heute nicht der Fall.» Die Arbeitsanforderungen seien auf eine traditionelle, männliche Arbeitswelt ausgelegt: In einer Führungsfunktion arbeitet man Vollzeit und ist jederzeit verfügbar. Die grosse Mehrheit der Frauen mit Kindern im Kanton Bern arbeitet jedoch Teilzeit, während ihre Partner 100 Prozent arbeiten, wie aus den Zahlen des Bundesamts für Statistik hervorgeht. «Frauen stossen in Unternehmen oft an eine gläserne Decke», sagt Ruf, «sie können ihre Qualifikationen, die sie aus der Ausbildung mitbringen, in der Berufswelt nicht gleich umsetzen wie Männer.» Viele gut qualifizierte Frauen wählten deshalb den Ausweg in die Selbstständigkeit – und fehlten somit in den Unternehmen. Es tue sich jedoch etwas, sagt Ruf, auch wenn die Fortschritte sehr klein seien. Etwa das KMU, welches eine Lösung findet für einen Vater, der sein Pensum reduzieren möchte, damit auch seine Frau arbeiten kann. Oder das grössere Unternehmen, das mit Mentoring gezielt Karrieren von Frauen fördert.

Für die Unternehmerin Christine Abbühl vom Frauenwirtschaftsverband Business and Professional Women Bern muss sich das Gesellschaftsbild, nach welchem «eine Mutter zu ihren Kindern gehört und ein Mann Vollzeit arbeitet», ändern, damit sich die Chancen für die Frauen verbessern können. Die jungen, aufstrebenden Frauen lebten in einem Irrglauben. «Sie sind überzeugt, dass es nicht nur in der Bildung, sondern auch im Beruf Chancengleichheit gibt.» Dies entspreche jedoch auch bei Frauen ohne Kinder nicht der Realität – und wenn sie dies merkten, sei die Enttäuschung gross.

Text: Manuela Ryter, textbüro manuskript bern

Dieser Text erschien im März 2014 im BERNpunkt, Magazin für Stadt und Region Bern (Wirtschaftsraum Bern).

Gymnasium Lerbermatt bricht Tabu
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In Zeiten der Sparpolitik geht das Gymnasium Köniz-Lerbermatt neue Wege und lässt sich eine der zwei neuen Mint-Klassen von einem Könizer Medizinaltechnik-Unternehmen finanzieren. Andere Gymnasien kritisieren dies als Wettbewerbsverzerrung.

Die Sponsoring-Debatte erreicht auch die Gymnasien. Was bisher ein Tabu war, hat das Gymnasium Köniz-Lerbermatt bereits umgesetzt: Die ortsansässige Firma Haag-Streit, ein internationales Schwergewicht im Bereich der Medizinaltechnik, finanziert eine der beiden Mint-Klassen, die im Herbst im Rahmen eines kantonalen Mint-Förderprojekts gestartet sind («Bund» vom 13. November). Mint steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. 187 000 Franken hat der CEO Walter Inäbnit der Schule als Defizitgarantie für vier Jahre zugesprochen - mit der Auflage, dass die Schule weitere Geldgeber sucht. «Es geht hier um Gönnerschaft, nicht um Sponsoring», betont die Mint-Projektleiterin Gabriele Leuenberger, Konrektorin des Gymnasiums. Die Schule gehe weder Verpflichtungen ein noch erbringe sie Gegenleistungen. Auch inhaltlich nehme der Gönner keinen Einfluss. «Den Lehrplan für den Mint-Unterricht bestimmen wir.»

«Notwendiges Engagement»

Das Interesse an der Mint-Klasse sei gross gewesen, doch habe das Geld des Kantons nur für eine Klasse gereicht, so Leuenberger. «Wir standen also vor der Wahl, Schüler abzulehnen oder andere Finanzierungsquellen zu suchen.» Ihr sei es aus gesellschaftspolitischen Gründen wichtig, dass alle Schüler - insbesondere die vielen interessierten Frauen - Zugang zum Mint-Angebot hätten. Die Schule gelangte an Inäbnit, der im Beirat der Mint-Klasse sitzt. Einsitz haben weitere Grössen aus Wirtschaft und Wissenschaft wie etwa der Herzchirurg Thierry Carrel von der Universität Bern oder BKW-Chefin Suzanne Thoma. Inäbnit ist bereits als Gönner und Sponsor der Universität Bern und der Fachhochschule Bern bekannt, bei ihm stiess das Gymnasium auf offene Ohren.

«Wir brauchen in der Schweiz unbedingt mehr Ingenieure und Naturwissenschaftler», sagt Inäbnit. Er habe daher nicht gezögert, das «ausgezeichnete Projekt» zu unterstützen. Es sei - gerade angesichts der aktuellen Kürzungen im Bildungsbereich - notwendig, dass sich die Wirtschaft stärker engagiere, «sonst wird die Schweiz langfristig nicht mit dem Ausland mithalten können». Einfluss auf Unterrichtsinhalte nehme er nicht, sagt Inäbnit, das brächte seinem international tätigen Unternehmen nichts. «Wir bieten der Klasse einzig unsere Hilfe an, geben gerne Inputs oder ermöglichen den Schülern einen Einblick in unsere Labors, falls dies gewünscht wird.» Auch Plätze für Praktika, die Bestandteil der Mint-Richtung sind, werden Haag-Streit und andere Unternehmen zur Verfügung stellen.

Mittel zur Weiterentwicklung

Wie vereinbart sucht das Gymnasium nach weiteren Geldgebern. «Wir werden insbesondere Stiftungen und lokal verankerte Firmen anfragen», sagt Bernhard Blank, stellvertretender Rektor des Gymnasiums. Er könne sich vorstellen, dass das Finanzierungsmodell in Zeiten des Sparens ein Modell für die Zukunft werde, es seien bereits weitere Projekte aufgegleist. Wichtig sei, dass das zusätzliche Angebot allen Schülern offenstehe und keine Elite fördere. Auch dürften Image und Neutralität der Schule nicht darunter leiden. Und: «Der obligatorische Unterricht darf auf keinen Fall privat finanziert werden, das ist Aufgabe des Staates.» Fakultative Fächer und Projekte privat zu finanzieren, sei jedoch legitim, sagt Blank. So könne sich das Gymnasium die nötigen Mittel schaffen, um sich weiterzuentwickeln und das Bildungsangebot den gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen.

Das Pilotprojekt Mint solle am Gymnasium Köniz-Lerbermatt zum festen Bestandteil werden, sagt Leuenberger. Falls der Kanton - Bildungsdirektor Bernhard Pulver (Grüne) hat die Gönnerschaft genehmigt - das Projekt nach der Pilotphase nicht weiter unterstützen sollte, werde das Gymnasium den Unterricht weiter privat finanzieren. Zuvor müssen Gönner gefunden werden für eine dritte Mint-Klasse, die aufgrund des grossen Interesses bereits im Herbst 2014 nötig wird.

Vorwurf Wettbewerbsverzerrung

Bei der Konkurrenz kommt das Vorgehen nicht gut an. «Das gab es noch nie», sagt Rolf Maurer, Rektor des Gymnasiums Neufeld. Er erachtet es als «problematisch», wenn sich in der Schule Staatliches und Privates vermischte. Es seien Vereinbarungen möglich, damit der Unterricht nicht beeinflusst werde. Anders als bei Universitäten mit einem Forschungsauftrag gebe es bei Gymnasien weniger Bereiche, die beeinflusst werden könnten. Das grössere Problem sieht er im Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Gymnasien in Bern, «wenn eine Schule plötzlich bessere Projekte anbietet, nur weil sie den grössten Götti hat». Ein gewisser Wettbewerb sei wichtig, «es darf jedoch über Sponsoringbudgets kein Grosswettbewerb entstehen». Es sei darum gut, dass der Staat die Aufgaben definiere und auch finanziere.

Auch Elisabeth Schenk, Abteilungsrektorin am Gymnasium Kirchenfeld, spricht von einer Wettbewerbsverzerrung - diese habe jedoch bereits mit der Finanzierung der Mint-Projekte durch den Kanton begonnen. «Mit dem regulären Kostendach haben alle Schulen die gleichen Voraussetzungen und können Prioritäten setzen.» Noch sei dieser Spielraum vorhanden - trotz der kantonalen Sparübungen. Schenk steht einer Gönnerschaft durch Firmen grundsätzlich kritisch gegenüber. «Meiner Meinung nach müsste eine Schule dieser Grösse ein solches Projekt unter dem regulären Kostendach finanzieren können.» Wie bei Universitäten stelle sich die Frage nach der Abhängigkeit und der Einflussnahme: «Die Bildung ist und bleibt ein öffentlicher Auftrag.» Wenn ein Unternehmen eine Maturazeitung unterstütze, ein Instrument für ein Musikprojekt sponsere oder einzelne Schülerprojekte mitfinanziere, sei das unproblematisch. Bei einem Unterrichtsprojekt sei das jedoch anders: «Wenn Lehrerlöhne privat finanziert werden, überschreitet das eine Grenze.»

Das vierte Gymnasium im Berner Einzugsgebiet, das Gymnasium Hofwil, sieht das Ganze weniger kritisch: «Wenn gespart wird, ist es naheliegend, dass man auch andere Geldgeber sucht», sagt Rektor Peter Stalder. Gerade für ausgewählte Projekte, die zeitlich beschränkt oder aussergewöhnlich seien und einen Mehrwert für die Jugendlichen darstellten, könne er sich ein solches Finanzierungsmodell vorstellen. Wichtig sei, dass die Schule den Unterrichtsinhalt selber gestalten könne: «Der Lead muss bei der Schule sein.»

Auch Politik gespalten

Die Meinungen sind auch in der Politik gemischt. Grossrat Samuel Leuenberger (BDP) erachtet es als richtig, «wenn ein Gymnasium den Mut hat, unternehmerisch aktiv zu werden - vorausgesetzt, dass es nicht abhängig wird und eine Firma keinen Einfluss nehmen kann». Der grüne Grossrat und Solarpionier Urs Muntwyler, Professor für Fotovoltaik an der Fachhochschule Bern, sitzt im Beirat der Mint-Klasse und begrüsst die Lösung: Mint sei wichtig, und mit Inäbnit habe das Gymnasium Lerbermatt einen sehr guten Gönner gefunden. Er könne sich gut vorstellen, selber Gönner des Projekts zu werden. «Langfristig hätte ich jedoch Vorbehalte - die Schulen dürfen nicht zum langen Arm der Unternehmen werden», sagt Muntwyler.

Kein Geld ohne Gegenleistung

Es sei «naiv» zu glauben, dass eine Firma Geld gebe, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, sagt hingegen Roland Näf, Grossrat und Präsident der SP Kanton Bern. «Das Interesse der Firmen im Mint-Bereich liegt bei der Rekrutierung von zukünftigen Fachkräften.» Unabhängigkeit beginne im Kopf: «Wenn wir eine Beziehung zu einer Firma aufbauen, bleibt diese in unserem Kopf.» Das beginne bereits bei einem Firmenbesuch. Der Kontakt von Schülern zu Firmen sei zwar sehr wichtig, «aber dieser darf auf keinen Fall im Zusammenhang mit einer Gönnerschaft stehen.» Für ihn ist deshalb klar: «Die öffentliche Schule muss zwingend öffentlich und vollkommen unabhängig bleiben.»

Zur Sache

«Dies ist ein Einzelfall»

Herr Battaglia, sind Sponsoring und Gönnerschaft an Gymnasien schulpolitisch vertretbar?

Für uns ist wichtig, dass es sich um ein Gönnertum handelt und nicht um ein Sponsoring - die finanzielle Unterstützung ist also nicht an Bedingungen geknüpft, und es wird keine Werbung für die Firma gemacht. Weitere Kriterien für unser O. K. waren folgende: Es handelt sich um eine lokal verankerte Firma, und der privat finanzierte Unterricht ist fakultativ. Für die Finanzierung des obligatorischen Unterrichts ist der Kanton zuständig.

Der Gönner sitzt immerhin im Beirat und bietet Praktikumsplätze an. Wie kann eine Einflussnahme verhindert werden?

Der Beirat ist nur ein beratendes Gremium, und Praktikumsplätze gibt es auch in anderen Betrieben. Man muss dies aber sicher sorgfältig beobachten.

Wird dieses Finanzierungsmodell in Sparzeiten zum Zukunftsmodell?

Nein, sicher nicht. Es handelt sich hier um eine spezielle Situation, weil es sich um ein Projekt handelt, das zum Teil auch durch den Kanton finanziert wird. Die Schule stand vor der Wahl: entweder Schüler abweisen oder den Gönnerbeitrag annehmen. Dies ist ein Einzelfall.

Die Schule plant jedoch, das Projekt auch längerfristig über Gönner zu finanzieren.

Ein Gönner zahlt nicht ewig. Falls das Projekt zum Normalbetrieb wird, muss die Schule die Kosten innerhalb des regulären Kostendachs bewältigen.

Das Mint-Projekt ist ein fakultatives Angebot. Wo liegen die Grenzen? Was geschähe, wenn ein Gymnasium zum Beispiel die in der Sparrunde gestrichenen Russischlektionen als fakultatives Angebot privat finanzieren liesse?

Das wäre sicher nicht möglich, da es sich dabei um obligatorischen Unterricht handelt. Die Schulen müssen grundsätzlich jede Gönnerschaft mit uns absprechen. Wir gehen jedoch nicht von einem Flächeneffekt aus.

