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Noten für die Zirkusmusikanten
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Im Circus Monti werden nicht bloss Artistennummern aneinandergereiht – hier fügt sich das Programm zu einem Gesamtkunstwerk. Einen wichtigen Teil beigesteuert hat heuer der Berner Musiker Resli Burri.

Das Zelt des Circus Monti ist randvoll beider Berner Premiere gestern Nachmittag auf der Berner Allmend. Die Kinder sitzen still und gespannt da. Und dann kommen die drei Clowns, sie suchen den Anfang des Seils, das sie verbindet, und finden dessen Ende. Und sie merken: Sie sind nicht am Anfang und nicht am Ende, sondern im Mittelpunkt der Welt. Oder zumindest dieses Zelts.

Die Clowns sind philosophisch und romantisch, liebevoll und lustig. Und sie treffen den Humor der Kleinsten, indem sie nicht tun, als wären sie lustig, sondern indem sie authentisch sind. Wie die Kinder auch. Diese lachen, als hätten sie noch nie etwas so Lustiges gesehen.

Auch Resli Burri war gestern Abend wieder im Circus Monti. Weil er es geniesst, die «lieb gewonnenen Artisten» in der Manege schillern zu sehen. Weil er jedes Mal «überwältigt» ist von der «Magie» der Vorstellungen. Aber auch, weil es zur Aufgabe eines Zirkus-Komponisten gehört, sich die Vorstellung immer und immer wieder von Neuem anzusehen, um sicherzustellen, dass die Musik sich nicht verdreht hat von einer Vorstellung zur nächsten.

Massgeschneiderte Musik

Zirkusmusik war schon immer Thema in der Musik von Burri, heute bekannt durch die Comedy-Band Les trois Suisses. Bei Patent Ochsner schepperte und trötete Burri während acht Jahren an vorderster Front mit. Auch in seiner Theatermusik halten die Rhythmen und Klänge der Zirkusmusik immer wieder Einzug. Und dann kam der echte Zirkus und fragte nach seiner Musik.

Der Multiinstrumentalist lernte extra für den Zirkus Noten schreiben – ein wichtiges Kommunikationsmittel während der Vorstellung. «Zirkusmusik muss flexibel sein», sagt der 53-Jährige, «verliert der Jongleur einen Ball, muss die Musik mit einem Loop ausgedehnt werden.»

Burri zog für sechs Wochen ins Winterquartier  des Circus Monti nach Wohlen. Er sah den Artisten beim Proben zu, er führte Gespräche mit dem Regie-Team – und zog sich dann zurück in «seinen» Zirkuswagen, um zu komponieren. Bei Minustemperaturen. «Es war sehr nüchtern, und es wurde sehr hart gearbeitet», erzählt er. Von romantischer Zirkusstimmung sei nicht viel zu spüren gewesen. Der Einblick in die Zirkuswelt sei eine «irrsinnige Erfahrung» gewesen, sagt Burri: «Die Musik stand nicht im Zentrum, sondern war lediglich Teil eines grossen Ganzen.»

Die Artisten im Monti sind jung und kreativ und sie verbinden ihre Kunststücke  zu einem Ganzen. Die Clowns werden zu Artisten, die Akrobaten sind lustig. Und immer wieder sind sie alle gemeinsam in der Manege. «Der Monti ist der einzige Zirkus, der noch den Mut hat, poetisch zu sein», sagt Burri. Hier gebe es Kunst statt Bluff , und hier müsse auch nicht alles grösser, höher und lauter sein wie anderswo im Zirkuszelt. Im Monti dürfe es auch leise und sinnlich  sein.

Teil dieses kreativen Ganzen, das eher der Strassenkunst gleicht denn einer traditionellen Zirkus-Show, ist auch Burris Musik. Er lässt einen Clown Banjo spielen, lernte einem anderen die Singende Säge. Auch Burris Musik hat den Mut, leise zu sein. Zu überraschen, ohne zu übertönen. Und manchmal auch zu schweigen.

«Zirkusmusik soll die Emotionen der Artistik verstärken und sich nie in den Vordergrund drängen», sagt er. Seine Zirkusmusik ist mal jazzig, mal lieblich, mal lustig im Balkan-Groove. Sie verzichtet fast ganz auf Zirkus-Klischees. Wie die gesamte Vorstellung des Monti auch.

Dieser Artikel erschien am 11. Oktober im "Bund". 

«Damals zählte das Talent, nicht der Trainingsaufwand»
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Liselotte Kennel trainierte im Rheinbad Schaffhausen in einem 70-Meter-Becken flussabwärts. Und trotzdem schaffte sie es nach London an die Olympischen Spiele 1948. Olympia hat nicht nur ihre Liebe zu Amerika geweckt und damit ihr Leben verändert, sondern auch ihre Motivation, sich für den Sport – und insbesondere für die Rechte der Frauen im Sport – einzusetzen.

Hellblau schimmert das Wasser im Schwimmbad in Liselotte Kennels Garten am Sonnenhang Balsthals. Der Rasen ist frisch gemäht, die Rosen blühen. Unter einer Pergola warten weisse Plastikstühle auf den Sommer. Doch das kühle Nass stiehlt Blumen und Dekoration die Aufmerksamkeit. Das Wasser ist das Zentrum von Kennels Garten. Und der rote Faden in ihrem Leben. Liselotte Kennel – sie wird seit jeher «Lilo» genannt – setzt sich für das Fotoshooting auf den Rand des Beckens. Hier schwimmt sie an warmen Tagen ihre Runden und hält sich fit. Auch mit 82 Jahren noch.

Kennel blinzelt, es ist der erste sonnige Tag seit langem. In ihrem Gesicht verraten nur die Falten ihr wahres Alter. Ihr Blick hingegen zeigt eine Frau mit der Energie eines jungen Menschen. Einer Frau, die noch ganz viel vorhat im Leben. Die das Leben nicht hinnimmt, sondern dieses mitgestaltet. Die mit Fröhlichkeit und Nachdruck für ihre Anliegen kämpft. Sie lacht in die Kamera und erzählt von früher. Von ihrer Karriere als Schwimmerin. Von den Olympischen Spielen in London 1948 und Helsinki 1952. Von ihrer Laufbahn als eine der ersten Sportlehrerinnen ETH und als einzige Frau im Zentralvorstand des Schweizerischen Landesverbandes für Sport (SLS, heute Swiss Olympic). Es ist die Geschichte einer Frau, die mit Talent zum Sport kam und sich später mit Leidenschaft für den Sport einsetzte – und für die Rechte der Frauen im Sport.

Wer Talent hatte, kam weit

Naiv und stürmisch war der Sport damals in den 50er Jahren. Sportler genossen kein grosses Ansehen – Sportlerinnen schon gar nicht. Dafür war der Spassfaktor umso grösser. Von Leistungstests und Zeitlimiten redete noch niemand. «Nicht einmal Krafttraining kannte man», sagt Kennel, «es war eine schöne Zeit. Nicht verbissen, alles war spielerisch.»  Die Wettkämpfe von damals waren ein fröhliches Kräftemessen, es gewann nicht jener, der am meisten trainiert hatte, sondern wer am talentiertesten war. Solche Wettkämpfe findet man heute höchstens noch bei den Kindern. Oder in Randsportarten.

Liselotte Kobi, wie sie damals hiess, hatte Talent. Vor allem im Brustschwimmen. Als junges Mädchen war sie quirlig und bewegte sich viel. Eines Tages nahm sie an einem Schwimmwettkampf teil. Und gewann. Von da an schwamm sie im Schwimmklub Schaffhausen, Trainer war ihr Turnlehrer. Schwimmbad hatte es zwar kein richtiges, aber es gab das Rheinbad, in dem bei jeder Temperatur trainiert wurde. Wegen der Strömung mussten die Schwimmer am Ende des 70-Meter-Beckens aussteigen und zu Fuss zurückgehen. Länge für Länge. Eine Trainingseinheit über 600 Meter war «das höchste aller Gefühle». Die Wende musste sie in einem anderen Schwimmbad üben.

«Das waren Pfahlbauerzeiten»

Einmal pro Woche durfte die junge Schwimmerin in Thayngen mit den Männern trainieren. Das war eine Ehre für sie, denn in den Schwimmbädern waren Männer und Frauen sonst strikte getrennt. Kennel fuhr die 20 Kilometer mit dem Velo hin und wieder zurück. Und damit sie auch im Winter trainierten konnte, wünschte sie sich zu Weihnachten jeweils ein 10er-Abo für den Zug nach Zürich, denn dort gab es ein Hallenbad.

Bald gewann «Lilo» Regionalmeisterschaften. 1946 machte sie als 16-Jährige erste Schweizerrekorde, die jeweils am Radio verkündet wurden. Den Rekord in 200 m Brust unterbot sie gleich um 30 Sekunden. «Verglichen mit heute waren das Pfahlbauerzeiten!», sagt Kennel und lacht. Dafür habe man sich nicht geschunden wie heute, «das ist ja grauenhaft, wie die Schwimmer heute trainieren!» Niemals hätte sie das mitgemacht, sagt sie mit Nachdruck. 