Die Gymnasien kommen mit jeder Sparrunde stärker unter Druck. Werden sie private Geldgeber brauchen, um sich zu profilieren?

Wir gehen nicht davon aus, dass dies notwendig ist. Jedes Gymnasium kann schon heute Schwerpunkte setzen, um sich zu positionieren. Das Gymnasium Neufeld etwa hat die Sportklasse, im Kirchenfeld gibt es die zweisprachige Maturität. (Interview: mry)

Zur Person

Mario Battaglia ist Vorsteher der Abteilung Mittelschulen in der Erziehungsdirektion.

 

Dieser Artikel erschien am 30. November 2013 im "Bund"

Text: Manuela Ryter, textbüro manuskript, Bern

Roboter, Neuronen und ein Schweinehirn
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Am Gymnasium Köniz-Lerbermatt können sich seit Semesterbeginn zwei Mint-Klassen in den Naturwissenschaften austoben. Das neue Angebot soll die Nachfrage nach technischen Berufen steigern. Einiges deutet darauf hin, dass das gelingt.

Das Hirn ist bereits etwas geschrumpft. Das gelbliche Stück Fleisch schwappt im Alkohol hin und her. Es ist ein Teil des Grosshirns, auch ein Stück des Kleinhirns hängt noch dran. Der Rest dieses Schweinehirns wurde von den Schülerinnen und Schülern der Mint-Klasse am Gymnasium Köniz-Lerbermatt abgetrennt und liegt nun in kleine Stücke geschnitten in flüssigem Paraffin im Wärmeschrank. Biologielehrer Peter Nyffeler erklärt seinen Schülern, weshalb es zur Weiterverarbeitung ihrer Präparate keine Wasserresten in den Hirnstücken haben darf. Und ermahnt sie: «Sie sollen nicht nur lernen, wie die Forscher Präparate machen, sondern auch, warum sie es so machen.»

Projekt mit politischem Ziel

Mint steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Es sind ebendiese Fächer, mit denen sich viele Schülerinnen und Gymnasiasten schwertun. Es sind jene Fächer, die den Ruf haben, trocken, theoretisch und kompliziert zu sein, und in denen es in der Wirtschaft an Fachkräften und vor allem an Nachwuchs mangelt. Besonders Frauen sind in diesen Bereichen nur wenige zu finden. Um diesem Trend entgegenzuwirken, hat der Kanton Bern im vergangenen Jahr ein Projekt zur Förderung der Mint-Berufe lanciert. Unter anderem finanziert er auch eine der zwei neuen Mint-Klassen in Köniz - die ersten in der Schweiz -, die nun während der gesamten gymnasialen Ausbildung in zwei zusätzlichen Lektionen pro Woche in die Welt der Technik und der Naturwissenschaften abtauchen werden.

Hirn in allen Varianten

Es ist acht Uhr morgens, doch die sieben Schülerinnen und zehn Schüler gehen mit voller Konzentration an die Arbeit: Heute werden sie die kleinen Hirnstücke, die sie in einem langen Prozess entwässert haben, in Paraffinblöcken konservieren - um sie später gemeinsam mit den Profis am Naturhistorischen Museum sowie am Anatomischen Institut der Universität Bern in ultradünne Plättchen zu schneiden. Danach werden sie die Zellen und Strukturen der verschiedenen Hirnteile unter dem Mikroskop erforschen und miteinander vergleichen. «Wir können ins Hirn dieses Schweins hineinsehen und dann vielleicht auch verstehen, wie das menschliche Hirn aufgebaut ist und wie es funktioniert», sagt Etienne Hofstetter (17). Er sagt es nicht ohne Stolz, denn: «Wer hat schon die Möglichkeit, ein Hirn zu sezieren?»

«Think Mint - Denken in Netzwerken» ist das Thema des ersten Mint-Jahres - das Hirn ist der rote Faden der Lektionen. Vor den Herbstferien bauten die Schülerinnen und Schüler mit der Physiklehrerin einen Roboter aus speziellen Lego-Steinen und programmierten ihn. Dies sei eine Spielerei, aber auch eine Herausforderung gewesen, sagt Mario Trachsel (16): «Die Roboter mussten am Schluss durch ein Labyrinth gesteuert werden.» Man habe getüftelt und ausprobiert, bis die künstliche Intelligenz hergestellt war und funktionierte. Zeit zu haben zum Forschen und für viel Praxis statt Theorie, das sei das Tolle an Mint, sagt er. Seine Mitschüler nicken.

Vernetzung ist alles

Praktisch arbeiten die Jugendlichen jedoch nicht nur am Gymnasium. In der Sekunda, dem zweitletzten Jahr am Gymnasium, werden sie beispielsweise an der ETH Lausanne eine Woche lang in verschiedenen Bereichen arbeiten.

Nach der Robotik folgt die Anatomie. Und im Winter wird die Klasse ein Neuronennetzwerk konstruieren und der Reizverarbeitung des Gehirns auf die Spur gehen. «Mint verbindet Physik, Biologie, Chemie und Informatik miteinander - das macht das Projekt so spannend», sagt Etienne Hofstetter. Genau um diese Vernetzung gehe es, sagt Biologielehrer Nyffeler. «Die Schüler sollen lernen, in vernetzten Strukturen zu denken.» Vernetzung geschieht auch innerhalb der Klasse: Die Mint-Schüler haben im Gegensatz zu anderen Klassen verschiedene Schwerpunktfächer, von Musik bis Wirtschaft. «Da kommen verschiedene Denkweisen zusammen», sagt Seraina Bartetzko (16).

Mehr lernen dank Erlebnis

Sie macht sich nun mit ihrer Gruppe daran, «ihr» Hirnstück zu präparieren. Mit ruhiger Hand platzieren die jungen Frauen Winkel auf Glasscheiben, füllen die Öffnungen mit flüssigem Paraffin. Sie müssen den richtigen Moment erwischen, um das gelbe Stück Fleisch in die erkaltende Flüssigkeit zu geben. «Es ist extrem spannend, dass wir diesen Einblick erhalten», sagt Lea Hiller (15), «über das Hirn ist noch lange nicht alles erforscht, und es ist unvorstellbar, was es alles leistet.» Dieses Schweinehirn sei gar im Schweinekopf geliefert worden, «so konnten wir sehen, wie das Hirn im Kopf eingebettet ist». Als sie es rausgenommen hätten, sei es fast auseinandergefallen - das Hirn bestehe ja nur aus einem einzigen Strang.

Die jungen Frauen erzählen voller Begeisterung. Sie sind stolz, dass sie lernen dürfen, was sonst nur in Forschungslabors und Universitäten gemacht wird. «Es ist einfach der Wahnsinn, dass wir im ersten Gymerjahr die Möglichkeit haben, mit Profis von der Uni zusammenzuarbeiten», sagt Lea Hiller. Gerade für sie, die später Veterinärmedizin studieren will - das sei seit je klar -, sei dies von grosser Bedeutung.

Der Biolehrer ist zuversichtlich

Ob das politische Ziel, dass sich mehr Maturanden und vor allem Maturandinnen für ein naturwissenschaftliches Studium entscheiden, erreicht wird, ist offen. Die Wahrscheinlichkeit sei jedoch gross, sagt Biologielehrer Nyffeler. Denn: «Ausgerechnet im letzten Jahr, wenn es auf die Matura zugeht und die Studienwahl ein Thema wird, werden nach Lehrplan ausser Mathematik keine naturwissenschaftlichen Fächer unterrichtet. Dabei wären die Schüler dann geistig so weit, auch kompliziertere Sachen zu machen.» Die Mint-Klasse ermögliche nun ein Kontinuum, und man werde diese Schüler nach dem Gymnasium «motiviert in die Welt katapultieren». Das Praktische sowie die Zusammenarbeit mit den Hochschulen und Unternehmen machten die technischen Berufe fassbarer, sagen die Schüler: «Man kann konkreter an ein Studium oder einen Beruf herangehen, wenn man bereits einen Einblick hatte», so Mario Trachsel. Dies werde die Studienwahl erleichtern.

Mint-Klasse

Für 2014 schon 60 Anmeldungen

Von wegen Technikflaute - die Mint-Klasse ist ein voller Erfolg: Bereits im ersten Jahr meldeten sich mehr Schüler an als erwartet, weshalb mit zwei statt einer Klasse gestartet wurde. Das grosse Interesse zeige, dass die Gymnasien trotz vollem Lehrplan mehr Freiraum schaffen müssten für mehr Praxis und «fürs Forschen und Tüfteln», sagt Projektleiterin und Konrektorin Gabriele Leuenberger. Dies fördere die Kompetenzen sowie die Selbstständigkeit und die Vernetzung der Schüler. «Wir müssen die Gymnasien modernisieren und sie öffnen und vernetzen.» Wie viele Mint-Klassen ins Schuljahr 2014/15 starten werden, ist noch unklar - es haben sich bereits 60 angehende Gymnasiasten angemeldet. «Wir wissen noch nicht, wie wir mit diesem Ansturm umgehen werden», sagt Leuenberger. Man werde auf jeden Fall eine Lösung finden, denn das Gymnasium wolle nicht schon im zweiten Jahr Schüler abweisen. Umso weniger, als das Projekt eines der Ziele erreicht habe: Die Mint-Klasse begeistert auch junge Frauen. Im nächsten Jahr wird voraussichtlich fast die Hälfte der Teilnehmenden weiblich sein. (mry)

 

Dieser Artikel erschien am 13. November 2013 im "Bund".

Text: Manuela Ryter, textbüro manuskript, bern

Ein Radar für den Vogelschutz
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Windkraft hat Aufwind. Doch für Vögel und Fledermäuse sind die Rotoren oft tödlich. Vogelschützer und Windkraftbetreiber wollen nun auf Technik setzen: Der Radar einer Berner Firma soll die Anlagen abstellen, sobald Zugvögel vorbeiziehen.

Das Prinzip ist einfach: Nähern sich einem Windpark Zugvögel in Schwärmen, werden diese vom Vogelradar erkannt. Erreicht die Vogeldichte einen gewissen Schwellenwert, stellen automatisch alle Turbinen ab. Die Rotoren stehen mehrere Stunden still, bis der Vogelzug vorüber ist. Jeden Herbst und jeden Frühling, bis die vielen Millionen Zugvögel die Schweiz Richtung Süden durchquert haben.

Der Vogelradar soll so Hunderte Zugvögel, aber auch Fledermäuse vor dem Tod bewahren. Wie viele Vögel genau mit den Rotoren der Windturbinen kollidieren, ist nicht bekannt – noch fehlen verlässliche Studien. «Doch das Problem ist zweifellos da», sagt Matthias Kestenholz von der Vogelwarte Sempach, denn die meisten Zugvögel flögen just auf der Höhe der bis zu 120 Meter hohen Turbinen, deren drehende Rotoren sie nicht richtig einschätzen oder in der Nacht übersehen. Und ausgerechnet dort, wo die Zugvögel je nach Wind und Jahreszeit zahlreich fliegen, sind auch die besten Windverhältnisse für die Windenergie: den Juraketten und dem Alpennordhang entlang. Konflikte seien also unvermeidlich, so Kestenholz.

Denn die Windenergie ist im Kommen. Der Bund hat ihr in seiner Energiestrategie viel Gewicht gegeben. Hunderte Projekte werden momentan aufgegleist und die Kantone suchen beflissen nach idealen Standorten für neue Windturbinen. Doch fast alle Projekte kommen mit dem Vogelschutz in Konflikt, viele stehen still, weil Einsprachen von Seiten der Umweltverbände und des Vogelschutzes hängig sind. Und das, obwohl diese die Windkraft im Grundsatz befürworten. Denn auch für die Vogelarten ist der Klimawandel eine der grössten Gefahren – und erneuerbare Energien daher mehr als erstrebenswert. Es wird deshalb auf allen Seiten nach Lösungen gesucht.

«Verkraftbare Investition»

An Lösungen sind auch die künftigen Betreiber von Windparks interessiert, denn mit jeder Einsprache weniger erhält ein Projekt mehr Chancen. So entstand auch der Vogelradar aus der Not heraus. «Als fixe Abschaltzeiten der Turbinen während des Vogelzugs gefordert wurden, suchten wir nach einer Lösung», sagt Urs Seiffert, der als Geschäftsführer der Firma Considerate AG in Köniz auch Windparks entwickelt. Er gründete die Firma Swiss Birdradar Solution AG und entwickelte zusammen mit der Vogelwarte, die seit Jahrzehnten Radare der Schweizer Armee einsetzt, um Zugvögel zu erforschen, den Radar Birdscan. Es gebe Standorte, die den vom Bund festgelegten Grenzwert getöteter Vögel ohne Massnahmen nicht überschreiten. «Die anderen müssen die Anlagen während des Vogelzugs abstellen. Ganz oder dank des Radars nur stundenweise.» Ein Grossteil des Vogelschlags könne so verhindert werden.

Fest eingeplant ist der neue Vogelradar, der ab 2014 verkauft wird, bei der geplanten Anlage auf dem solothurnischen Grenchenberg. «Unser Ziel ist es, möglichst wenig Schäden zu verursachen», sagt Per Just, Geschäftsführer der SWG. Dank dem Radar könne man mit einer verkraftbaren Investition ein potenzielles Umweltproblem lösen – und erst noch davon profitieren, da man so die Abschaltzeiten verkürzen könne. Die Investitionskosten von rund 350 000 Franken würden also rasch amortisiert werden.