Gute Betreuung dank «Megge» Lehmann

1947 ging es nach Monaco an die EM. Begleitet wurde das Schwimmteam von Max «Megge» Lehmann, dem späteren Radio- und Fernsehpionier, der von da an die treibende Kraft Elite-Schwimmerinnen war: «Er konnte uns begeistern», sagt Kennel. 

Lehmann war es denn auch, der aus den Olympischen Spielen ein unvergessliches Erlebnis machte für die drei Schweizer Olympia-Schwimmerinnen Liselotte Kobi, Doris Gontersweiler (heute Santschi), mit der Kennel bis heute gut befreundet ist, und der Tessinerin Marianne Ehrismann. Denn: «Die Vorbereitungsphase war lausig», sagt Kennel. 

Liselotte Kobi mit Doris Gontersweiler und Marianne Ehrismann: «Ein Wunder, dass wir keine wollenen Anzüge hatten!» ​

Liselotte Kobi mit Doris Gontersweiler und Marianne Ehrismann: «Ein Wunder, dass wir keine wollenen Anzüge hatten!» 

Noch heute strahlt Kennel, wenn sie von «Megge» erzählt. Die Schwarz-Weiss-Fotos im vergilbten London-1948-Album zeigen einen gutaussehenden Mann. Lehmann war der «Beschützer» der jungen Mädchen, er machte alles für sie und nannte sie «meine Töchter». Und sie himmelten ihn im Gegenzug an. Die meisten anderen Schweizer Athleten in London 1948 hatten da nicht so viel Glück und mussten ihre Wettkämpfe ohne jede taugliche Betreuung bestreiten, da die zuständigen Personen eher als VIP-Gäste denn als Betreuer in London waren.

Zusammenzug in der Männerbastion Magglingen

Für die Olympischen Schwimmwettkämpfe 1948 wurden alle Schweizer Landesrekordhalter selektioniert. In Romanshorn mussten sie bestätigen, dass sie «fähig» waren für Olympia. Sie erhielten eine Uniform, an die ihre Eltern bezahlen mussten, und in Magglingen, wo Sportler bereits damals im «Vorunterricht» als angehende Soldaten gefördert wurden, gab es einen einmaligen Zusammenzug des Olympia-Schwimmteams. 

«Das war ein Highlight», sagt Kennel: «Magglingen war sehr hoch im Kurs bei den Sportlern. Es war eine Männerbastion, fest in militärischen Händen. Wir fühlten uns wahnsinnig geehrt, dass wir dort bei 16 Grad Wassertemperatur trainieren durften.» Auch in Magglingen gab es damals noch kein Hallenbad. 

Nach langem hin und her gab auch das Lehrerseminar, das Kennel besuchte, grünes Licht. «,Megge‘ musste unterschreiben, dass er auf uns aufpasst», sagt Kennel und lacht. Sie war es gewohnt, von ihren Lehrern eher Spott als Anerkennung zur erhalten für ihre sportlichen Leistungen. Eine Erfahrung, die sich in der jungen Frau einbrannte und sie prägte.

Eröffnungsfeier war «enorm beeindruckend»

Und dann kam der Tag, an dem sie mit den anderen Athleten der Schweizer Delegation per Schiff nach London reiste, immer «lieb überwacht» von Lehmann. Auf der Fahrt lernte sie den Leichtathleten Armin Scheurer kennen, Schweizer Fahnenträger in London und laut Kennel «damals eine Kapazität». Es blieb zu ihrem Bedauern fast die einzige Bekanntschaft mit anderen Olympia-Athleten – insgesamt nahmen in London über 4100 Sportler teil, darunter 390 Frauen. Einzig vor der «enorm beeindruckenden» Eröffnungsfeier – sie mussten stundenlang im Park warten, bis sie ins Wembley-Stadion einmarschieren durften –, hatten sie noch einmal Gelegenheit austauschen.

Drei Schwimmerinnen auf Sightseeing-Tour in London... 

Drei Schwimmerinnen auf Sightseeing-Tour in London... 

Während den Spielen waren sie von den anderen völlig abgeschottet, ein olympisches Dorf gab es damals noch nicht: Alle Teams der Schweizer Delegation hatten andere Unterkünfte. Zuerst wohnten die drei Schwimmerinnen in einer Haushaltungsschule, weit weg von den Wettkampfstätten und von ihrem Betreuer Lehmann. Das Essen sei sehr schlecht gewesen, erinnert sich Kennel.  Die Lebensmittel seien – wie in der Schweiz – auch nach dem Krieg noch rationiert worden. «Zum Glück hatte ich noch eine Büchse Ravioli dabei.» Die Enttäuschung war gross. Lehmann sorgte dafür, dass die Mädchen umziehen konnten – in eine Unterkunft, wo Athletinnen aus Jamaika und Frankreich wohnten. 

Big Ben ist kein Mensch

«Einmal durften wir zu den Männern ins Camp Uxbridge, wo sie zusammen mit den Amerikanern wohnten», sagt Kennel, «dort hatten sie alles!» Bis heute sieht sie deren Buffet vor ihren Augen. Im Camp sangen die Schwimmerinnen mit den Amerikanern Lieder, begleitet von Megge Lehmann und seiner Gitarre.

Kennel sah sich auch viele Leichtathletik-Wettkämpfe an. Und an den Sonntagen standen Stadtrundfahrten auf dem Programm. Die drei Schwimmerinnen waren beeindruckt von der Grossstadt London, von der sie nichts wussten, «ausser dass der Big Ben kein Mensch ist». Sie hätten in den zwei Wochen so viele schöne Sachen gesehen in London, erzählt Kennel. «Wir standen einfach da und staunten.»

Die einzige Schweizerin im Halbfinal

Der Schwimmwettkampf fand gegen Ende der zwei Wochen in London statt. Einmal wurden die drei jungen Frauen – als einzige Passagiere – von einem doppelstöckigen roten Bus abgeholt und zum Empire Pool chauffiert. Lilo Kennel startete auf Bahn 4. 200 Meter Brust. Sie gab alles und landete – als einzige des Schweizer Schwimmteams – «glücklich im Halbfinal», wie sie mit der Unbeschwertheit von damals erzählt.

Schöne Erinnerungen: Liselotte Kennel (Mitte) nach der Quali mit Megge Lehmann und Doris Gontersweiler. ​

Schöne Erinnerungen: Liselotte Kennel (Mitte) nach der Quali mit Megge Lehmann und Doris Gontersweiler. 

Nervosität kannte Kennel nicht – auch nicht, als sie im Halbfinal auf dem «Böckli» stand. Sie sah Armin Scheurer am Bassinrand, er feuerte sie an, er schrie und ruderte mit den Armen. «Das kann man sich heute an Olympischen Spielen nicht mehr vorstellen!», lacht Kennel. Sie genoss es, sich mit anderen Nationen messen zu dürfen. In ihrem vergilbten Buch kleben die Ranglisten der Halbfinale. Kennel studiert die Zeiten. «Ich wurde jedenfalls nicht letzte», schmunzelt sie.

Amerikaner mit «Sexappeal»

Die Stars in London 1948 waren die Amerikaner. In Kennels Buch von damals sind sie in modischen Badeanzügen abgebildet. «Die hatten Sexappeal!», sagt Kennel und lacht. Die junge Frau bewunderte die muskulösen Athleten – und ihr gefiel die amerikanische Hymne: «Sie ist so lieblich sanft, um gleich darauf stark und prägnant zu ertönen.» Die Siegerehrungen in London wurden zu einem Schlüsselerlebnis in Kennels Leben: «Ich sagte mir damals in London: Ich will nach Amerika. Ich wollte wissen, ob auch die Menschen dort sind wie ihre Hymne.»

«Immer Amerika»: Die amerikanische Hymne ertönte in London 1948 häufig - und veränderte Kennels Leben.

Nach den Spielen absolvierte Kennel an der ETH als einzige Frau ein Sportstudium. Ihren späteren Ehemann, mit dem sie bis heute zusammenlebt und den sie seit 30 Jahren pflegt, lernte sie in der Studenten-Ski-Nationalmannschaft kennen. 1952 nahm sie an den Olympischen Spielen in Helsinki teil und beendete ihre Schwimmkarriere. Danach arbeitete sie als Primarlehrerin, um Geld zu verdienen für die Fahrt nach Amerika. 1955 machte sie ihren Traum war. Sogar die Zeitung berichtete über die junge Frau, die alleine nach Amerika reiste. In Rochester musste sie zuerst ein halbes Jahr in einem Haushalt helfen – das war vorgeschrieben. Danach ging sie in den Osten, wo sie einen Winter lang als Skilehrerin arbeitete. Im Sommer folgte Kalifornien, nun verdiente sie ihr Geld als Schwimminstruktorin. Sie war beeindruckt, welchen Stellenwert der Sport in Amerika genoss. 

Die Olympischen Spiele haben ihr Leben geprägt

«Die Olympischen Spiele haben mein Leben verändert», sagt Kennel heute. Die Spiele brachten sie nach Amerika und Amerika prägte die junge Frau fürs Leben. Sie setzte sich zeitlebens für den Sport und den Schwimmverband ein. Und für die Frauen: Sie übernahm die SLS-Kommission «Sport und Frau» und wurde darauf als einzige Frau in den Zentralvorstand des Landesverbandes für Sport einberufen. Sie kämpfte dafür, dass die Frauen selbstsicherer wurden. Dass auch sie Eishockey und Fussball spielen durften. Dass auch die Sportlerinnen gefördert wurden. Heute sei sie ruhiger geworden, sagt Kennel. Bei gesundheitlichen Schwierigkeiten zucke sie mit den Schultern und sage, sie sei halt «nicht mehr 80». 82 ist aber noch lange nicht 100. Und Lilo Kennel hat noch viel vor in ihrem Leben.

2012 finden die Olympischen Spiele in London statt – nach 1908 und 1948 bereits zum dritten Mal. Wir haben uns auf die Suche nach den Schweizer Olympioniken von London 1948 gemacht. Und haben einige von ihnen besucht.

Bereits erschienen sind die Beiträge über Turmspringer Ernst Strupler und die Herren des Rudervierers mit Steuermann.

Bilder: Manuela Ryter und zvg

Anmerkung: Dieser Artikel wurde für den Olympiablog verfasst.

Der Traum vom schwarzen Bändel

Wechä Gäggeler ist seit Jahren Gigathlet. Nun ist er einer von denen, die er immer mit viel Bewunderung und etwas Abscheu als Spinner bezeichnet hatte: ein Single. Mit Hilfe seiner Supporter, die in den Wechselzonen bei Hitze und Gewitter stundenlang warteten, um in den entscheidenden Minuten bereit zu sein. 

Es ist der schwarze Bändel am Handgelenk, der alles ausmacht. Wen Werner «Wechä» Gäggeler im Gigathon-Camp in Olten auch trifft, man blickt sich nicht in die Augen, sondern auf den Bändel. Hier ein ungläubiger Blick, dort ein Hauch von Erstaunen – Wechä Gäggelers Bändel ist schwarz. Nicht orange wie jene der Team-of-five-Athleten. Auch nicht grau wie bei den Couples. Er hat den Schritt gewagt: Nach etlichen Gigathlon-Jahren im Fünfer- und Zweierteam startet er nun alleine: Je fünf Etappen an zwei Tagen, insgesamt 92 Kilometer Inline, 12 Kilometer Schwimmen, 96 Kilometer Bike, 198 Kilometer Rad und 52 Kilometer Laufen. Über 7500 Höhenmeter. Ohne Ablösung. Fast ohne Pause. 

Wechä Gäggeler ist kein Hardcore-Athlet. Er ist auch kein geborener Ausdauersportler. Aber er ist einer, der eine Vision hatte. Und nun nur noch ein paar Stunden davon entfernt ist, seinen Traum zu realisieren. «Früher habe ich immer gedacht: ,Was sind das nur für Spinner!‘ Ich wollte mir beweisen, dass ich auch spinnen kann», sagt Gäggeler. Doch er weiss: Es ist nicht sicher, dass er das Ziel vor dem Besenwagen erreichen wird.

Jedes Ding an den richtigen Ort

Es ist Freitagabend. Gäggeler sitzt mit seinen zwei Supportern im Camper. Während rundherum hunderte Gigathleten darauf warten einzuchecken, sind sie hochkonzentriert am Packen. Für jede Disziplin gibt es einen Sack. Trikots, Ersatzpneus, Kraftgel, Salztabletten – jedes Ding muss an den richtigen Ort. Socken eingepackt? Startnummern angeheftet? Alles muss exakt geplant sein.

Gäggelers Supporter werden zwei Tage lang ganz in seinem Dienst stehen. «Die beiden sind massgeblich daran beteiligt, dass ich immer mehr will», sagt Gäggeler: Sein langjähriger Freund Michael Aebischer (43), Vater von vier Kindern, der 1999 mit dem TransSuisse die gemeinsame Gigathlon-Serie begann. Damals war Gäggeler sein Supporter. Und Simone Ryser (42), seine  Couple-Partnerin. Sie wäre eigentlich fit genug, um selbst am Gigathlon zu starten. Aber sie zögerte keinen Moment, ihn zu unterstützen. Sie freue sich, einmal auf dieser Seite des Gigathlon zu stehen, sagt sie. 

Stimmung zwischen Openair und Volkslauf

Vier Disziplinen-Wechsel gibt es pro Tag. Viermal umziehen, Schuhe wechseln, Nahrung tanken. Jedes Mal an einem anderen Ort. Während die Supporter den Gigathleten in vergangenen Jahren von Ort zu Ort im Auto hinterherreisten, ist der Gigathlon 2012 autofrei. Das heisst für die Supporter: Sie tragen das ganze Material von Wechselzone zu Wechselzone.


Das Team sucht sich einen Weg durchs Gigathlon-Camp. Durch die hunderten roten Zelte, die Stände der Sponsoren. Durch das Gewimmel von Musik, Farben und Gerüchen. Die Stimmung schwankt zwischen Openair und Volkslauf. Im Oltener Eishockeystadion wird der Gigathlon eröffnet. Wechä Gäggeler kennt fast jeden. Er ist immer gut gelaunt, hat immer gute Sprüche parat. Jeder freut sich, ihn zu sehen. Und jeder richtet als erstes den Blick auf den Bändel. Erstaunt, erfreut, neidisch. Gäggeler wird nervös. Aber er kann beruhigt schlafen - seine Supporter haben alles im Griff.

Gigathleten zelebrieren Leidenschaft zum Sport

Samstagmorgen, 3.30 Uhr. Heute ist Gäggelers Geburtstag. Ein Müesli zum Frühstück. Die lange Inline-Strecke geht in die Beine. Simone Ryser wartet bei der Wechselzone in Altreu, wo sie Gäggeler in den Neopren steckt und ihn motiviert fürs Schwimmen, seine schwächste Disziplin. 9 Kilometer aareabwärts bei schwächster Strömung sind jedoch ein harter Brocken. So weit ist er noch nie am Stück geschwommen. Irgendwann kann er nicht mehr, hält bei einem Boot und fragt, wie weit es noch sei. Er ist erst in der Hälfte.

Michael Aebischer wartet derweil bereits in Solothurn. Mountainbike, Notvorräte, Sonnencreme und Handy liegen in der dicht gedrängten Wechselzone am Boden. Neben Campingstühlen, Rucksäcken und Helmen. Warten ist eine der Hauptaufgaben der 820 Supporter. Stundenlanges Warten, um dann in den entscheidenden Minuten parat zu sein. Aebischer ist jedoch nicht allein. Man kennt sich in der Single-Wechselzone. Man hilft sich aus. Hält zusammen in der mörderischen Hitze. 

Aebischer beobachtet die Singles, die nun zahlreicher in die Wechselzone kommen, um sich gleich wieder mit dem Bike den Weg durchs Gewimmel zu bahnen. Es wurmt ihn nur zuzusehen, wie die anderen Vollgas geben und ihre Leidenschaft zum Sport zelebrieren. Er, der sich seit langem am Biennathlon mit Gäggeler duelliert. Doch der Gigathlon 2012 war für Aebischer kein Thema - er hatte im November seine Achillessehne gerissen. Ein guter Grund, stattdessen seinen Freund zu betreuen.

Dank Supportern kurz abschalten

Und dann kommt er. Aebischer lotst Gäggeler zum seinem Platz im Chaos der Wechselzone. Gäggeler strahlt. Die Schwimmstrecke habe ewig gedauert, sagt er. Raus aus dem Neopren, abtrocknen, Velotrikot an, Schuhe, Trinken, Sonnencreme. Gäggeler setzt sich gelöst auf den Campingstuhl. Plaudert, isst ein paar Nüsse. Er ist zufrieden mit seiner Form. Müde, aber motiviert. Dank seinen Supportern kann der Gigathlet in der Wechselzone kurz abschalten. Und sie sind es, die ihn wieder auf die Piste schicken und es nicht zulassen, dass er in der Wechselzone liegen bleibt.

Aebischer nimmt Gäggelers Bike und die beiden verschwinden im Gewimmel. Vier Stunden wird der Gigathlet für die nächste Etappe haben. Vier Stunden auf und ab, ohne Unterbruch. Und das in der grössten Mittagshitze und zum Teil durch den Morast, bis nach Oensingen. Danach folgen über fünf Stunden auf dem Rennvelo, während die Schnellsten schon lange im Camp am Duschen sind.

Weshalb tut er sich das an? Vielleicht macht er es für sein Ego. Um sich zu beweisen, dass er mit seinen 43 Jahren noch zu so etwas fähig ist. Vielleicht wegen der Anerkennung. Vielleicht ist es die Angst vor dem Älterwerden. Wann, wenn nicht jetzt?, hatte er sich am letztjährigen Gigathlon gefragt. 