Radar löst nicht alle Probleme

Dass der Radar die Akzeptanz der Windenergie erhöhen wird, hofft auch Reto Rigassi von Suisse Eole, dem Verband zur Förderung der Windenergie. Eine solche Massnahme sei jedoch nur an Standorten mit sehr intensivem Vogel-zug verhältnismässig, sagt er. «Laut unserer Einschätzung sind Windparks keine grosse Gefahr für Zugvögel.» Doch man sei bereit, die Befürchtungen ernst zu nehmen. «Wir wollen als Teil der Lösung wahrgenommen werden und nicht als Gegner des Naturschutzes.»

So oder so wird der Radar nicht alle Probleme lösen. Denn nicht nur Zugvögel, sondern auch heimische Vögel wie Störche, Adler oder Milane kollidieren mit den Windturbinen. Um die Standortsuche zu erleichtern, hat die Vogelwarte im Auftrag des Bafu Konfliktpotenzialkarten erarbeitet. Auch die Beeinträchtigung der Lebensräume in zuvor nicht erschlossenen Gebieten macht den Vogelschützern Sorgen. Dies bekam auch das Projekt Schwyberg im Kanton Freiburg zu spüren: Unter anderem wegen der dort ansässigen Birkhühner liegt das Windenergieprojekt auf Eis. Und eine Lösung ist hier nicht in Sicht. 

 

3 FRAGEN AN

Markus Geissmann, Leiter Windenergie beim Bundesamt für Energie (BFE)

Windenergie ist im Aufwind, stösst jedoch auf Widerstand. Wie grün ist die grüne Energie wirklich?

Sie ist vom Material- und Landverbrauch her sehr grün. Kritik ist nur in zwei Bereichen angebracht: der Landschaftswirkung und dem Vogelschutz. Ersteres sollte eigentlich kein Thema sein, denn mit Windkraft wird langfristig nichts verbaut. Den Vogelschutz hingegen müssen wir ernst nehmen und ihn richtig angehen. Er darf aber auch nicht instrumentalisiert werden.

Bringt der Vogelschutz die Energiewende in Gefahr?

Diese Aussage ist zu plakativ, denn es gibt noch viele andere Faktoren – neben dem Landschaftsschutz und der Akzeptanz in der Bevölkerung etwa die Verträglichkeit mit der Zivilluftfahrt oder dem Militär. Doch der Vogelschutz ist ein Problem: Jedes Projekt, das momentan in Planung ist, kommt mit den Vögeln in Konflikt. Sei das, weil ein Standort laut Konfliktpotenzialkarte der Vogelwarte Sempach in einem Konfliktgebiet liegt oder weil ein Anwohner behauptet, in der Nähe gebe es Turmfalken.

Dann wird das Thema Vogelschutz überbewertet?

Was die Zugvögel angeht: ja. Wir sind der Meinung, dass die Windenergieanlagen einen vernachlässigbaren Effekt auf diese Vögel haben. Bei den Brutvögeln haben wir einen starken Zielkonflikt. Hier müssen Massnahmen ergriffen werden. Einen Kompromiss wird es aber geben müssen, denn wir brauchen die Windenergie, wenn wir die Atomkraftwerke ersetzen wollen. Wichtig ist, dass Studien gemacht werden, damit wir endlich wissen, welche Auswirkungen die Windenergie tatsächlich auf die Vögel hat. Das ist ein Risiko für die Windkraft, doch dieser Weg kann auch eine Chance sein.

 Info:

Windkraft als tragender Pfeiler der Energiewende

Heute werden in der Schweiz mit 33 Windturbinen jährlich rund 92 Gigawattstunden (GWh) Energie produziert – fast die Hälfte davon auf dem Mont-Crosin im Berner Jura. Laut Energiestrategie des Bundes sollen es bis 2050 rund 4000 GWh sein, was der Leistung von 800 Turbinen entspricht. Weil der Stromverbrauch weiter zunehmen wird und die Kernenergie wegfällt, braucht es bis 2050 Ersatz für 22 000 GWh Strom. Dieser soll aus einheimischer, erneuerbarer Energie bestehen, 20 Prozent davon aus Windenergie. Zurzeit sind Projekte für über 400 Windturbinen bei der Kostendeckenden Einspeisevergütung KEV, die Windkraft national fördert, angemeldet. 

 

 

Diese Themenseite erschien am 22. Oktober in der BZ-/Bund-Beilage "Erneuerbare Energie".

Text: Manuela Ryter, textbüro manuskript, bern

 

 

 

Das Ende der Weltrekorde ist noch fern

Sportlerinnen und Sportler werden immer schneller, Weltrekorde purzeln seit den ersten modernen Olympischen Spielen. Damit soll bald Schluss sein, sagen Wissenschaftler. Doch Usain Bolt und Michael Phelps belehrten sie in Peking eines anderen. Wird der Mensch auch in Zukunft immer schneller? Oder sind die physischen Grenzen irgendwann erreicht?

Der Beste zu sein, die Schnellste, der Stärkste – das ist und war schon immer eine Triebfeder für jeden Sportler, der Hintergrund eines jeden Wettkampfs. Der Beste des Dorfs, der Schnellste der Stadt, die Stärkste des Landes, von Europa und schliesslich der Welt zu sein, dieses Streben nach Perfektion ist im Sport so verankert wie der Ball im Fussballspiel. Das höchste Ziel dabei: Der Beste aller Zeiten zu sein – einen Weltrekord aufzustellen.

Damit soll laut neusten Studien bald Schluss sein, die physischen Grenzen des menschlichen Körpers sollen bald erreicht sein. «Das Ende der Weltrekorde», titelten die Zeitungen im vergangenen Winter denn auch, als Jean-François Toussaint seine Studie präsentierte. Der Leiter des Instituts für Biomedizinische und Epidemologische Forschung des Sports (Irmes) sagte darin das Ende der Weltrekorde im Jahr 2060 voraus. Und zwar in allen klassischen Disziplinen.

In der Studie untersuchte der französische Wissenschaftler insgesamt 3263 Weltrekorde in allen klassischen Sportarten seit dem Beginn der Olympischen Spiele der Neuzeit 1896. Das Resultat: In allen Disziplinen werden die Sportler immer besser, immer schneller, immer stärker. Doch die Steigerungskurve flacht immer mehr ab.

Toussaint wendet diese exponentiell abfallende Entwicklung für eine Prognose der Zukunft an: Eines Tages wird die Kurve ganz flach und das Maximum erreicht sein. In der Hälfte aller Sportarten und Disziplinen soll dies bereits in 20 Jahren der Fall sein. Denn laut Toussaint haben wir heute bereits 99 Prozent der maximal möglichen Leistungsfähigkeit erreicht. In der Königsdisziplin 100-Meter-Sprint rechnet Toussaint mit einer noch möglichen Steigerung von 14 Tausendstel (Anfang 2008 lag der Weltrekord bei 9,74 Sekunden), im Marathon errechnete er die Leistungsgrenze bei 2:03:08 – 78 Sekunden unter dem damaligen Weltrekord. Der Körper stosse an seine Grenzen.

Leistungsgrenze bereits unterboten

Der Hohn am Ganzen: Die Ergebnisse der Studie hielten nicht einmal ein halbes Jahr stand, die Realität lehrte die Wissenschaft, dass sich die menschliche Leistungsentwicklung nicht in Kurven prognostizieren lässt. Usain Bolt liess die Wissenschaftler im Regen stehen: Die prognostizierte Leistungsgrenze von 9,72 Sekunden erreichte er bereits im Mai 2008. Und mit seinen 9,69 Sekunden, in denen er die 100 Meter an den Olympischen Spielen in Peking rannte (und zwar zum Erstaunen aller auf den letzten Metern bereits im abgebremsten Siegesschritt), unterbot er Toussaints prognostiziertes «Ende der Weltrekorde» um 36 Tausendstel.

Auch Schwimmer Michael Phelps und seine Kollegen liessen im vergangenen Jahr Wissenschaftler und Zuschauer perplex zurück. Ausgerechnet im Schwimmen, wo die Weltrekorde seit Jahren nur in winzigen Schritten purzeln, fielen heuer etliche Rekorde. In Peking gab es Rennen, in denen gleich mehrere Schwimmer unter der Weltrekordzeit anschlugen. Und auch im Marathon verbesserte Haile Gebrselassie seinen Weltrekord im September in Berlin um unglaubliche 27 Sekunden. Mit einer Zeit von 2:03:59 kommt er Toussaints Leistungsgrenze damit unerhört nah.

Bessere Technik, mehr Leistung

Ist ein Ende der Weltrekorde überhaupt voraussehbar? Oder wird sich der menschliche Körper stets weiterentwickeln? Wird der Mensch auch in Zukunft noch schneller, höher, stärker? «Wir sollten davon ausgehen, dass es immer eine Entwicklung geben wird», sagt Sportwissenschaftler Ralf Seidel von der Leistungsdiagnostik der Schulthess Klinik. Einen der Hauptgründe dafür sieht Seidel in der Entwicklung zukünftiger Technologien: «Sie werden das Training laufend verändern und eine kontinuierliche Leistungssteigerung ermöglichen.»

So hätten beispielsweise die Gegenströmungsanlagen den Schwimmsport massiv verändert. Mit Kameras und Messgeräten kann heute die Qualität des Trainings, die Motorik des Athleten und vieles mehr gemessen werden. «So etwas hätte man sich vor 50 Jahren nicht erträumt», sagt Seidel. Genauso wisse man nicht, welche Technik uns in 50 Jahren erwarte: «Wir werden nicht stehen bleiben.»

Es gebe im Leistungssport noch vieles, das nicht ausgeschöpft sei, sagt Seidel. So seien beispielsweise die Talentsuche und die professionelle Sportförderung noch in keiner Weise ausgereizt. Und auch in den Bereichen Ernährung, Schlaf und Sportpsychologie sieht er noch Lücken – sowohl in der Kenntnis darüber wie auch in der Anwendung des bisherigen wissenschaftlichen Wissensstands: «Da ist noch Verbesserung möglich.» Auch sei die Trainingswissenschaft noch eine junge wissenschaftliche Disziplin, die sich weiterentwickle. «Wenn man schaut, wie man vor 40 Jahren trainierte, kann man heute über die Trainingspläne von damals schmunzeln.»

Wird also nie eine physiologische Grenze erreicht werden? Entscheidend für eine kontinuierliche Leistungssteigerung sei die Steigerung der Qualität des Trainings sowie der Belastbarkeit der Athleten, womit mehr und intensiveres Training möglich werde. Wenn zusätzlich die Erholung – zum Beispiel durch Schlaf und Ernährung – verbessert werde, sei wiederum eine Leistungssteigerung möglich. Ob physiologische Grenzen irgendwann erreicht werden, «spielt gar nicht so eine wichtige Rolle», sagt Seidel. Denn schlussendlich garantiere die beste körperliche Leistungsfähigkeit nicht, dass man am Tag X die Leistungen auch abrufen könne. Zu viele Faktoren, etwa mentale, spielten da eine Rolle. Diese in eine Formel zu packen und daraus Prognosen aufzustellen, sei deshalb rein hypothetisch.

Das von Toussaint erwartete Ende der Weltrekorde dürfte also noch fern sein. Unbestritten ist jedoch: Die Schritte, in denen es aufwärts geht, werden immer kleiner. Weshalb sie jedoch beispielsweise im Schwimmen gerade ansteigen statt kleiner werden, ist allerdings auch den Wissenschaftlern ein Rätsel. Klar zu sein scheint, dass die Steigerung nicht nur auf die neuen Schwimmanzüge zurückzuführen ist, wie dies auch die Hersteller bestätigen.

Weltrekorde nur mit Doping?

Sind Weltrekorde also nur noch mit Doping machbar? So wurden beispielsweise zwölf aktuelle Weltrekorde der Frauen in der Leichtathletik in den 80er Jahren aufgestellt – in der Hochphase von Anabolika. In jener Zeit, als Dopingkontrollen nur an Wettkämpfen, nicht aber im Training durchgeführt wurden. Auch die heutigen Kugelstösser sind weit von den Weltrekorden der 80er Jahre entfernt. Dies spricht wiederum gegen Studien, die Leistungsgrenzen aufgrund von früheren Weltrekorden voraussagen, da sie sich auf zum Teil verfälschte Daten stützen. Laut Toussaint erreicht Doping zwar lediglich, dass die Leistungskurve schneller ansteigt – die physiologische Grenze werde mit Doping jedoch kaum verschoben, denn es sei schon immer gedopt worden, geändert hätten sich nur die Methoden. Allerdings: Ob gerade Gendoping die physiologischen Grenzen künftig nicht doch illegal übergehen könnte – diese Diskussion wird künftig sicherlich im Zentrum stehen, sollten eines Tages die Weltrekorde wieder auffällig schnell purzeln.

​Dieser Artikel erschien am 22. Dezember 2008 im swiss sport 6/08, Magazin von Swiss Olympic.

Text: Manuela Ryter

«Gute Leute finden wir auch im Süden»
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Welche Qualifikationen sind auf dem Stellenmarkt der Internationalen Zusammenarbeit gefragt? Welche Stellen gibt es in diesem Bereich überhaupt? Diese Fragen sind am Samstag am «forum cinfo» in Biel diskutiert worden.