Im Ziel ist am Start

Es ist 18 Uhr in Sissach. Gäggeler ist noch auf dem Rennvelo unterwegs. Das Warten geht weiter, zu Swing und Sonne. Es ist nach sieben Uhr, als er eintrifft. Er nimmt es gemütlich, er hat keinen Stress mehr. Das einzige Ziel ist jetzt, noch die letzte Etappe zu schaffen, die 24 Kilometer Laufen. Er lacht noch immer, doch er ist erledigt. Zu hart war die Strecke. Die fiesen Steigungen, immer und immer wieder. Zu heiss die glühende Hitze. Er kann kaum etwas essen und trinken. Aebischer besteht aber darauf, drückt ihm ein Biberli und ein Becher Cola in die Hände. Gäggeler muss sich hinlegen. Er beginnt zu zweifeln, ob sein Traum noch realistisch ist. Aebischer befiehlt ihm, weiterzukämpfen. Aufgeben ist kein Thema. Heute nicht. Aber morgen?

Endlich läuft Gäggeler los. Aebischer würde ihn gerne begleiten. So wie früher, als die Supporter die Gigathleten noch mit dem Bike begleiten und auf der Strecke betreuen durften. Er würde ihn beschwatzen und mit ihm lachen. «Wir hätten es lustig», ist er überzeugt. Nun wird Gäggeler alleine durch den Wald rennen, im Dunkeln  – ohne die dringend nötige Stirnlampe, die im Camper blieb. Er wird daran zweifeln, ob er es noch bis ins Camp schafft. Die Beine wollen sich nicht an den Rhythmus des Laufens gewöhnen. Es ist 23.15 Uhr nachts, als Wechä Gäggeler nach über 17 Stunden im Ziel einläuft, Arm in Arm mit zwei anderen Läufern. Er strahlt, ist glücklich. Aber zuversichtlich ist er nicht. «Morgen könnt ihr ausschlafenl», sagt er seinen Supportern. Unvorstellbar erscheint es ihm, in ein paar Stunden schon wieder loszufahren, das Ganze von vorne. Geburtstagsparty wird es keine mehr geben.

Der Besenwagen im Rücken

Es ist Sonntag. Der blaue Punkt auf dem Tracker bewegt sich vorwärts, es sind Gäggelers Lebenszeichen. Simone Ryser und Michael Aebischer reisen wieder von Wechselzone zu Wechselzone. Sie wechseln sich wie immer ab, damit die Wege mit dem Zug kürzer werden. Von Olten nach Nottwil, über Sursee nach Rothrist, dann nach Oensingen und wieder zurück nach Olten. Dieses Mal nicht durch die Hitze, dafür durch Blitz und Donner. Ein Hagelsturm deckt die Inline-Strecke zu, Bäche fliessen über die Bike-Singletrails. Der blaue Punkt bleibt nie stehen, das ist ein gutes Zeichen. Der zweitletzte Wechsel klappt nicht gut, es regnet in Strömen, Aebischer ist nicht parat. Der Camelbag mit dem Wasser für die Laufstrecke bleibt liegen. Doch Wechä Gäggelers blauer Punkt im GPS kriecht weiter, den Besenwagen im Rücken seinem Ziel entgegen. Seinem Traum, nicht nur einen schwarzen Bändel zu tragen, sondern mit ihm das Ziel vor Wettkampfschluss zu erreichen. Um sich danach noch höhere zu stecken. Seine Supporter erwarten ihn im Dunkeln.

Text und Fotos: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 1. Juli 2012 im Olympiablog und auf www.gigathlon.ch.

Freundschaft statt Ergometer

An den Olympischen Spielen in London 1948 sassen fünf junge Schweizer Ruderer im gleichen Boot und hielten sich für unschlagbar. 64 Jahre später sitzen sich vier von ihnen als alte Herren wieder gegenüber. Und ihre «tiefe Kameradschaft», die ihnen damals Olympiasilber bescherte, ist schlagartig wieder da.

Die Wasserverhältnisse waren gut, ein leichter Gegenwind wehte über das Wasser der Themse bei Henley, im Sommer 1948. Die Boote der Vierer mit Steuermann im olympischen Ruderfinale wurden ins Wasser gesetzt. Am Start waren Amerika, Dänemark und die Schweiz. Die Schweizer gingen sofort in Führung. Vier kräftige Ruderer Mitte zwanzig und ein blonder Jüngling am Steuer. Er schrie den Takt in den Wind und feuerte die Ruderer an.

In der Hälfte führten die «Zürcher Seeklübler» mit einer halben Länge auf Amerika und mit einer ganzen auf Dänemark. «Doch dann legten die Yankees einen langen Zwischenspurt ein», schrieb ein Reporter. Es kam zum Kopf-an-Kopf-Rennen.

Der junge Steuermann nahm das amerikanische Boot im Blickfeld wahr, verzweifelt versuchte er, seine Kameraden zu noch kräftigeren Zügen anzufeuern. Doch das gegnerische Boot zog an ihnen vorbei. «Der Endkampf war hinreissend», stand danach in der Zeitung. «Nach grossem Ringen blieben die Überseer [sic] mit einer halben Länge siegreich.»

Der Schock sass tief bei den fünf Schweizer Ruderern. Dabei hatten sie sich für unschlagbar gehalten. Sie sassen noch ausser Atem im Boot, als ihnen bereits die Silbermedaille übergeben wurde. Sie war in diesem Moment eine einzige Enttäuschung.

Wiedersehen nach 64 Jahren

Das war vor 64 Jahren. Vieles haben Emil Knecht (88), Erich Schriever (87), André Moccand (81) und Rudolf Reichling (87) in dieser Zeit vergessen. Nicht aber diesen Moment, als die Amerikaner kurz vor dem Ziel an ihnen vorbeizogen.

«Ich kämpfte und versuchte noch mehr Dampf zu geben. Ich sah nichts mehr, doch ich ruderte weiter», erzählt Emil Knecht. Seine Augen leuchten. «Wir wollten nur eines: gewinnen», sagt Erich Schriever. Und Steuermann André Moccand habe sich im Ziel «richtig aufgeregt».

Sassen in London 1948 im selben Boot: André Moccand, Emil Knecht, Rudolf Reichling und Erich Schriever (v.l.).

Nun sitzen die ehemaligen Ruderer bei Rudolf Reichling im Esszimmer. Ein jeder von ihnen ist vom Alter gezeichnet. Doch die Erinnerungen sind noch lebendig. Sie sind zusammengekommen, um über die Olympischen Spiele in London 1948 zu erzählen. Um Erinnerungen zu wecken und Andenken auszutauschen. Fotos, die attraktive junge Männer zeigen, Zeitungsartikel, vergilbte Ranglisten, ja gar die olympischen Silbermedaillen und ein blauer Trainer aus Zellwolle liegen verstreut auf dem Tisch neben Speckkuchen und frischem Most. Die Geschichten von damals, die Anekdoten, die Emotionen liegen wie ein Schleier in der Luft. Genauso wie die Gedanken an den fünften im Team, Peter Stebler, der vor wenigen Jahren verstorben ist. 

London 1948 (fast) nur für Amateure

«Die Amerikaner hatten eine sehr starke Mannschaft», sagt Erich Schriever. Man habe sie bewundert, sagt Moccand, «das waren richtige Fetzen!» Die hätten sich aber auch ganz anders auf Olympia vorbereitet. «Die studierten alle und konnten den halben Tag Sport treiben!», sagt Reichling empört. Was damals mit den amerikanischen Studenten begann, ist dem ehemaligen Nationalratspräsidenten und Weinbauer bis heute ein Dorn im Auge: die Professionalisierung des Sports. 1948 galt noch die Klausel von Coubertin, welche Profis an Olympischen Spielen ausschloss. Die Olympioniken mussten unterschreiben, dass sie Amateure waren. «Es war der grösste Blödsinn, diese Klausel abzuschaffen», sagt Reichling, «das ist nicht Sport, wenn jemand den ganzen Tag trainiert und dafür bezahlt wird.» Schriever ist da anderer Meinung. 

Auch für Reichling war Olympia das «höchste Ziel jedes Sportlers». Doch die Arbeit kam zuerst. Als er kurz nach den Olympischen Spielen den Hof des Vaters in Stäfa übernahm, blieb denn auch keine Kraft mehr fürs Rudern übrig. «Gesundheitsrudern war nichts für mich. Ich mag keine halben Sachen.» 

«Extrem gut befreundet»

Die jungen Ruderer des Zürcher Seeklubs waren Athleten aus Leidenschaft. Und sie waren Freunde. «Es verband uns eine enge Kameradschaft», sagt Knecht, der später als Kaufmann arbeitete, «wir freuten uns jedes Mal, ins Boot zu steigen.» Eine eingefleischte Mannschaft, die durch dick und dünn ging. «Das war unser Erfolgsgeheimnis», sagt Schriever. Auch Knecht ist überzeugt, dass es diese Freundschaft war, die das Team so erfolgreich machte. Die sie bereits «als Juniorboot» die Schweizer Olympiamannschaft von 1936 schlagen liess und sie nach London brachte. «Heute werden die Rudermannschaften aufgrund des Ergometers zusammengestellt. Ich behaupte, dass so nie dieses Mannschaftsgefühl aufkommen kann, welches damals  zu unserem Erfolg geführt hatte.»

Dieser Trainer war das einzige Bekleidungsstück, das die Schweizer Olympioniken, hier Rudolf Reichling, nicht selber bezahlen mussten.

Und dann packen sie ihre besten Geschichten aus. Etwa jene von Knecht und Stebler, die am Vortag eines Wettkampfs wegen einer Frau ihr Boot im Wasser vergassen und es am nächsten Tag nirgends mehr fanden. Oder jene von Reichling, der in neuen Wettkampfunterkünften regelmässig auf die Betten der anderen hechtete und diese demolierte, um sie danach brav wieder zu flicken.

Vier Freunde ohne Steuermann

Die Freunde hatten sich schon früh gefunden. Politikersohn Reichling, der spätere Architekt Schriever und Peter Stebler gingen in dieselbe Mittelschule. Ihr Turnlehrer war Ruderer und spornte das Trio an. Emil Knecht kam später dazu: «Ich ging immer einen anderen Weg als alle anderen», sagt er mit einem breiten Lachen auf dem Gesicht. 

Wegen Schwierigkeiten in der Schule kam Knecht in ein «Institut zum Nachstudieren». Eigentlich war er Velorennfahrer. Doch dann nahm ihn ein Bekannter mit zum Rudern. Im Seeklub befreundete er sich «ganz eng» mit Peter Stebler. So eng, dass sie später sogar zwei Schwestern heirateten. Es war diese Freundschaft, die Knecht vom Velorennfahrer zum Ruderer und «dem Rekruten im Team» machte.

Knecht hatte einen Trumpf: «Das ,Bibi‘, sein Auto», sagt Reichling. «Er wusste sogar, wie man den Kilometerzähler ausschaltet, damit sein Vater nicht sah, wie viel Benzin wir verbrauchten!»Knecht lacht laut los mit seiner leisen und glucksenden Stimme. Mit einem Schlag spürt man, was die Männer in jungen Jahren verbunden hatte. Man spürt ihre Lebenslust und den Teamgeist. Die jugendliche Sorgenlosigkeit und Unbeschwertheit. Und die tiefe Freundschaft, die sie damals verband. Vier Freunde, die ruderten statt sich in Krieg und Schrecken zu verlieren.

Genau 50 Kilo Steuermann

Das Boot des Zürcher Vierers war schnell. Bei der olympischen Hauptprobe, der berühmten Henley-Regatta, scheiterten die Ruderer jedoch. Zu eng war der Kanal ohne Steuermann. Der Ruderverband machte sich deshalb auf die Suche nach einem fünften Teammitglied. An den nächsten Schweizermeisterschaften wurde der 17-jährige André Moccand, der erst zwei Jahre zuvor mit Rudern begonnen hatte, vom Speaker aufgerufen. Ahnungslos wurde er gewägt. 50 Kilo, das war perfekt. Die Verbandsherren eröffneten ihm, er werde in Kürze an den Olympischen Spielen in London das Steuer übernehmen.

Sie nahmen Moccand mit zu den Trainings auf dem Stausee in Wettingen, auf dem die Limmat ein ähnliches Fliessverhalten aufwies wie in Henley. Er blieb jedoch immer «der Kleine» im Boot, der sich seinen Platz in der «eingefleischten Mannschaft» erkämpfen musste. 

Für Moccand war es «ein gewaltiges Ereignis», an den Olympischen Spielen teilnehmen zu dürfen. Auf den vergilbten Kartonseiten mit sorgfältig eingeklebten Zeitungsartikeln, Ranglisten und Fotos haftet noch der Stolz des jungen Laboranten-Lehrlings an. Auf einer Seite ist die Abbildung eines Swissair-Flugzeugs eingeklebt. «Mit dem Flugzeug nach London! Das war etwas», erinnert sich der spätere Chemiker und Politiker. 

Der erste «Televisor»

In London logierten die jungen Ruderer wie Fürsten. Während die anderen 27 Rudernationen in Armeeunterkünften und Turnhallen untergebracht waren, wohnten sie dank guten Beziehungen sehr nobel als Gäste im Hause Gilette – dem Chef des gleichnamigen Unternehmens. «Er schenkte sogar jedem von uns einen Rasierapparat!», erzählt Knecht. Auch Schriever erinnert sich: «Es war ein wunderbares Haus in der Nähe der Themse. Mit kurzgeschnittenem Rasen bis hin zum Wasser, typisch englisch eben.»

Vor und nach den Wettkämpfen genossen sie die freie Zeit im guten englischen Hause. Im Garten, wo sie erstmals einen «Televisor» laufen sahen. Oder in einem «netten Beizli», wo man ein «Spiel mit Pfeilen» spielte. Sie tranken im Garten Whiskey und gossen damit die Blumen, wenn sie dabei gestört wurden. Schliesslich hatten sie sich verpflichtet, während Olympia keinen Alkohol zu trinken und nicht zu rauchen. Die schönen Blumen im Garten Gilettes seien im Verlauf der Olympischen Spiele leider eingegangen, sagt Knecht. 

Prinzessin Elisabeth, die Schöne

Für die fünf Schweizer Ruderer unterschieden sich die Olympischen Spiele nicht stark von einer anderen Regatta. «Es war ein grosser Vorteil, so gediegen zu wohnen», sagt Schriever. Zu anderen Olympioniken hatten sie jedoch keinen Kontakt. Von der Eröffnungs- und der Schlussfeier sowie von anderen Sportarten bekamen sie nichts mit. Auch die Stadt bekamen sie nie zu Gesicht. 

Dafür sahen sie Prinzessin Elisabeth, die heutige Königin Englands. «Sie war im Motorboot gekommen, um unser Rennen zu sehen!», erzählt Reichling. Knecht lacht: «Sie hat mir sehr gut gefallen!»

Die vier Herren geniessen es, sich an ihre Jugend zu erinnern. Und Moccand, der seine Kameraden seit über 60 Jahren nicht mehr gesehen hat, ist die Freude ins Gesicht geschrieben. Er nimmt die Medaille hervor, ein schönes, schweres Stück Silber, Olympia und die griechischen Helden sind darauf abgebildet. Sie erhielten sie ohne Hymne oder Feier. Damals sei man noch nicht als Sieger gefeiert worden. Damals ging es laut Coubertin schliesslich ums Mitmachen, nicht ums Siegen. 

«Man denkt gerne daran.» Mehr nicht.

Zurück in der Schweiz kam ein Gratulationsschreiben des Militärdepartements. Der Zürcher Seeklub machte eine kleine Siegesfeier. Und hie und da rief danach eine Schule an und wollte sich eine der Medaillen ausleihen. 

Keiner der fünf Ruderer vergass je, dass er in jungen Jahren an den Olympischen Spielen teilgenommen hatte. Bis heute erhalten sie Post von Olympiasammlern, die eine Unterschrift von ihnen wollen. Und sie sind stolz, als Medaillengewinner im Olympischen Museum in Lausanne verewigt zu sein. Ihr Leben haben die Spiele jedoch nicht geprägt. «Man denkt gerne daran», sagt Schriever. Mehr nicht.

2012 finden die Olympischen Spiele in London statt – nach 1908 und 1948 bereits zum dritten Mal. Wir haben uns auf die Suche nach den Schweizer Olympioniken von London 1948 gemacht. Und haben einige von ihnen besucht.

Bereits erschienen ist der Beitrag über Turmspringer Ernst Strupler. Lesen Sie auch das Porträt der Schwimmerin Liselotte Kennel-Kobi.

Bilder: Manuela Ryter und zvg

Anmerkung: Dieser Text wurde für den Olympiablog verfasst.

«Wir haben gefroren in London»

An den Olympischen Spielen in London 1948 flog und fror Turmspringer Ernst Strupler um die Wette. 40 Jahre später noch bestieg der damals 70-Jährige den 10-Meter-Turm. Nun macht er seine waghalsigen Sprünge nur noch mental – dafür umso perfekter.

Es war kalt im Sommer 1948. Es war einer der kältesten Sommer überhaupt, an die sich Ernst Strupler erinnern kann. Und das sind doch immerhin ein paar, mit seinen 94 Jahren. Es war so kalt, dass das Schwimmbad in Baden, in dem der damals knapp 30-Jährige seine kunstvollen Sprünge vom 10-Meter-Turm trainieren konnte, geschlossen blieb. Strupler bekam einen Schlüssel und trainierte trotzdem. Für einmal nicht beobachtet von vielen jungen Frauen, die der athletische Mann mit den blonden Locken sonst mit Doppelsalti und komplizierten Schrauben- und Handstandsprüngen beeindruckte, sondern im leeren Bad unter Aufsicht seiner Frau.