Als fände ein grosses Konzert statt, strömten die Menschen am Samstag vom Bahnhof Biel Richtung Kongresshaus. DerAnsturm auf das «forumcinfo», die Messe zur Arbeit in der Internationalen Zusammenarbeit (IZA), war auch dieses Jahr gross. Für die IZA zu arbeiten, gilt für viele als Traumjob: Man tut etwas Sinnvolles und kann im Kleinen vielleicht sogar di eWelt verbessern, man setzt interessante Projekte um, lebt zeitweise im Ausland, setzt sich mit fremden Kulturen auseinander und lernt die globalen Zusammenhänge kennen. So jedenfalls sieht das gängige Bild des Traumjobs in der IZA aus. 

Vielfältiges Stellenangebot

Als die Messetore geöffnet werden, verteilen sich die Leute auf die vielen Stände auf drei Stockwerken; einige sichern sich sogleich einen Platz in den Räumen, wo Referate, Podiumsdiskussionen und Erfahrungsberichte gehalten und Videoprogramme gezeigt werden, die die Tendenzen im Berufsbild der IZA darstellen und den Newcomern Tipps für den Einstieg geben. Die knapp 1000 Besucher sind denn auch hier, um sich über die Arbeit in der IZA ein profunderes Bild zumachen, sich über potenzielle Arbeitgeber zu informieren und Kontakte zu knüpfen. Jung, dynamisch und engagiert sehen sie aus – und auffallend viele von ihnen sind Frauen.

Schnell wird den Gästen klar: Ob eineStelle in Genf, Washington oder Südamerika, ob als Programmverantwortlicher bei einer NGO, als Analyst bei der Weltbank oder als freiwilliger Arzt in Afrika – die Stellen sind so vielfältig wie die IZA selbst. Grundsätzlich werden unter diesem Begriff die Entwicklungszusammenarbeit (EZA), die Humanitäre Hilfe, die Entwicklungspolitik sowie die Friedensförderung und Menschenrechtspolitik zusammengefasst, deren Vertreter sich an den Ständen präsentieren.

Die verschiedenen Organisationen unterscheiden sich in ihren Aktivitäten stark voneinander, ihr Ziel aber ist dasselbe: die Lebensbedingungen in den Ländern des Südens und Ostens zu verbessern. Und gerade dieses Ziel scheint die Stellen in der IZA so begehrenswert zu machen.

«Macher» sind nicht mehr gefragt

Ausser bei Zivildienst- und Freiwilligeneinsätzen sind die Anforderungen an die potenziellen Mitarbeiter sehr hoch. Die Caritas beispielsweise erwartet von ihren Delegierten einen Hochschulabschluss, mehrjährige Berufs- und Auslanderfahrung, Vertrautheit mit dem Einsatzkontinent und Sprachkenntnisse. Ausserdem setzt sie «viel Lebenserfahrung», Freude am interkulturellen Austausch und das «erfolgreiche Überwinden von Schwierigkeiten» voraus. Handwerker, Lehrer oder Förster, die nach Afrika reisen, um dort Bäume zu pflanzen, Brunnen zu bauen oder zu unterrichten, sind heute nicht mehr gefragt.

Viele Bewerber für wenig Stellen

«Gute Leute finden wir auch in den Ländern des Südens», sagt Daniel Ott, der lange in Bolivien im Einsatz war und heute als Programmverantwortlicher für Swissaid arbeitet. Dieser Trend, die Menschen in den betroffenen Ländern stärker einzubinden, hat zur Folge, dass es im Westen immer weniger Stellen in der IZA gibt. Der Arbeitsmarkt werde austrocknen, sagt Ott.

Heute seien deshalb hohe fachliche und soziale Kompetenzen sowie interkulturelle Sensibilität und hohe kommunikative Fähigkeiten gefragt: «Es braucht Leute, die systematisch Denken und ihr Wissen weitergeben können.» Es brauche nicht mehr in erster Linie Spezialisten, sondern Generalisten für Programmführung, Konzeptarbeit, Wirkungsanalyse, Politdialoge und Öffentlichkeitsarbeit. Dies gilt auch für Jobs mit Arbeitsplatz in der Schweiz, denn diese werden in den meisten Fällen an Leute, die von einem Auslandseinsatz zurückkehren, vergeben.

«Wir raten den Interessenten, sich zu überlegen, wie sie ihre Qualifikationen in unsere Projekte einbringen könnten», sagt Walter Leissing von der Helvetas. «Sie sollen uns Ideen bringen. Das gibt uns Inputs und zeigt, dass sie engagiert, interessiert und initiativ sind.» Er habe während des Forums sehr viele Anfragen erhalten. «Wir brauchen Leute mit Berufserfahrung – die haben aber die wenigsten.»

Auch Daniel Ott empfiehlt den Einsteigern, flexibel zu sein und sich zu öffnen, statt verbissen ein Praktikum nach dem anderen in der IZA zumachen. «Sie sollen zuerst etwas anderes machen und sich qualifizieren.» Die Fachrichtung spiele dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die Alternative zum Berufsweg ist eine Weiterbildung wie etwa das zweijährige Nachdiplomstudium für Entwicklungsländer (Nadel) an der ETH Zürich.

Jörg Frieden, Vizedirektor der Deza, ordnete den Job in der IZA in seinem Referat in den globalen Kontext ein. Gerade die Veränderung der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) verändere auch das Berufsprofil, sagte Frieden: Neue, gemeinsame Visionen der Geberländer wie die Pariser Erklärung, der wachsende Einfluss neuer Geber wie China oder private Stiftungen gäben der EZA eine neue Stossrichtung. Heute könnten die industriellen Länder nicht mehr diktieren, in welche Richtung es gehe – es seien viel mehr Menschen eingebunden und die Ziele seien komplexer geworden. «Wir brauchen heute globale Lösungen.»

Gerade der Wissensaustausch werde in der IZA deshalb immer bedeutender, sagt auch Frieden: «In Zukunft wird das technische Profil immer wichtiger: Wir brauchen in der Deza keine Generalisten mehr, sondern immer mehr Spezialisten.» Gefragt sind heute etwa Klimaspezialisten. 

Grosse internationale Konkurrenz

Umden Traumjob in der IZA zu finden, braucht es enorm viele Qualifikationen und ein Quäntchen Glück. Denn die Konkurrenz ist international, und gute Leute gibt es viele. Doreen Cross von der Uno-Organisation UNFPA erhielt im vergangenen Jahr für 90 Stellen 15 000 Bewerbungen. «Es ist sehr schwierig einzusteigen»,sagt sie. Trotzdem  werben die Internationalen Organisationen in der Schweiz um mögliche Kandidaten: «Wir wollen, dass sich die Diversität unseres Arbeitsfeldes in unseren Mitarbeitern widerspiegelt», sagt Daniel Tytiun, Direktor der African Develop Bank.

Ausserdem ist die Schweiz als Land mit französischsprachigen Kandidaten, die insbesondere in afrikanischen Ländern gefragt sind, für Internationale Organisationen interessant.

[@] INFORMATION und Beratung zur Arbeit in der IZA unter www.cinfo.ch.

Porträt 1: ​

«Man macht etwas Sinnvolles»

Der Soziologe Daniel Ott Fröhlicher (43) war für sieben Jahre in Bolivien tätig.

Sieben Jahre lang arbeitete Daniel Ott in Bolivien. Zuerst beriet er im Auftrag von Interteam Biobauern und eine indigene Organisation in strategischer Planung, Organisationsentwicklung und politischem Lobbying. Anschliessend koordinierte er das Programm des Deutschen Entwicklungsdienstes in Bolivien mit. «Ich begann mich schon während meines Soziologiestudiums fürs Thema zu interessieren», sagt Ott. Während eines Studienjahrs in Mexiko kam er mit der Entwicklungszusammenarbeit in Kontakt. «Ich konnte mir gut vorstellen, in Lateinamerika zu leben.» Nach dem Uni-Abschluss habe er sich schliesslich für den Berufsweg und gegen ein Nachdiplomstudium entschieden und einen Job im Erziehungsdepartement des Kantons Basel angenommen. «Ich habe mir dabei viele Kompetenzen angeeignet und auch kommunikative Fähigkeiten erworben»,sagtOtt. Nach fünf Jahren schliesslich suchten Ott und seine Partnerin den Einstieg in die IZA und knüpften am «forum cinfo» Kontakte. Bald darauf traten sie dieReise nachBolivien an.

«InBolivien kamen zweiKinder»

«Die Arbeit in Bolivien war sehr spannend», sagt Ott rückblickend. Während andere aus familiären Gründen frühzeitig in die Schweiz zurückreisten oder Beziehungen im Ausland zerbrachen, war Bolivien für Ott auch in familiärer Hinsicht eine Chance: «In Bolivien kamen zwei Kinder – in der Schweiz hätten wir wohl keine Kinder gewollt», sagt Ott. In einer anderen Kultur beginne man plötzlich, seinen Lebensstil zu hinterfragen. Als der Vertrag mit Interteam auslief, suchte sich Ott ein neues Projekt.

«Wir kamen gerne zurück»

Letzten November sind Ott und seine Frau in die Schweiz zurückgekehrt, in erster Linie aus «rationellenÜberlegungen» hinsichtlich seiner und ihrer Karriere. «Wir kamen gerne heim», sagt Ott. Man schätze seine Wurzeln nie so sehr,wie wenn man längere Zeit im Ausland gelebt habe. Als «Glücksfall» bezeichnet er, dass er noch in Bolivien einen Job in der Schweiz fand. Als Programmverantwortlicher von Swissaid ist er heute von der Schweiz aus für das Koordinationsbüro in Nicaragua zuständig, wo acht lokale Angestellte die Swissaid-Projekte in Nicaragua koordinieren. Ott ist beispielsweise für die qualitative Prüfung der Projekte zuständig und direkter Ansprechpartner für die Mitarbeiter in Nicaragua. Ausserdem kümmert er sich um die Öffentlichkeitsarbeit und das Lobbying sowie die Akquisition neuer Geldgeber in der Schweiz. Ins Ausland reist er noch rund zweimal im Jahr.

Job als Herausforderung

«Die Arbeit an der Basis fehlt mir manchmal», sagt Ott. Hier in der Schweiz müsse er stets mit «bürokratischer Distanz» arbeiten. Auch die Spontaneität der Lateinamerikaner, die Unverplantheit, Flexibilität und Frustrationstoleranz vermisse er. «Hier in der Schweiz läuft alles reibungslos.» Er freue sich jedoch, wieder in der IZA eine Stelle gefunden zu haben. «Ich hätte mir aber auch eine Arbeit im sozialen Bereich vorstellen können.» Seine Motivation sei die Solidarität und die Verantwortung, die man übernehmenkönne: «Manmacht etwas Sinnvolles.»

Die Arbeit sei eineHerausforderung, in fachlicher und in persönlicher Hinsicht. Es seien viele Qualifikationen gefragt: So etwa die interkulturelle Sensibilisierung, Kompetenzen in der Kommunikation, im Qualitäts- und Wissensmanagement und im Sozialen. «Ich habe gelernt, ein Generalist zu sein.» (mry)

Porträt 2: ​

«Geld spielt keine Rolle»

Eli Weiss (29) beginnt ein Nachwuchsprogrammbei der Weltbank inWashington

Er ist jung, er weiss, was er will, und er hat die erste grosse Hürde seinerKarriere bereits geschafft: Der Berner Eli Weiss hat das erreicht, wovon viele junge Hochschulabsolventen träumen. In einem Monat tritt er seine neue Stelle bei der Weltbank in Washington an. Als «Junior Professional Officer» wird er während mindestens zweier Jahre für Projekte in Mexiko und Kolumbien zuständig sein. Finanziert wird das zweijährige Programm, das jungen Leuten ermöglicht, bei einer grossen Organisation der Internationalen Zusammenarbeit (IZA) Erfahrungen zu sammeln, vom Seco. Von diesem wurde Weiss auch ausgewählt – dieChancen, auf einem anderen Weg in eine so grosse internationale Organisation zu gelangen, wären für junge Leute sonst äusserst gering.

«Arbeitwird akademischer»

«Bei derWeltbank werde ich für die Projekte in Mexiko und Kolumbien arbeiten», sagt Weiss. Er werde für diese beiden Länder neue Strategiepläne erstellen und makroökonomische Studien machen. Das sei nun, nach einigen Jahren «im Feld», ein neuer Schritt: weg von der Basis, hin zur Büroarbeit, zuden Statistiken und zum theoretischen Arbeiten. «Meine Arbeit wird akademischer und ich werde weniger Einfluss haben und nicht selber vor Ort anpacken können. Das wird eine grosse Veränderung sein, aber sie bringt mich weiter.»

Als «Zivi» nach Peru

Seine Laufbahn in der IZA begann Weiss bereits während seines Wirtschaftsstudiums in Lausanne und Mexiko. Ein Professor bot ihm an, in einem Projekt der Deza und Intercooperation in Nicaragua im Bereich Mikrofinanzen mitzuwirken und seine Masterarbeit darüber zu verfassen. «Als ich zurück in die Schweiz kam, lag ein WK-Aufgebot auf meinemTisch», sagt Weiss vor den zahlreichen Zuhörern am Forum. Er habe daraufhin zum Zivildienst gewechselt und über Beziehungen einenneuen Einsatz in der IZA gesucht.