«Sie sass am Bassinrand, mit unserem Ältesten im Kinderwagen – für den Fall, dass mir etwas passiert wäre», erinnert sich Strupler und lacht verschmitzt. Es ist ein schüchternes, fast zahnloses Lachen. Passiert ist dann zum Glück nichts Aussergewöhnliches. «Ausser dass mein Sohn bei jedem Sprung herzzerreissend schrie und erst aufhörte, wenn ich wieder auftauchte.» 

Auch im kriegsversehrten London war es kalt. Durch den «Wembley Empire Pool», die olympische Schwimmhalle unmittelbar neben dem riesigen Stadion, zog ein eisiger Wind. «Wir haben gefroren», sagt Ernst Strupler. Dies ist die stärkste Erinnerung, die er an die Olympischen Spiele von 1948 hat. Mit Zug, Schiff und Bus waren die 165 Athleten und sieben Athletinnen der Schweizer Delegation an die Spiele gereist. Für den jungen Turmspringer sollten sie zur grossen Enttäuschung werden. Der mehrfache Schweizermeister, der es gewohnt war zu den Besten zu gehören, erreichte in London nur den 25. Rang. 

«Miserable Umstände»

In London war alles anders, als es der talentierte junge Schweizer gewohnt war. «Die Umstände waren miserabel», sagt Strupler heute, 64 Jahre später. Zwar gelangen ihm in der ersten Runde «ordentliche» Sprünge. Der «Handstand Durchschub» etwa oder der «fliegende Doppelsalto». Die Schweizer Schwimm-Delegation sei aber schlecht vorbereitet gewesen, «eine völlige Nietenbande!».

Und so kam es, dass die Athleten anderer Nationen bequem mit dem Auto an die Spielstätten chauffiert wurden, Ernst Strupler und Willy Rist, der zweite Schweizer Turmspringer, hingegen in aller Frühe mit der «Untergrund» anreisen mussten. Einen Beutel Milch und ein Stück Brot, am Abend zuvor beim Nachtessen entwendet, im Sack. «Dabei hätte ich mich doch gerne vor dem Wettkampf aufgewärmt und ein paar Sprünge gemacht!» 

Ernst Strupler mit seinem Sohn Ueli.

Ernst Strupler mit seinem Sohn Ueli.

Vergessen hat er das bis heute nicht. Auch nicht, dass er mit den Österreichern, den einzigen Athleten, die er in London kannte, hätte mitfahren können. Doch deren Delegationschef sei mit jenem der Schweizer zerstritten gewesen und habe ihm die Mitreise verweigert. Auch während des Wettkampfs war niemand da für die zwei Schweizer. Die ungewohnt langen Wartezeiten machten dem ehrgeizigen Athleten mental zu schaffen. Sein Unverständnis gilt noch heute dem damaligen Delegationschef der Schweizer Schwimmer, der es laut Strupler unterlassen hatte, für seine Athleten zu sorgen. «Er ging lieber ins Pub, als uns zu betreuen.»  

Ernst Strupler schüttelt den Kopf. Er, der heute im Altersheim in der Nähe von Bern ein sonniges Zimmer bewohnt und manchmal tagelang nicht redet, kommt richtig in Fahrt, obwohl er nur noch leise und langsam sprechen kann. Man spürt den Kampfgeist, der den ehemaligen Spitzensportler und leidenschaftlichen Turnlehrer früher antrieb. Der ihm sogar einen Prozess bescherte, weil er am Ende der Olympischen Spiele gegen besagten Delegationschef aufmüpfig wurde und statt an einem Länderwettkampf teilzunehmen ohne Pass und Geld die Rückreise in die Schweiz antrat. Doch davon später.

Mit dem Ägypter in der Badewanne

Denn da war noch das mit den Badewannen. Jenen Wannen, die andere Nationen für ihre Athleten mieteten. In denen die Athleten dann in den langen Wartezeiten sassen und sich aufwärmten. Die Schweizer hatten keine Badewanne, «auch das hat der Delegationschef versäumt», sagt Strupler. «Die anderen Athleten badeten und wir Schweizer standen da und schlotterten.» Irgendwann hatte ein Ägypter Mitleid und lud Strupler in seine Badewanne ein. Er blieb einer der wenigen Athleten, die Strupler während den Spielen kennenlernen durfte. 

Vom olympischen Geist, vom völkervereinenden Mythos, der die Olympischen Spiele bis heute umgibt, sei nicht viel zu spüren gewesen. Dabei hatte sich Strupler, der leidenschaftliche Turnlehrer und Trainer, der sich sogar in seiner Dissertation mit Sport und Olympia befasst hatte, darauf fast am meisten gefreut.

Die Amerikaner sprangen schöner

Dafür kam der ehrgeizige Athlet in London mit einem anderen Phänomen in Berührung: den Amerikanern. Noch nie zuvor hatte er die Amerikaner springen sehen. Und als er dann in London in der ersten Wettkampf-Runde zuschaute, wie unglaublich elegant und schön die Amerikaner vom Turm sprangen, wie präzise sie Absprünge und Rotationen ausführten, so anders und so viel perfekter als die Europäer, war er fasziniert. Die Amerikaner waren eine andere Dimension. 

«Und dann machte er seinen grössten Fehler», erzählt Ueli Strupler, der älteste Sohn, dem der Olympionike während seines langen Lebens viele seiner Geschichten anvertraut hat: «Statt sich zwischen der ersten und der zweiten Runde zu erholen, trainierte er.» Er wollte so gut wie die Amerikaner springen, war übermotiviert. Und scheiterte. Beim «Doppelsalto rückwärts gehechtet» erhielt er eine Null. Der elfte Rang aus der ersten Runde ging verloren.

«Zeitlebens hat er danach als Trainer gepredigt, dass man kurz vor oder während eines Wettkampfs nicht mehr trainiert», sagt der Sohn. Und noch heute ist der alte Mann fasziniert davon, mit welch professionellem Team die Amerikaner damals antraten. Strupler streicht sachte und stolz über das Foto, das ihn mit dem Olympiasieger Sammy Lee zeigt. «Der kam mir bis zur Achselhöhle!», sagt Strupler, «er sprach mich an und fragte mich, ob ich Ringer sei – gross und muskulös wie ich war.» Beide wurden sie in London dreissig Jahre alt.

Rückreise ohne Pass und ohne Geld

London 1948 waren die ersten Spiele der Nachkriegszeit. Deutschland und Japan durften nicht teilnehmen, die UdSSR verzichtete. Strupler, der im Militär Fünfkampf trainiert hatte und somit auch während des Kriegs immer viel Sport machen konnte, erinnert sich jedoch nicht an die zerbombte Stadt. Dafür umso besser an seine abenteuerliche Heimreise von den Spielen: Mit der Delegation ging er weiter nach Amsterdam. Strupler weigerte sich vor dem Wettkampf, «auch nur einen weiteren Tag» unter dem verhassten Delegationschef zu starten. Doch dieser gab Geld und Pass für die Rückreise nicht heraus.

Strupler setzte sich trotzdem ab. Auf einer «Rundfahrt durch die Kanäle» pumpte er eine Schweizerin an. Durch sie kam er zu einem Hotel-Pianisten, der Geld in die Schweiz transferieren wollte. Und tatsächlich: Der Pianist vertraute Strupler sein Geld an und dieser konnte damit in die Schweiz reisen. «Dank der Olympia-Uniform und meinem Armee-Ausweis kam ich auch ohne Pass weiter.» Der alte Mann schüttelt den Kopf, als könne er die Geschichte heute noch nicht glauben.

Der Sport lebt im Kopf weiter

Strupler räuspert sich, er rückt seinen gelähmten Arm zurecht, versucht sich im Rollstuhl aufzurichten. London 1948 rückt plötzlich in weite Ferne. Doch dann blitzt es in seinen Augen auf. In Peking 2008, sagt er, dort sei er viel besser gewesen. In Peking habe er vier Goldmedaillen geholt. Er sagt es mit Stolz.

Ernst Strupler hat sein Leben dem Sport gewidmet. Er hat den Sport gelebt. Und als Spitzensportler und Politiker für den Breitensport gekämpft. Als erster Sportprofessor der Uni Bern baute er dort das Sportinstitut auf und arbeitete gleichzeitig mit voller Leidenschaft als Turnlehrer. Er war Sportdirektor der Stadt Zürich. Und er nahm noch als 70-Jähriger, als er wegen Hüftproblemen kaum mehr gehen konnte, auf dem 10-Meter Anlauf, um einen seiner Sprünge zu zeigen (und wurde mit seiner veralteten Springmanier als «Acapulco-Springer» berühmt). Seine Frau war Turnlehrerin. Und auch seine sechs Kinder wurden mit einer Ausnahme alle Turnlehrer.

Und alle – ausser Ueli, dem Ältesten, «wahrscheinlich von den Olympia-Vorbereitungen des Vaters traumatisiert» – wurden sie Turmspringer. Wie auch viele der Enkelkinder. Sport war der rote Faden in seinem Leben. Strupler bildete gar als 80-Jähriger noch Turmspringer aus und schlief mit ihnen im Trainingslager im Massenlager. Bis ihn ein Hirnschlag aus seinem bewegten Leben katapultierte und kurz darauf ein schwerer Autounfall ihn endgültig an den Rollstuhl fesselte. 

Seither übt der belesene Mann seine sportlichen Abenteuer im Kopf aus. Er besteigt den Himalaya. Er nimmt in Peking an den Olympischen Spielen teil und gewinnt vier Medaillen. Wehe, wenn jemand sagt, dass er das nur erfunden hat. Er kann sich an jedes Detail erinnern. Ist dies die Verwirrung eines alten Mannes? Vielleicht. Oder ist es die Überlebensstrategie eines vom Alter gezeichneten Spitzensportlers und Bewegungsmenschen? Wohl eher. Aber das spielt eigentlich keine Rolle. Es ist die Leidenschaft für den Sport, die zählt.

Strupler wird nie aufhören mit Turmspringen. «Es ist eine schöne Sportart. Sie verlangt Mut und Körperbeherrschung. Das Fliegen ist einfach schön. Und die Angst, die macht es gerade aus: Man macht den Sprung trotzdem und ist danach zufrieden mit sich selbst.» Welche Sprünge Ernst Strupler wohl für London 2012 geplant hat?

Mehr Informationen zu Ernst Strupler, der die Entwicklung des Sports in der Schweiz mitgeprägt hat, lesen Sie in seiner Biographie.

2012 finden die Olympischen Spiele in London statt – nach 1908 und 1948 bereits zum dritten Mal. Wir haben uns auf die Suche nach den Schweizer Olympioniken von London 1948 gemacht. Und haben einige von ihnen besucht.

Lesen Sie auch den Artikel über die fünf Ruderer, die in London 1948 dank enger Kameradschaft Silber gewonnen haben. Oder das Porträt über die Schwimmerin Liselotte Kennel-Kobi.

Bilder: Manuela Ryter und zvg

Anmerkung: Dieser Artikel wurde für den Olympiablog verfasst.

«Ich liebe die Geschwindigkeit»

Mit feinsten Körperbewegungen bringt «Swiss Olympic Top Athlete» Martina Kocher ihren Rodel auf Geschwindigkeiten bis zu 140 Stundenkilometern. Und sie wird immer schneller: Die 25-jährige Bernerin kommt der Weltspitze mit jedem Rennen etwas näher.

Martina Kocher ist jung, hübsch und vor allem: schnell. Mit ihrem Rodel jagt sie mit weit über 100 Stundenkilometern den Eiskanal hinunter. Und wäre sie nicht Rodlerin geworden, dann wahrscheinlich Skirennfahrerin. Oder sie hätte sich dem Motorsport gewidmet. Denn: «Hauptsache schnell», sagt die 25-Jährige. So sei sie schon immer gewesen – ob im Rodel oder auf den Ski.

Auf dem Rodel muss Kocher mit kleinsten Bewegungen auf die Geschwindigkeit reagieren können: «Ich muss sie fühlen», sagt die Bernerin. Es sei ein «cooles» Gefühl, so schnell im Eiskanal unterwegs zu sein: «Man spürt den Druck in jeder Kurve und nimmt den Zug mit – ich kann die Geschwindigkeit richtig geniessen.»

«Immer so ehrgeizig»

Kocher sitzt in einem Stadtcafe in Bern. Sie liebe die Berner Innenstadt. Die Gassen und Lauben. «Ich könnte mir nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu wohnen.» Dabei ist Martina Kocher immer auf Achse. Seit sie als 15-Jährige alles auf die Karte Sport setzte, lebt sie aus dem Koffer. Offiziell wohnt sie in Hinterkappelen bei Bern. Als Zeitsoldatin trainiert sie in Magglingen (siehe Kasten). Und seit 10 Jahren trainiert sie zusätzlich mit den deutschen Rodlerinnen im Militärsportzentrum in Oberhof in Deutschland. Und im Winter zieht sie von Rennen zu Rennen. Die Tage in Bern sind rar.

Am Tag zuvor flitzte Kocher an den Weltmeisterschaften in Turin auf den achten Rang, das zweitbeste Resultat ihrer Karriere. «Zuerst war ich enttäuscht», sagt sie, «im Training war ich überzeugt, dass der vierte bis sechste Rang drin liegt.» Aber eigentlich sei der achte Rang «ganz ok», sagt sie und fügt fast entschuldigend an: «Man ist halt immer so ehrgeizig.»

Kocher gegen Goliath

Im Rennzirkus kämpft Kocher gegen Goliath: die Deutschen, ihre Trainingskolleginnen und seit langem die Leaderinnen im Rodeln. Aber eigentlich kämpfe sie – im Gegensatz zu den restlichen Rodlerinnen – mit den Deutschen, nicht gegen sie, sagt die Start-Spezialistin: «Sie sind mein Team und meine Freundinnen, ich fiebere immer mit ihnen mit.» Allerdings mit einem klaren Ziel vor Augen: Sie eines Tages zu schlagen.

Diesem Ziel kommt Kocher immer näher. Im Training hat sie die Deutschen schon mehrmals geschlagen. Und im Januar zeigte sie am Weltcuprennen in Oberhof mit dem fünften Platz, dass man an der Spitze schon bald mit ihr rechnen muss. Technisch ist sie den Besten schon jetzt häufig überlegen. Wäre sie zehn Kilo schwerer, würde sie im Eiskanal schon lange wie in Juniorinnenjahren um die Podestplätze fahren. Denn eine perfekte Rodlerin ist gross, schmal und schwer. Kocher ist gross, schmal, aber sie ist ganz klar das Leichtgewicht unter den Rodlerinnen. Für eine gute Zeit muss sie besser fahren und darf sich weniger Fehler erlauben. Sie habe noch viel Potenzial, sagt Kocher. Und genau das sei ihr Antrieb, nicht die Medaillen: «Ich will mich stetig verbessern.» Bis Sotschi 2014 vergehen immerhin noch drei Jahre. Es wären ihre dritten Olympischen Spiele.

Karriere nur dank Zusammenarbeit mit deutschem Team

Für Kocher ist klar: Ohne das deutsche Team wäre sie nicht dort, wo sie heute ist. Dank des Engagements des Internationalen Rodlerverbandes übernehmen grosse Nationen Patenschaften für kleine Nationen – und trainieren sozusagen ihre Konkurrenz. Kocher, die das Zimmer jeweils mit Olympiasiegerin Tatjana Hüfner teilt, profitiert dank der Integration ins deutsche Team von perfekter Infrastruktur und Know-how. Denn in Deutschland ist Rodeln eine traditionell beliebte Sportart mit viel Ansehen. Es gibt viele Nachwuchsathleten und immer wieder Ausnahmetalente. Und wenn ein Talent entdeckt ist, kommt es schon im frühen Alter ins staatliche Fördersystem, welches «bis aufs Letzte ausgereizt wird», sagt Kocher: «Die Grundvoraussetzungen, damit ein Talent sich entfalten kann, sind vorhanden.»

Und dies ist im Rodelsport entscheidend. Denn ganz anders als im Bobsport, zu dem ein Sportler auch noch mit 25 wechseln kann, muss ein Talent bereits im Kindesalter voll aufs Rodeln setzen. Es brauche enormen Aufwand, um die Sensibilität, mit der der Rodel gesteuert wird, aufzubauen, sagt Kocher: «Ich zucke ganz leicht mit der Schulter und der Rodel reagiert.» Rodeln sei deshalb mit dem Skisport vergleichbar. Nur dass das Rodeln weniger gefährlich sei: «Bei uns fliegt bei einem Sturz nicht gleich alles durch die Gegend.» Das Handeln der Organisatoren vor dem tödlichen Unfall des Rodlers während den Olympischen Spielen in Vancouver sei «massiv fahrlässig» gewesen, sagt Kocher – die besten Athleten der Welt hätten schon lange im Vorfeld auf die Gefahr der zu schnellen Bahn hingewiesen und Verbesserungsvorschläge erarbeitet. «Wir wurden jedoch ignoriert.»

Weinend in den Eiskanal

In der Schweiz ist Rodeln eine Randsportart. Zum Rodeln komme man nur durch Beziehungen, sagt Kocher. So war ihr Vater Bobfahrer und später Trainer der Rodler. Als sie neun Jahre alt war, nahm er sie mit an ein Rennen. Das aufmüpfige Mädchen forderte sogleich: «Ich will auch!» Und der Vater nahm sie ernst. Noch am gleichen Tag organisierte er eine Rodelfahrt für seine Tochter. «Als ich dann oben stand und in den Eiskanal hinuntersah, begann ich zu weinen und wollte nicht mehr», erzählt Kocher lachend. Doch der Vater akzeptierte den Rückzieher nicht, setzte sie in den Schlitten und liess los. «Noch während der Fahrt wichen die Tränen einem Strahlen», erzählt Kocher. Sie wollte mehr. Seither hatte sie im Eiskanal nie mehr Angst. Seither ist Rodeln ihr Leben.