Bis er fündig wurde, arbeitete er als Trainee beim Bundesamt für Statistik. In acht Monaten Zivildienst und einem weiteren Jahr in Peru half er, ein am Schluss selbsttragendes Projekt aufzubauen, das Bauern und Kleinunternehmer beim Export unterstützt. Die Arbeit in der IZA sei spannend und faszinierend, sagt Weiss. Er interessiere sich sehr für die wirtschaftliche Entwicklung und arbeite gern mit unterschiedlichen Leuten zusammen, vom Kleinbauern über den Politiker bis hin zum Grossunternehmer. «Und man weiss, weshalb man arbeitet. Es macht alles einen Sinn.» Diese Genugtuung werde beim theoretischen Arbeiten vielleicht weniger spürbar sein.

«Manmuss flexibel sein»

Und die Zukunft? «Langfristig sehe ich mich eher hier in der Schweiz», sagt Weiss. Und fügt sogleich an: «Aber in diesem Business muss man flexibel sein.» So sei  beispielsweise kürzlich sein zukünftiger Arbeitsort von Bogota nach Washington verlegt worden. Wer in der IZA arbeiten wolle, müsse joborientiert, nicht landorientiert sein. «Man muss sich nach der Uni fragen: In welche Richtung will ich? Und dann soll man jeden Job in dieser Richtung nehmen – Geld spielt keine Rolle», rät er Newcomern. Auch sei es wichtig, Beziehungen und Freunde bei der Stellensuche in Anspruch zu nehmen und nicht immer nur die «BigPlayers» im Auge zu haben, sondern auch kleine Projekte, die auf Mandatsbasis der Grossen funktionierten. (mry)

Die innere Uhr gibt den Takt an
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Jeder Mensch hat seine innere Uhr. Stimmt diese wie bei der Nachtarbeit nicht mit der «äusseren» Uhr überein, wird er krank. Noch hat die Wissenschaft keine Lösung gefunden: In Sachen Schichtarbeit steckt die Forschung in den Kinderschuhen, wie eine Tagung zeigt.

Es ist mitten in der Nacht, doch die Lichter in der Fabrik brennen. Die riesigen Maschinen laufen Tag und Nacht, sie abzustellen wäre ökonomisch nicht vertretbar. Die Fabrikangestellten müssen auch in der Nacht an die Arbeit. Auch der Herzkranke im Spital muss während 24 Stunden betreut werden. Flugzeuge landen um Mitternacht, Züge werden nachts gewartet, Zeitungen nachts gedruckt. Über 500000 Menschen in der Schweiz arbeiten, während die anderen in ihren Betten liegen: Sie arbeiten in Schichten und lösen sich ab, damit der Betrieb während 24 Stunden läuft.

Neben sozialen hat dieser unregelmässige Rhythmus auch ökonomische und gesundheitliche Folgen: In der Nacht passieren viel mehr Arbeitsunfälle und Fehler. Viele Betroffene leiden unter Schlafstörungen und Verdauungsproblemen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie erkranken – etwa an Krebs oder Depressionen – ist um ein Vielfaches grösser als bei Angestellten mit normalen Arbeitszeiten. Der Grund dafür ist das Tageslicht, das ihnen in der Nacht fehlt und sie tagsüber nicht schlafen lässt. Doch weshalb ist Licht für die Gesundheit so wichtig? Welche Rolle spielt es am Arbeitsplatz? Die Tagung «Licht und Nachtarbeit» in Winterthur, organisiert durch das Nationale Forum Nachtarbeit, ging diesen Fragen nach.

Innere Uhr gibt Tagesablauf vor

«Alles hat seine zeitliche Ordnung», sagte Professorin Anna Wirz-Justice, die seit Jahren am Zentrum für Chronobiologie in Basel über die biologischen Rhythmen forscht: «Jedes einzelne Lebewesen hat seine innere Uhr.» Auch der Schlaf-Wach-Zyklus ist synchronisiert: Es ist die innere Uhr, die den Menschen dirigiert und bestimmt, wann Zeit zum Schlafen, Aufwachen, Essen, Verdauen oder Entleeren ist. Mit der Ausschüttung des Hormons Melatonin sorgt sie dafür, dass man abends müde wird, ins Bett geht und einschläft. Und am Morgen gibt sie dem Körper mit Cortisol das Signal, aufzuwachen und wach zu bleiben. Und dies exakt im 24-Stunden-Rhythmus.

Die Sonne richtet die innere Uhr

So perfekt die innere Uhr ist, so tückisch ist sie für die moderne Gesellschaft. Denn sie richtet sich nicht nach Arbeitszeiten oder sozialem Umfeld, sondern in erster Linie nach der Sonne: Melatonin wird mit dem Verschwinden des Tageslichts ausgeschüttet, Cortisol mit dem Hellerwerden. Das führt dazu, dass in den meisten Schlafzimmern der Wecker lange vor der inneren Uhr schrillt. Bei Menschen, die in der Nacht arbeiten, ist die Differenz riesig, was für sie verheerende Folgen hat: Wegen der verkehrten Arbeitszeiten sind sie einem dauernden Jetlag ausgesetzt – ähnlich wie nach einem Flug von Zürich nach New York: «Sie arbeiten, wenn das Hormon Melatonin den Körper auf Schlaf trimmt. Und sie gehen ins Bett, wenn der hohe Cortisolspiegel dafür sorgt, dass sie wach bleiben», sagt Wirz-Justice. Doch während sich der Körper nach einem langen Flug schon nach wenigen Tagen der neuen Aussenzeit anpasse, bleibe die Uhr des Nachtarbeiters verstellt, da kein Licht vorhanden sei, nach dem sich der Körper richten könne: «Der Zeitpunkt der Lichtexposition ist massgebend.»

Die Bedeutung des Lichts als Zeitgeber des Menschen erkläre, weshalb in der Nacht besonders viele Arbeitsunfälle und Fehler passierten. Und auch, weshalb viele Schichtarbeiter nach der Arbeit trotz hohem Schlafdruck unruhig und lediglich vier bis fünf Stunden schlafen könnten. Die Folge davon ist ein chronischer Schlafmangel, da der Körper sich weder nachts noch tagsüber regenerieren kann.

Licht gegen die Müdigkeit

Zwar kann die Sonne am Arbeitsplatz nachgeahmt werden: Intensives Licht in den Arbeitsräumen und spezielle Lichtbehandlungen während der Arbeitspausen werden bereits heute gegen die Müdigkeit der Nachtarbeiter eingesetzt, wie an der Tagung mehrere Fachleute ausführten. Auch Verdunkelungsbrillen für den «Feierabend am Morgen» gibt es, damit der Körper am Morgen auf Schlaf umstellt. Die moderne Lichtgestaltung richtet sich auch mehr und mehr nach den Erkenntnissen der Chronobiologie: Dank Lampen, die das Licht je nach Tageszeit verändern, richtet sich die innere Uhr nach dem künstlichen Licht, das die Nacht für den Körper zum Tag macht, und verschiebt sich nach und nach. Damit könnten Fehler und Unfälle reduziert werden, sagt Wirz-Justice. Das sei gut fürs Unternehmen. Für den Arbeitnehmer allerdings sei auch diese Lösung nicht befriedigend, denn «schon beim nächsten Schichtwechsel kommt er in den nächsten Jetlag».

Schichtarbeit für Nachtmenschen

Die Chronobiologie sieht die Lösung denn auch eher in individuelleren Arbeitszeitmodellen. Denn wie die Forschung der vergangenen Jahre gezeigt hat, ist es angeboren, ob ein Mensch Nachtarbeit erträgt oder nicht: Es gibt frühe und späte «Chronotypen». Auf der einen Seite die Lerchen, die Frühaufsteher, und auf der anderen die Eulen, die Nachtmenschen, die spät einschlafen und spät aufwachen, falls kein Wecker klingelt. Zwar ist die innere Uhr auch durch Alter und Geschlecht bedingt – Kinder sind eher frühe Typen, Teenager sind Eulen, alte Menschen Lerchen und Männer sind eher Eulen als Frauen. Auch ob jemand ein Langschläfer ist oder nicht, ist angeboren und kann wie die innere Uhr kaum von aussen beeinflusst werden. «Chronotyp und Schichtarbeit müssen deshalb dringend synchronisiert werden», fordert Wirz-Justice. Frühe Chronotypen könnten unmöglich Nachtschicht machen. Und späte sollten nicht für die Frühschicht eingeteilt werden, da sie sonst nicht zu genügend Schlaf kommen.

Doch wie findet ein Arbeitgeber heraus, welche Schicht zu welchem Mitarbeiter passt? Die Wissenschaft arbeite an Modellen, doch noch habe man zu wenige Ergebnisse, sagte Till Roenneberg, Professor der Chronobiologie aus München, an der Tagung. Bisherige Studien seien unbrauchbar, da sie die innere Uhr als Faktor nicht beachteten. «Es braucht deshalb noch viel Feldarbeit.» Klar sei jedoch: Die Spannweite der angeborenen Tagesrhythmen sei riesig, die Individualität gross. Grundsätzlich gebe es jedoch mehr Nachtmenschen als Frühaufsteher. Doch nicht nur die Gene, auch das Licht bestimmt, wann wir aufstehen: Im Osten der gleichen Zeitzone, wo die Sonne früher aufgeht, stehen Menschen früher auf als im Westen. Und in der Stadt stehen sie später auf als auf dem Land, wo sich die Menschen häufiger draussen aufhalten und der Sonnenaufgang eher sichtbar ist.

Nachtarbeit schadet Gesundheit

Auch wenn die Wissenschaft erst wenig über die Folgen von Nacht- und Schichtarbeit auf den Menschen aussagen kann – eines wisse man ohne jeden Zweifel, sagt Roenneberg: «Schichtarbeit ist gesundheitsschädigend.» Je stärker die verschiedenen Rhythmen auseinanderklafften, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden. Roenneberg legte den anwesenden Arbeitgebern deshalb nahe, sich für mehr Grundlagenforschung und bessere Arbeitsbedingungen zu engagieren. Denn sonst könne es teuer werden: «Rauchen ist freiwillig – trotzdem gingen viele Raucher mit Erfolg gegen Tabakfirmen vor Gericht. Was passiert, wenn plötzlich eine Welle von Schichtarbeitern vor Gericht geht?» Denn: Schichtarbeiter seien nicht selber schuld, wenn sie erkranken.

Interview: ​

«Ich plädiere für spätere Arbeitszeiten»

Nicht nur Schichtarbeiter sind vom «sozialen Jetlag» betroffen – auch viele Nachteulen können in unserer Gesellschaft nicht nach ihrer inneren Uhr leben. Anna Wirz-Justice fordert deshalb spätere Schul- und individuell flexible Arbeitszeiten.

«Bund»: Unregelmässige Arbeitszeiten betreffen nicht nur Schichtarbeiter: Manager jetten um die Welt, Studenten lernen in der Nacht, in vielen Firmen sind Überstunden an der Tagesordnung. Müssen wir mit weniger Schlaf auskommen?

Anna Wirz-Justice: Ja. Arbeit, Freizeit, Sport, Familie – es wird immer mehr, was in 24 Stunden Platz haben muss, gespart wird nur beim Schlafen. Wir leben in einer 24-Stunden-Dienstleistungsgesellschaft, dies lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Schichtarbeit und Überstunden sind der Preis, den wir dafür bezahlen. Es trifft aber nicht alle gleich: Frühaufstehern geht es in unserer Gesellschaft besser als Eulen, die spät ins Bett gehen und trotzdem früh raus müssen. Letztere leben wie Schichtarbeiter in einem ständigen Jetlag. Die Folge ist ein konstanter Schlafmangel – um diesen Schlaf nachzuholen, braucht es rund drei Wochen Ferien.

Reden Sie aus Erfahrung?

Ja, ich bin eine extreme Eule. Ich habe lange Zeit gelitten, als ich jeden Morgen früh im Büro stehen musste. Heute bin ich freie Mitarbeiterin und kann wählen, wann ich aufstehen will. Normalerweise zwischen neun und zehn Uhr, ins Bett gehe ich zwischen ein und zwei Uhr, so bin ich ausgeschlafen.

Weshalb ist die innere Uhr so wichtig?

Weil unsere gesamte Physiologie und unser Verhalten darauf abgestimmt ist. Sie ist eine fantastische Zeitorganisation und sagt voraus, was wir als nächstes tun. Sie ist auch eine Art Energieeffizienz: Sie sorgt dafür, dass wir zur richtigen Zeit die richtige Funktion ausüben.

Es gibt unter uns mehr Eulen als Lerchen – die Schweizer gelten jedoch als Frühaufsteher.

Ja, wir leben in einer Lerchengesellschaft, obwohl viel mehr Menschen Eulen sind, als man denkt. Es gilt auch nach wie vor als faul, wer morgens länger schläft und später ins Büro kommt. Dabei sieht niemand, was diese Leute abends leisten. Für Lerchen dagegen ist Nachtarbeit schwierig.

Gibt es keine Möglichkeit, sich an die Arbeitszeiten anzupassen?

Man kann sich anpassen, aber am Wochenende müssen die Schlafdefizite kompensiert werden. Dies kann also nur eine Übergangslösung sein, denn die innere Uhr passt sich nicht an: Sie ist angeboren und wird zusätzlich von Geschlecht und Alter beeinflusst, sie lässt sich also nicht einfach so verstellen. Einzig durch Licht lässt sich die innere Uhr verschieben.

Müssten also die Arbeitszeiten an die Menschen angepasst werden?

Ja. Es braucht dringend individuellere Arbeitszeiten, die es ermöglichen, den Tagesablauf des Einzelnen besser mit seiner inneren Uhr abzustimmen. Gerade für Jugendliche, die typischen Eulen in unserer Gesellschaft, müssten Arbeits- und Schulzeiten angepasst werden. Wahrscheinlich könnten viele Jugendprobleme gelöst werden, wenn die jugendlichen jede Nacht eine Stunde länger schlafen könnten. Beispielsweise beim Rauchen wurde ein Zusammenhang festgestellt: Je höher der soziale Jetlag, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand raucht. Schlafmangel ist also ein Risikofaktor und diesem sind fast alle Jugendlichen ausgesetzt. Dass sie früher ins Bett gehen, kann man hingegen nicht von ihnen erwarten: Ihre innere Uhr lässt sie nicht einschlafen. Wenn sie am Wochenende bis nachmittags im Bett liegen, hat dies also nichts mit Faulheit zu tun. Sie müssen den verpassten Schlaf nachholen.

Welche Folgen kann Schlafmangel noch haben?

Konzentration, Motivation und Leistungsfähigkeit könnten mit mehr Schlaf gefördert werden. Denn wer nach dem eigenen Rhythmus schläft, hat einen besseren Schlaf. Dies ist auch für den Lernprozess wichtig, denn Schlaf dient der Gedächtnisverarbeitung: Wer zu wenig oder schlecht schläft, kann weniger aufnehmen. Ein Grund mehr für die Einführung späterer Schul- und Arbeitszeiten.

Sie sind also generell für spätere Arbeitszeiten?

Eine Spätschicht für alle wäre sicher besser als eine Frühschicht – jedenfalls aus gesundheitlicher Sicht. Sozial wäre sie jedoch nicht verträglich. Das ist unser Problem: Was gut ist für die Gesundheit, ist nicht unbedingt gut fürs soziale Umfeld. Ich plädiere trotzdem für spätere Arbeitszeiten – wir sind keine Bauern mehr, es gibt keinen Grund, den Tag so früh zu beginnen.

Wird dem Schlaf in unserer Gesellschaft zu wenig Bedeutung beigemessen?

Ja, Schlaf ist ein Problem in unserer Gesellschaft. Die Bedeutung des Schlafs – und damit der inneren Uhr – kann jedoch gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Es würde der Gesellschaft viel mehr bringen, wenn jeder nach seinem eigenen Rhythmus leben würde, als wenn jeder zur gleichen Zeit am Arbeitsplatz ist. Denn chronischer Schlafmangel hat auch wirtschaftliche Folgen: Es passieren mehr Fehler und Unfälle und die Gesundheitskosten steigen. Individuelle Schichten würden auch verhindern, dass Leute wegen Geld oder eines guten Jobs gegen ihre Uhr arbeiten. Noch kann die Wissenschaft keine Lösungen bieten. Je mehr wir wissen, wie wichtig Schlaf und die innere Uhr sind, müssen wir aber bereit sein, Lösungen zu finden.

ZUR PERSON

Anna Wirz-Justice forscht am Zentrum für Chronobiologie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel über die biologischen Rhythmen. Sie beschäftigt sich mit Licht und Schichtarbeit und der Schlaf-Wach-Regulation des Menschen.

​Text und Interview: Manuela Ryter

Diese zwei Texte erschienen am 18. Juni 2008 im "Bund".​

Milizgemeindepolitiker sind am Anschlag
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Viele kleinere Gemeinden stossen mit dem Milizsystem in der Politik an Grenzen - dies sei eine Frage der Organisation, sagt der Experte

Zu grosse Arbeitsbelastung, zu kleine Entschädigung, kaum Ansehen in der Bevölkerung - viele Gemeinden sind mit dem Milizsystem am Anschlag. Braucht es Professionalisierung? Oder wird zu viel gejammert? Ein Blick in die Region.

«Viele Gemeinden stossen mit ihren Milizpolitikern allmählich an Grenzen», sagt Vechigens Gemeindepräsidentin Eva Desarzens (fdp). Mit dem Milizsystem erklärt sie denn auch den momentanen Missstand in der Vechiger Verwaltung und im Gemeinderat, den Walter Schilt (svp), der am 10. Dezember gegen sie zur Wahl ums Gemeindepräsidium antritt, im Vorfeld der Wahlen wiederholt beklagt hat. Tatsächlich steht in Vechigen nicht alles zum Besten: Die Gemeindeschreiberin hat wegen Überbelastung gekündigt und auch ihre Stellvertreterin sucht sich nach verlängerter Probezeit eine andere Stelle. Auch Gemeinderätin Irène Amacher (svp) tritt auf Ende Jahr zurück - ebenfalls wegen des Arbeitspensums. Bereits in vergangenen Jahren sind in Vechigen mehrere Gemeinderäte wegen Arbeitsüberlastung zurück- getreten. Als Milizpolitiker stosse man in aussergewöhnlichen Situationen schnell an Grenzen, sagt Desarzens - so sei die Erkrankung des im Juli verstorbenen Gemeindepräsidenten sehr belastend gewesen. Dies habe sich auf die Verwaltung ausgewirkt.

Politik als Ehrenamt

Vechigen steht mit Personalverschleiss und Überbelastung der Exekutivmitglieder nicht alleine da, wie der Blick in die Region Bern zeigt - für viele Gemeinden ist das traditionelle Milizsystem ein Problem, immer mehr Gemeinderäte treten vorzeitig ab, der Druck zur Fusion wird grösser: Stettlen etwa befindet in einer Woche über die Lohnerhöhung des Gemeindepräsidenten, nachdem eine Erhebung die «starke zeitliche Belastung für viele berufstätige Milizgemeinderatsmitglieder» aufgezeigt hat. In Frauenkappelen stellte sich Gemeindepräsident Cristoforo Motta (fw) vor zwei Jahren nicht aus Ehrgeiz zur Wahl, sondern weil niemand sonst bereit war, das Amt zu übernehmen. Und auch Konolfingen ist laut Gemeindepräsident Peter Moser (svp) «klar am Limit»: Die Belastung für Milizpolitiker sei enorm, die Verwaltung «am Anschlag». Er selbst sei rund drei Tage pro Woche für die Gemeinde im Einsatz: «Das kann sich nur leisten, wer in einer so privilegierten Lage ist wie ich», sagt der Unternehmer. Er hat das Geschäft seinem Sohn übergeben, um sich «voll auf die Politik» zu konzentrieren - für eine Entschädigung von 32 000 Franken. Eine bessere Entlöhnung bringe nichts, sagt er: «Wir machen Politik, weil wir etwas bewegen wollen, nicht wegen des Geldes.» Man müsse vielmehr der Verwaltung mehr Kompetenzen geben. Dies sei politisch jedoch kaum durchsetzbar: «Die Bürger wollen, dass die Politiker Politik machen, nicht die Verwaltung.»

Anforderungen steigen

Vor ähnlichen Problemen steht auch die doppelt so grosse Gemeinde Münchenbuchsee: «Die Gemeinderäte sind am Anschlag», sagt Vizegemeindepräsidentin Elsbeth Maring-Walther (sp) - doch jeder Versuch, der Verwaltung mehr Kompetenzen zu geben, werde von der Bevölkerung bachab geschickt, zuletzt das New-Public-Management-Projekt. Die Diskussion müsse jedoch wieder geführt werden, denn die Anforderungen seien gestiegen, weshalb «gewisse Geschäfte nicht kompetent genug angepackt werden können, wenn der zuständige Gemeinderat Vollzeit arbeitet». Ihrer Meinung nach sollten Gemeinderäte deshalb entlöhnt werden: «Sonst machen künftig nur noch Leute Politik, die Zeit haben, und nicht jene, die das nötige Know-how mitbringen.» Schon jetzt sei es für die Parteien vor den Wahlen schwierig, die Listen zu füllen.

«Eine Frage der Organisation»

Er könne diese Klagen nicht bestätigen, sagt indes Bernhard Lauterburg (fdp), Gemeindepräsident in Bremgarten: Zwar habe man sich «wegen der Arbeitsbelastung» gegen die Verkleinerung des Gemeinderates ausgesprochen. Bisher hätten sich jedoch immer kompetente Leute gefunden, «die diese Belastung auf sich nehmen wollen». Seiner Meinung nach sei ein vollamtliches Präsidium für Gemeinden unter 15 000 Einwohnern unnötig. Auch in Belp, Münsingen und Worb heisst es, das System funktioniere gut und die Gemeinden seien gross genug, um engagierte Leute zu finden - allerdings wurden hier bereits Massnahmen ergriffen. Auch laut Margret Kiener Nellen (sp), halbamtliche Gemeindepräsidentin in Bolligen, «ist die Arbeitslast für Gemeinderatsmitglieder im Milizsystem zumutbar, wenn die Verwaltung richtig besetzt ist». Dies bestätigt Politologe Andreas Ladner: Das Milizsystem sei ein anhaltendes Problem, es sei jedoch «eine Frage der Organisation»: Ein guter Gemeindeschreiber sei das A und O. Das Phänomen habe jedoch viele Ursachen. Dabei sei das Milizsystem sehr volksnah, auch es gehe nicht nur um Macht: «Es ist das Sozialkapital einer Gesellschaft.»

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 25. November 2006 im "Bund".​

Kinder, Küche und Karriere
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Drei Mütter wirken in der Leitung der Agentur Freiburghaus und Partner mit - ein Einzelfall in der Werbebranche

Das Kind auf dem Arm und die Präsentation im Kopf: Drei Frauen der Berner Werbeagentur Freiburghaus und Partner zeigen, dass mit Teamwork und viel Einsatz auch in der Werbebranche Kaderjob und Familie vereinbar sind.

Nächtelanges Tüfteln an der neuen Idee, unzählige Überstunden wegen der kommenden Präsentation, stete Verfügbarkeit für die Kunden: Wer in der Werbung arbeitet, tut dies voll und ganz - oder gar nicht. Der niedrige Anteil an Teilzeitarbeitenden in der Branche zeigt, dass am Klischee des Werbers als «Workaholic» etwas dran ist: Teilzeit ist in vielen Agenturen tabu, Frauen müssen sich deshalb oft zwischen Karriere und Familie entscheiden - gerade in der Werbebranche, in der Flexibilität gross geschrieben wird. Frauen mit Kindern sucht man in Kaderpositionen fast vergebens.

Dass es auch anders geht, zeigt die Berner Werbeagentur Freiburghaus und Partner. Inhaber und Creative Director Simon Freiburghaus arbeitet in der Geschäftsleitung mit drei Frauen zusammen, die neben Sitzungen auch Zeit für Hausaufgaben und Mukiturnen finden: Pascale Berclaz, Mutter von zwei Kindern, und Barbara Brügger, die gerade Mutterschaftsurlaub bezieht, beraten die Kunden und leiten die Produktion. Romy Freiburghaus ist für die Finanzen und das Personal zuständig - daneben betreut sie drei Kinder und arbeitet als Dozentin.

Das unkonventionelle Arbeitsmodell hat Erfolg: Die 1996 als Werbeduo Freiburghaus und Banderini gegründete Agentur hat heute 14 Angestellte und zählt zahlreiche grosse Firmen zu ihren Kunden, so zum Beispiel IP-Suisse, Novartis Consumer Health, Swiss Olympic Association, den Verband Schweizer Metzgermeister und das Stade de Suisse.

Teilzeit in Kaderjob unmöglich . . .

Dass das Arbeitsmodell der Berner Werbeagentur in der Werbebranche nicht üblich ist, bekamen die Frauen zu spüren: Als Romy Freiburghaus vor 14 Jahren ihr erstes Kind erwartete - sie arbeitete damals als Werbeleiterin -, hiess es: Vollzeit oder gar nicht. «Daraufhin habe ich gekündigt», erzählt die 41-Jährige. Hinter ihr prangt riesig ein Plakat, das eine unaufgeräumte Küche zeigt und mit dem Slogan «Schuhe zum Davonlaufen» für das Schuhhaus Botty wirbt. Auch heute sei Vollzeit in vielen Agenturen ein ungeschriebenes Gesetz, sagt Freiburghaus: «Das ist schade, denn so geht der Branche viel Know-how verloren.» Auch Pascale Berclaz bekam 1999, als sie trotz Kind den Kaderjob bei Freiburghaus und Partner annahm, von Berufskollegen zu hören, Teilzeit sei in dieser Position unmöglich. «Wir haben das Gegenteil bewiesen», sagt die zierliche, elegante Frau nicht ohne Stolz.

. . . oder Frage der Organisation?

Organisation und Teamwork, aber auch flachere Hierarchien seien das A und O. «Wenn wir nicht da sind, werden die Kunden von unseren Planern betreut», sagt Barbara Brügger - man müsse Verantwortung teilen und abgeben können und dem Team vertrauen. Pascale Berclaz bezeichnet das Arbeitsmodell als «Win-win-Situation», denn auch die Firma profitiere davon: «Sie bezahlt ein halbes Hirn und erhält ein ganzes.» In einer Führungsposition könne sie an Feierabend nicht den Stift ablegen und mit freiem Kopf nach Hause gehen: «Ich bin zwar physisch nicht immer anwesend, geistig aber hundertprozentig», sagt die 34-Jährige. Sie sei übers Handy jederzeit für ihre Kunden erreichbar, checke alle drei bis vier Stunden ihre E-Mails und denke sich mit dem Kind auf dem Arm und dem Kochlöffel in der Hand auch mal eine Idee für die neue Präsentation aus. Einzig wenn eine wichtige Präsentation anstehe - das sei etwa fünf- bis sechsmal im Jahr -, werde auch sie zum «Workaholic», «aber da wird die ganze Familie vorgewarnt», fügt sie lachend hinzu. Ihr Sohn schicke ihr jeweils ein SMS mit dem Text «Viel Glück Mami».

Das schlechte Gewissen

Die Doppelbelastung könne einen jedoch auffressen, sagt Pacale Berclaz. Das sei wohl auch der Grund, weshalb sich viele Mütter gar nicht auf eine leitende Funktion einliessen - «Agenturarbeit ist auch ohne Familie ein sehr stressiger Job.» Die grösste Herausforderung sei jedoch das «latent schlechte Gewissen». Gegenüber den Kindern, aber auch gegenüber dem Team. Berclaz erzählt, wie ihre kleine Tochter an diesem Morgen einen Schreikrampf hatte und partout nicht wollte, dass ihr Mami arbeiten geht. Oder von jenen Tagen, wo auf der Arbeit Stress ansteht und ausgerechnet dann ein Kind krank wird. In Krisensituationen komme das Kind an erster Stelle, sagen die drei Frauen einstimmig. Und auch wenn einmal nicht alles klappe, «Unverständnis von Seiten der Kunden gab es noch nie, im Gegenteil - sie zeigen jeweils Anteilnahme», sagt Berclaz.

Im gesellschaflichen Umfeld stossen die drei Frauen allerdings häufig nicht auf Verständnis; «Rabenmutter» und «karrieregeil» seien immer wieder gehörte Bemerkungen. «Und wenn in der Schule etwas nicht läuft, heisst es immer gleich: Die Mutter arbeitet», sagt Pascale Berclaz, die auf dem Land wohnt und ihre Kinder von einem Au-pair betreuen lässt. Das Problem sei, dass «die Solidarität unter den Frauen fehlt», sagt Romy Freiburghaus - gerade auch am Arbeitsplatz.

Die Frau und die Emanzipation

Angesprochen auf die Mitarbeit der Männer in der Familie, verstummen die Frauen. Das sei ein delikates Thema, sagen sie. Wenn ein Kind krank sei, bleibe sie zuhause, sagt Romy Freiburghaus. «Die Frauen sind heute emanzipiert - sie tragen aber nach wie vor viel mehr Verantwortung für Haus und Kinder», sagt Barbara Brügger. Die 33-Jährige teilt die Betreuung ihrer Tochter mit ihrem Mann. Man müsse «Männer mehr ins Gebet nehmen», sagt sie. Bei ihnen stosse die Forderung nach Teilzeit allerdings auf noch mehr Widerstand als bei Frauen.

Die Frau und die Werbung

Sie seien keine Quotenagentur. Und dennoch - Frauen tun der Branche gut, davon ist man bei Freiburghaus und Partner überzeugt: «Frauen haben viel Einfühlungsvermögen und ein gutes Gespür für Kunden», sagt Barbara Brügger. Ausserdem sei die Werbung «eine aufgeblasene Branche» - als Mutter nehme man die Dinge gelassener. «Wenn ich abends mein Kind schlafen sehe, relativiert sich der Stress um die Werbekampagne», sagt Pascale Berclaz. Das spiegle sich auch in der Werbung wider: «Wir wollen keine schreierische, sexistische Werbung mit dem letzten Humor machen. Sondern ehrliche.»

Auch Simon Freiburghaus ist überzeugt, dass die «exotische Führungsstruktur» mit den Frauen in der Leitung die Agentur präge. «Nicht weil sie Frauen sind, sondern wegen ihrer Doppelverantwortung in Job und Familie», sagt er. Sie setzten die Investitionen der Kunden pragmatischer und zielorientierter ein als andere Agenturen: «Wir schlagen einen Vernunftsweg ein. Wir wollen keine Werbung als ,l’art pour l’art‘. Und bleiben trotzdem authentisch.»

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 6. September 2005 im "Bund".​

Wenn Amors Pfeil durchs Netz schiesst...
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. . . trifft er nur gelegentlich - wie im richtigen Leben auch: Partnersuche via Internet boomt, beglückt und bricht einsame Herzen

Unzählige Singles suchen im Internet die grosse Liebe. Ob sie sie auch finden, hängt jedoch nach wie vor vom Zufall ab. Yuly und Andreas Kohli haben sich im Netz gefunden. Claudia Meyer zieht ernüchtert Bilanz.

Es begann am 26. Juli 2001. Andreas Kohli, wohnhaft in Niederwangen und seit einem halben Jahr Single, surfte im Internet, hielt Ausschau nach einer Partnerin. Es war sein 30. Geburtstag. Auf amigos.com stiess er auf eine «bezaubernde» Frau mit dunkelbraunen Augen und sanft gewelltem Haar. Er klickte ihr Lächeln an. Profil: Kolumbianerin, Verwaltungsangestellte und - genau wie er - am 26. Juli 1971 geboren. Er schrieb ihr ein Mail und gratulierte zum Geburtstag. Drei Monate später, im Flughafen von Bogotà, gab Andreas Yuly den ersten scheuen Kuss auf die Wange. Dann ging alles schnell.

«Ich sehnte mich nach Kolumbien, das ich vom Reisen gut kannte. Da dachte ich: Wenn ich schon nicht gehen kann, suche ich mir eben eine Bekanntschaft über Internet», erzählt Andreas. Yuly arbeitete viel und ging selten aus - eine Freundin hatte sie deshalb überredet, ihr Profil ins Internet zu stellen. Sie wurde mit Mails überschwemmt, doch es ergab sich nichts - bis jenes von Andreas kam. «Ich antwortete ihm, obwohl sein Foto schlecht war», erzählt sie und lacht. Sie sitzt auf dem sonnigen Balkon der Wohnung in Niederwangen, in die sie vor knapp vier Jahren - nur gerade 12 Tage nach dem ersten Treffen in Bogotà - mit dem ihr noch fremden und doch so nahen Mann gezogen war. Dem ersten Mail folgten täglich weitere, sie schickten sich Fotos, erzählten von Freunden und Familie. «Wir merkten schnell, dass da mehr war», sagt Yuly und sieht Andreas strahlend an. Wenn die beiden ihre Geschichte erzählen, so ist es, als erzählten sie ein Märchen. Etwas, das sich viele wünschen, aber nicht finden. Etwas, das viele nicht für möglich halten, aber trotzdem suchen: Die Liebe über Internet.

Der Boom der (virtuellen) Liebe

Die Partnersuche via Internet boomt, das Angebot für einsame Singles wird immer grösser. Es gibt auch Seiten für Teenies, solche für Betagte, für HIV-Positive, für Homosexuelle, für Leute, die nicht Liebe, sondern One-night-stands oder nur Freundschaften suchen. Laut Schätzungen der Anbieter besuchen täglich rund 200 000 Schweizer und Schweizerinnen Single-Börsen im Internet. Seit 2002 verdreifachten sich die Benutzerzahlen des Gratisportals singles.ch auf 30 000, Durchschnittsalter ist 34. Ähnliche Erfolge verzeichnen auch kostenpflichtige Anbieter wie swissfriends.ch.

Während die Hemmschwelle, sich im Internet den geeigneten Partner zu suchen, sinkt, steigt die Bereitschaft, mit der (virtuellen) Liebe zu spielen. Besonders Männer - sie machen drei Viertel der Anzeigen auf singles.ch aus - nutzten die Partnerbörsen oft aus, sagt Daniel Hauri, der singles.ch vor fünf Jahren gegründet hat: «Für viele Männer ist das Portal wie ein Weihnachtsbaum - sie wollen so viele Päckli wie möglich auspacken.» Auch «Spinner», die den Frauen unanständige Mails zuschickten, seien ein Problem: «Ein einziger Mann kann so hundert Frauen vom Netz vertreiben.»

Das Spiel mit der Liebe

«Viele Männer sehen das Ganze nur als Spiel und wollen gar keine feste Beziehung eingehen», sagt auch Claudia Meyer (Name geändert) aus Münsingen. Die Internetportale seien zwar eine gute Sache, denn man lerne schnell viele Leute kennen. «Vielleicht zu schnell», sagt sie. Ihr sei die Lust, die Liebe im Internet zu suchen, jedenfalls vergangen. Ein halbes Jahr lang hat sich die 27-Jährige nach der Auflösung ihrer langjährigen Beziehung auf Partnerbörsen registriert. Sie hatte immer wieder Dates, mit dem einen oder anderen Mann kam es zum Techtelmechtel. Es klappte jedoch nicht: «Entweder waren die Männer nicht mein Typ oder sie nahmen die Sache nicht ernst», sagt die Sachbearbeiterin. Die Erwartungen seien grösser als bei einem normalen Rendez-vous, «denn hier ist es beiden klar, worum es geht». Nach mehreren Enttäuschungen änderte Meyer die Strategie: Sie suche nun nach Freundschaften. Vielleicht lerne sie in einem neuen Freundeskreis eher einen Partner kennen als über die Suchkriterien im Internet. Denn: «Ich suchte Männer zwischen 25 und 35 Jahren. Vielleicht war der Richtige aber 36.»

Liebe lasse sich nicht über Datenbank-Kriterien steuern, sagt auch Jörg Eugster von swissfriends. ch, der grössten Dating-Seite der Schweiz. Trotzdem fänden viele Paare via Internet zueinander: Laut eigener Umfrage unter Swissfriends-Benutzern und Benutzerinnen waren es seit 2002 über 10 000 Paare, 800 haben geheiratet «und 547 Babys wurden dank Swissfriends geboren».

Die Tücke der Liebe

Auch bei Yuly und Andreas Kohli begann die Liebe mit dem virtuellen Spiel «Der gefällt mir, dieser nicht». Doch als Amors Pfeil am 26. Juli 2001 durchs Netz schoss, hat er die zwei getroffen. Für viele andere ging die Routinesuche am Computer mit den oft frustrierenden Blinddates weiter. Denn die Liebe ist tückisch. Auch im Internet.

[i] Die Liebe im Internet

findet sich auf folgenden Seiten (Liste unvollständig): singles.ch, swissfriends.ch, parship.ch, friendscout24.ch, partnerwinner.ch

Text: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 18. Juni 2005 im "Bund".​

Die Generation Erasmus
Kasten: 

Schweiz «stille Partnerin»

Das EU-Programm Erasmus gibt es seit 1987. Es ermöglicht Studentinnen und Studenten, ein bis zwei Semester in einem anderen EU-Land zu studieren. Die EU will damit die «europäische Dimension» in die akademische Welt einbringen und die Hochschul-Zusammenarbeit verbessern. 1995 wurde Erasmus in das EU-Bildungsprogramm Sokrates integriert. Die Schweiz nimmt seit 1992 am Programm teil. 1995 kündigte die EU der Schweiz jedoch die Teilnahme aufgrund des EWR-Neins von 1992. Seither unterstützt der Bund die «stille Partnerschaft» mit 6,2 Millionen Franken pro Jahr. Mit den bilateralen Verhandlungen II wird ab 2007 wieder eine offizielle Teilnahme erwartet. 

Texte: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 13. Dezember 2004 im "Bund".​

Psychiatrie oder Antibiotika
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Punkto Ausmass und Behandlung der «Zeckenkrankheit» Borreliose scheiden sich die Geister

Forscher und Mediziner streiten über Diagnose und Behandlung der von Zecken übertragenen Krankheit Lyme-Borreliose - und verunsichern damit Patienten: Sind deren unerklärliche Symptome, die von Müdigkeit bis zu Lähmungserscheinungen reichen, auf die «Zeckenkrankheit» zurückzuführen?

Es war im März 1998, als Frau S.* zum ersten Mal wegen unerklärlicher Gelenkschmerzen zum Arzt ging. Diagnose: eine bakterielle Infektion durch Streptokokken. Doch die Symptome blieben trotz Behandlung: Ständig hatte sie leichtes Fieber, Gelenk- und Muskelschmerzen, Augenbrennen, Halsweh, Kopfweh oder Konzentrationsstörungen - und niemand wusste recht warum. Im Dezember machte der Hausarzt Blutuntersuchungen. Aber auch sie brachten keine neuen Erkenntnisse. Die Krankheit wurde mit jedem Tag schlimmer. Im April 1999 wurde die selbständige Biologin - bereits seit Monaten bis zu 50 Prozent arbeitsunfähig - ins Spital eingewiesen. «Die Laborwerte ergaben jedoch auch nichts. Die Ärzte sagten, ich sei in den Wechseljahren. Aber ich war knapp 44. Man zweifelte an meiner psychischen Gesundheit, das war der Tiefpunkt meiner Krankheitsgeschichte», sagt Frau S.

Durch Bekannte kam sie zu Laurence Meer, einer Ärztin in Flamatt, die zur «Zeckenkrankheit» Lyme-Borreliose forscht. Diese untersuchte die Blutproben, und im Februar 2000, zwei Jahre nach dem ersten Arztbesuch, kam die Diagnose: Lyme-Borreliose, eine bakterielle, von Zecken übertragene Infektion, bereits im chronischen Stadium (siehe Kasten rechts).

Streit unter Experten

Borreliose-Diagnosen sind der unspezifischen Symptome der Patienten wegen häufig nicht ganz eindeutig und deshalb umstritten. Universitätsmediziner glauben, dass es kaum chronische Borreliose-Patienten gibt. Zeckenspezialisten sehen das anders - punkto Behandlung sind jedoch auch sie untereinander zerstritten.

«Den Verdacht auf Borreliose hatte ich immer, denn ich hatte etliche Zeckenbisse», sagt Frau S. Die typische Wanderröte, einen kreisförmigen Ausschlag um die Stichstelle, hat die Biologin jedoch nie bemerkt. Und ein weiterer Bluttest sei nach dem ersten negativen nie zur Diskussion gestanden. Seither ist Frau S. bei Meer in einer Langzeit-Antibiotikabehandlung. Nun gehe es ihr besser, sagt sie.

Das könne nicht sein, sagt Norbert Satz, der in Zürich eine Praxis für «Zeckenkrankheiten» führt: «Chronische Patienten kann man nicht mit Antibiotika behandeln, da hilft nur Symptombekämpfung, zum Beispiel mit Schmerzmitteln», sagt er. Frau S. würde es seiner Meinung nach ohne Antibiotika genauso gut gehen. Und Stefan Zimmerli, Infektiologe am Inselspital in Bern, geht noch weiter: «Chronische Borreliose-Patienten sind höchst selten», sagt er. Die Diagnose werde von «so genannten» Spezialärzten viel zu häufig gestellt.

Krankheit nicht beweisbar

Ob zu häufig oder zu selten - die Krankengeschichten von chronischen Lyme-Borreliose-Patienten sind fast immer gleich: jahrelanges Leiden, eine Odyssee von Arzt zu Arzt, unterschiedliche Diagnosen und Therapien, verwirrte Betroffene. Denn ohne Wanderröte, die nur bei jedem Dritten auftritt, wird die Krankheit oft nicht oder zu spät erkannt, da der Zeckenbiss in den meisten Fällen nicht bemerkt wird.

Wenn die Infektion sofort behandelt wird, ist sie gut heilbar. Bereits nach mehreren Monaten werden jedoch sowohl Diagnose als auch Behandlung schwieriger: Die Symptome könnten auch andere Ursachen haben, und die Bakterien sind schlechter durch Antibiotika bekämpfbar. Ausserdem haben rund zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung Borrelien-Antikörper im Blut - die das Immunsystem zur Bekämpfung der Erreger produziert - und sind dennoch gesund. Ein positiver Bluttest ist somit kein Beweis für die Krankheit. «Eine Ja- oder Nein-Diagnose ist nicht möglich: Es braucht ein typisches Beschwerdebild, positive Laborwerte und einen Ausschluss aller anderen möglichen Krankheiten», sagt Borreliose-Arzt Norbert Satz.

Gerade die Einschätzung, ob chronische Schmerzen psychisch bedingt sind oder nicht, fällt jedoch von Arzt zu Arzt unterschiedlich aus. Psychiatrie oder Antibiotika - eine für den Patienten schwer wiegende Entscheidung, die nicht selten zu Problemen mit Versicherungen und Krankenkassen führt (siehe Text unten links).

Wie heikel die nicht beweisbare Diagnose und das somit nicht abschätzbare Ausmass der Borreliose ist, zeigt ein Blick ins Internet, Hauptinformationsquelle vieler Patienten: Weltweit gibt es etliche Selbsthilfegruppen und Organisationen, die vor der «Gefahr Borreliose» warnen, unzählige Websites mit Informationen und Foren. Die Kranken fühlen sich von den Ärzten im Stich gelassen.

Gefahr oder Bagatelle

«Die Lyme-Borreliose ist eine meist harmlose, problemlos behandelbare bakterielle Infektion, die nur in seltensten Fällen zu langen Krankheitsverläufen führt», sagt Infektiologe Stefan Zimmerli zur Haltung der Universitätsmediziner. Die Borreliose-Krankheit werde von Randgruppen «hochstilisiert und mit unbestimmten Symptomen in Zusammenhang gebracht, die nichts mit der Lyme-Borreliose zu tun haben - dies ist ein Trugschluss», so der Oberarzt. Wenn ein Patient nach einer Antibiotikatherapie Beschwerden habe, seien diese mit Ausnahme von ganz wenigen Fällen nicht auf ein Weiterbestehen der Infektion zurückzuführen - chronische Borreliose-Patienten würden somit kaum existieren.

Diese Aussage findet Norbert Satz «völlig daneben»: Chronische Fälle seien in der Schweiz ein sehr grosses Problem. «Wer dies nicht wahrhaben will, sitzt in einem Elfenbeinturm.» Seiner Meinung nach werden etwa zehn Prozent der 3000 bis 5000 Personen, die sich jährlich mit dem Bakterium infizieren, chronisch und zum Teil ernsthaft invalidisiert.

«Es fehlt Schlüsselstelle»

Laurence Meer, die zu Langzeitbehandlung und Zusatzinfekten forscht und publiziert, arbeitet zusammen mit der technischen Hochschule Biel an einem Programm zur Erfassung der Patienten. «Es fehlt eine Schlüsselstelle, wo Patienten über längere Sicht beobachtet werden - sie sind bei Hautärzten, Rheumatologen, Psychiatern oder Neurologen verzettelt», sagt Meer.

Auch bei den Testverfahren sieht sie Lücken: Entgegen der Meinung anderer Ärzte teilt sie die Ansicht, dass ein Bluttest trotz Krankheit negativ sein könne, da die Bakterien ihre Eiweissoberfläche laufend änderten, was die Antikörperbildung und damit den Nachweis erschwere. «Deshalb sollte der PCR-Test, der Teile der DNA nachweist, verbessert werden», so Meer. Es sei jedoch schwierig zu wissen, in welchem Gewebe das Erbgut am ehesten zu finden sei.

Doch auch an diesem Testverfahren scheiden sich die Geister. Und der Streit um die nicht sicher beweisbare Krankheit Lyme-Borreliose geht weiter.

* Name der Redaktion bekannt

Interview mit Hanspeter Zimmermann, Epidemiologe beim Bundesamt für Gesundheit BAG.

«Keine harmlose Krankheit»

«Bund»: Es herrschen grosse Meinungsverschiedenheiten zur Diagnose, Behandlung und zum Ausmass der von Zecken übertragenen Krankheit Borreliose. Wie schätzen Sie die Situation in der Schweiz ein?

Hanspeter Zimmermann: Das Ausmass der Borreliose-Krankheit ist nicht ganz klar. Man kann jedoch nicht sagen, es sei eine harmlose Krankheit: Sie ist weder einfach noch selten. Die Schwierigkeit liegt bei der Diagnosestellung: Ein einzelner Labortest reicht nicht aus, um sie klar zu bestimmen. Die Diagnose Borreliose wird von Teilen der Ärzteschaft zu häufig, von andern zu selten gestellt. Wir rechnen mit schätzungsweise 3000 Erkrankungsfällen pro Jahr. Aber der grösste Teil davon sind Patienten mit Erythema migrans, der Wanderröte, einer grundsätzlich harmlosen Krankheit. Die Schwierigkeit kommt bei den Patienten ohne Wanderröte, denn viele Leute haben Antikörper und hatten nie Borreliose-Symptome. Gemäss Spitalstatistik gibt es im Schnitt jährlich 200 bis 300 Spitaleinweisungen mit der Diagnose Borreliose.

Nimmt das BAG zum herrschenden Konflikt unter Medizinern und zwischen Ärzten und Patienten Stellung?

Nein, das BAG kann zu dem Konflikt nicht Stellung nehmen. Unsere Aufgabe ist es, die Krankheit zu überwachen: Wie häufig ist sie, bei wem und wo taucht sie auf? Wir machen Empfehlungen, wie Krankheiten verhütet werden können, aber wir mischen uns nicht in die Behandlung der Patienten ein.

Ist die Überwachung der Lyme-Borreliose beim BAG ein Thema?

Ja, die Lyme-Borreliose ist auch für uns ein Thema. In einer Arbeitsgruppe wird zurzeit überlegt, wie wir die Krankheit besser überwachen können. Wir wollen abschätzen können, was diese Krankheit in der Schweiz bedeutet, denn sie kann sehr schwer verlaufen. Bis im Jahr 2003 bestand obligatorische Meldepflicht. Die Ergebnisse sind jedoch nur von begrenzter Hilfe, da damit die schwereren Erkrankungen, wie etwa die neurologischen Erscheinungen, nicht erfasst werden konnten.

Die chronischen Borreliose-Fälle könnten mit verbesserten Testverfahren einfacher bestimmt werden. Unterstützt das BAG solche Forschungsprojekte?

Wir unterstützen primär Forschung im Bereich der Überwachung der Epidemiologie, dazu gehören in gewissen Fällen auch PCR-Untersuchungen. Im Falle der Borreliose ist dieses Testverfahren jedoch nicht das Mittel, um die Problematik aufzuarbeiten. Zur Erfassung der schweren Borreliose-Fälle müssen weitere Hilfsmittel angewendet werden, wie zum Beispiel ein mehrseitiger Fragebogen wie in den USA.

Konnten in der Schweiz gewisse Risikogebiete lokalisiert werden?

Die ganze Schweiz unterhalb von 1200 bis 1500 Metern über Meer ist Risikogebiet. Der Anteil der infizierten Zecken schwankt jedoch stark, auch lokal: von 5 bis 50 Prozent. Bisher konnte man jedoch keine speziellen Gebiete aussondern. Die geografische Lokalisation, also die Verteilung der Borreliose-Patienten, würde sicherlich auch in die neuen Untersuchungen kommen.

Kasten: ​

Kostenfrage: Unfall oder Krankheit?

Chronische Borreliose-Patienten sind teuer: Über Jahre hinweg sind Arzt- und Spitalbesuche, Medikamente und aufwändige Laboruntersuchungen nötig. Dazu kommt die häufige Erwerbsunfähigkeit und nicht selten sogar Invalidität. Grundsätzlich gilt ein Zeckenstich als Unfall - also muss die Unfallversicherung bezahlen. Bei Patienten mit Wanderröte ist der Fall klar. Schwieriger wird es jedoch bei chronischen Patienten, die sich an keinen Zeckenstich erinnern.

Hier erschweren die unklaren Diagnosemöglichkeiten und der Konflikt um das Ausmass der Krankheit (siehe Text oben) auch die rechtliche Beurteilung, wer für die hohen Kosten aufkommen muss: Kann der Arzt die Diagnose Borreliose glaubhaft beweisen, bezahlt die Unfallversicherung. Wird die Diagnose jedoch angezweifelt, bezahlt die Krankenkasse, wobei die Leistungen im Falle eines Unfalls viel grösser sind als bei Krankheit.

Streit bis vor den Richter

«Viele chronische Borreliose-Patienten stehen in ständigem Streit mit Versicherungen», sagt Borreliose-Ärztin Laurence Meer. Das Versicherungsdossier ihrer Patienten sei mindestens gleich dick wie das der Krankenberichte.

Für Beat Cartier, Facharzt für Arbeitsmedizin bei der Suva, ist der Fall klar: Chronische Borreliosen sind selten. «In unklaren Fällen wird die schulmedizinische Fachmeinung durch universitäre Gutachten eingeholt», sagt er. Diese stünden zum Teil im Widerspruch zu den Arztberichten der behandelnden Ärzte - auch solcher, die sich auf eine grosse Borreliose-Erfahrung beruften. In einigen Fällen pro Jahr ende der Streit vor dem Richter.

Wenn die Unfallversicherung den Fall ablehnt, bezahlt die Krankenkasse - teure und umstrittene Therapien kann sie jedoch ablehnen. Wie verschiedene Krankenkassen bestätigten, sind solche Problemfälle jedoch höchst selten. (mry)

«Zeckenkrankheiten»

Die durch Zecken übertragene Krankheit Lyme-Borreliose, die durch das 1983 vom Schweizer Willy Burgdorfer entdeckte Bakterium Borrelia burgdorferi hervorgerufen wird, verläuft in drei Stadien: Im Lokalstadium kann ein Hautausschlag, das so genannte Erythema migrans, auftreten. Erste Anzeichen sind zudem grippeähnliche Symptome. Antibiotika sind sehr wirksam. Im Akutstadium befallen die Bakterien die Organe, besonders Gelenke, Haut und Nervensystem. Im chronischen Stadium können bleibende Schäden auftreten wie Arthrose oder Lähmungen. Daneben können Müdigkeit, Kopf-, Nacken- und Muskelschmerzen, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie Depressionen und Rheuma auftreten. Die Vielzahl an Symptomen macht die Diagnose sehr schwierig. Die Borreliose darf nicht mit der FSME-Hirnhautentzündung, einer Vireninfektion, die ebenfalls von Zecken übertragen wird, verwechselt werden. FSME-Fälle sind seltener, aber es ist keine Behandlung möglich. Es existiert eine Impfung, die Bewohnern in Risikogebieten empfohlen wird.

Risikogebiete für Borreliose sind bisher kaum erforscht (siehe Interview). Im Schnitt ist jede dritte Zecke infiziert. Eine Impfung gibt es nicht. Die Gefahr, nach einem Zeckenstich an Borreliose zu erkranken, wird zurzeit an der Universität Neuenburg erforscht. Um Zeckenstiche zu vermeiden, soll man im Wald lange Kleidung tragen und danach den Körper absuchen. Zecken (ein bis sechs Millimeter gross) leben nicht auf Bäumen, sondern im Unterholz. 

Text: Manuela Ryter

​Diese Hintergrundseite erschien am 13. September im "Bund".