Auch heute muss Kocher für ihre Karriere kämpfen. Während ihre Freundin Tatjana Hüfner «alles auf dem Silbertablett serviert bekommt» und in ihrem Alltag kaum Entscheidungen treffen muss, organisiert Kocher ihren Trainings- und Wettkampfalltag selbst. Auch in finanzieller Hinsicht. Dafür sei sie sich «die Belastung des Alltags gewohnt», sagt Kocher, die 2009 ihr Sportstudium abgeschlossen hat und seither in ihrer trainingsfreien Zeit wochenweise arbeitet. Diese Belastung sei auch ein Vorteil, sagt sie: «Ich werde nicht auf die Welt kommen, wenn ich nach meiner Sportkarriere ins Berufsleben einsteige.»

Mehr Unterstützung seit Vancouver 2010

Seit den Olympischen Spielen in Vancouver 2010 sei vieles einfacher geworden, sagt Kocher: «Ich spüre viel mehr Anerkennung aus der Schweiz.» Dank dem Olympiadiplom – in Turin 2006 hatte sie es um nur 18 Tausendstelsekunden verpasst – wird sie heute als «Swiss Olympic Top Athlete» finanziell unterstützt. Und der Schweizerische Bobsleigh-, Schlitten- und Skeletonverband hat jemanden angestellt, der ihr viel Organisatorisches abnimmt.

Ein weiterer Meilenstein ist für Kocher die 50-Prozent-Anstellung als Zeitsoldatin in der Schweizer Armee (siehe Kasten). Damit ist Kocher gewissermassen eine der ersten «Berufssportlerinnen» der Schweiz – ein Luxus, sagt sie. Denn schiessen und durch den Dreck robben musste sie nur während der Spitzensport-RS. Nun heisst Militär für sie Trainieren. Zum Glück, sagt sie, denn sie habe enorme Angst vor dem Schiessen, einzig einrücken müsse sie in Uniform. «Die RS war sehr ungewohnt – und trotzdem war ich am Schluss stolz, meine Angst überwunden zu haben.» 

​Dieses Porträt erschien im Olympiablog von Swiss Olympic.

Text und Porträtbilder: Manuela Ryter

«Das Glück liegt häufig auf meiner Seite»

2004 wurde Nino Schurter Junioren-Weltmeister, in Peking holte er nun Bronze. Der Weg des 22-jährigen Bikers führt steil nach oben. Dank viel Talent, Glück und angemessener Förderung.

Nino Schurter sitzt im «Café Maron», direkt am Bahnhof in Chur, auf einer mit Seide überzogenen Bank. Neben ihm nippen alte Damen an ihren Cappuccinos und stecken ihre Gabeln tief in klebrig-süsse Kuchen. In grau-schwarz gestreiftem Hemd sitzt er da, die blonden Haare elegant zur Seite gekämmt. Hübsch, jung, bescheiden und stets mit dem Lächeln des netten Jungen von nebenan im Gesicht. 

Der Medienrummel der letzten Wochen hat Schurter ein professionelles Auftreten gelehrt. Seit er im August in Peking beim Cross Country-Rennen vor dem zehn Jahre älteren Landsmann Christoph Sauser als Dritter ins Ziel kam und die einzige Schweizer Medaille der Biker in Empfang nahm, ist Schurter ein gefragter Mann. Überall soll der laut Presse «talentierteste Biker der Welt», der bereits als Nachfolger des französischen Seriensiegers Julien Absalon gefeiert wird, mit dabei sein. «Das ehrt mich natürlich», sagt Schurter. Doch das Leben geht für ihn auch nach einer Olympiamedaille weiter wie bisher. London 2012 wartet.

Wenn Nino Schurter in London Gold holt, wird dies niemanden überraschen. Zu steil ging sein Weg stets nach oben, als dass ihm jemand diesen Exploit nicht zutrauen würde. Aufs Bike sass Schurter bereits als kleiner Junge, damals in Tersnaus, einem winzigen Dorf in den Bündner Bergen. Wie sein Bruder fuhr er erst einmal Skirennen, wie das die meisten sportlichen Kinder in einem Bergdorf tun. Im Sommertraining ging es auf dem Velo in die Berge und bald brausten die Schurter-Brüder auf Bikes statt auf Skis die Berge hinunter. «Wir hatten von Anfang an Erfolg.»

Auch sein Vater liess sich vom Bike-Virus anstecken. In die Ferien ging die Familie Schurter fortan nicht mehr ans Meer, sondern mit dem Bike in die Berge Italiens. Ninos Bruder wechselte später nach einem Unfall zum Downhill, sein Vater ist noch heute Trainer der Schweizer Downhill- Nationalmannschaft.

Viel Training dank Sportlerlehre

Als 16-Jähriger entschied sich Schurter für den Spitzensport. Er verliess sein Elternhaus und zog nach Bern, um dort eine Sportlerlehre zum Mediamatiker zu absolvieren, einer Mischung aus IT, Kaufmännischer Ausbildung und Multimedia-Design. Drei Jahre lang ging er Teilzeit in dieBerufsschule, die ihm viel Zeit fürs Training ermöglichte. Anschliessend machte er ein zweijähriges Praktikum bei einer Werbeagentur, bei der er für die Werbeunterlagen seines Teams, dem Swisspower MTB-Team, zuständig war. «Mein Teamchef war somit indirekt auch mein Chef und sorgte dafür, dass ich genügend zum Trainieren kam», sagt Schurter schmunzelnd.

Der Einsatz zahlte sich bald aus: 2004 wurde Schurter bei den Junioren Welt- und Europameister, als 19-Jähriger Dritter bei der U23-WM und ein Jahr später holte er die U23-Welt- und Europameistertitel, seither ist er in dieser Kategorie fast ohne Konkurrenz. Auch bei den Weltcuprennen in der Elite fährt er seit zwei Jahren vorne mit. Und nun die Olympiamedaille. Nino Schurter, der seit seinem Lehrabschluss vor einem Jahr und der Spitzensport-RS im vergangenen Winter Profibiker ist, sieht der Zukunft zuversichtlich entgegen. «Bisher war das Glück häufig auf meiner Seite.» Er hoffe, dass ihm nun auch der Anschluss an die Elite gelinge.

Erfolg nur dank Unterstützung

Schurters sportliche Laufbahn gleicht einer Bilderbuchkarriere. Während in der U23-Kategorie viele seiner einst genauso talentierten Kollegen den Sport wegen ausbleibender Erfolge an den Nagel hängten, geht der Rätoromane seinen Weg nach oben. Die Medaille in Peking war nun die Krönung. Dabei wäre er schon mit einem Diplom überglücklich gewesen, sagt Schurter. Er sei nicht mit dem einzigen Ziel, Gold zu holen, an den Start gegangen. «Ich habe noch viel Zeit», sagt Schurter. Wenn alles gut laufe, wolle er noch mindestens zwei Mal an Olympischen Spielen teilnehmen. Denn sein Potenzial sei noch nicht ausgeschöpft: «Ich weiss, dass mein Körper noch stärker werden kann, das gibt mir Sicherheit.»

Aber im Sport müsse alles stimmen, damit man Leistungen zeigen könne. Bisher habe er viel Glück gehabt. Er habe sich nie schwerwiegend verletzt und sei stets grosszügig unterstützt worden: In erster Linie durch seine Eltern und Grosseltern, aber auch durch Swiss Olympic, die Sporthilfe und den Club Sport Heart. Heute könne er gut vom Sport leben. «Aber gerade in den Junioren-Jahren war die Förderung enorm wichtig», sagt Schurter. Auch habe ihm die Sportlerlehre ermöglicht, eine gute Ausbildung zu machen, viel zu trainieren und trotzdem Zeit für Freunde und seine Freundin zu haben.

Er gehe auch mal aus, fahre häufig Ski oder spiele ab und zu Golf. Dieser Ausgleich sei ihm immer wichtig gewesen. «Hätte ich eine normale Lehre machen müssen, wäre ich wohl nicht beim Spitzensport geblieben», sagt Schurter, «ich wäre nicht bereit gewesen, für den Sport alles aufzugeben.» Der Spass sei ihm immer sehr wichtig gewesen. Er kenne Athleten, die morgens um sechs Uhr trainierten, dann den ganzen Tag im Lehrbetrieb arbeiteten und abends wieder aufs Bike stiegen. «Das hätte ich nicht lange gemacht. Ich bin nicht der Typ dazu.»

«Nachwuchsförderung könnte noch besser werden»

Die Nachwuchsförderung könnte laut Schurter aber noch besser werden. Denn es sei wichtig, dass es einem gut gehe. «Der Kopf ist zentral im Sport. Wenn dort etwas nicht stimmt, kann man noch so gut in Form sein, erfolgreich ist man nicht.» Die Doppelbelastung mit Sport und Beruf, die eine normale Lehre mit sich bringe, berge die Gefahr, sich zu überfordern, und bei Sportlerausbildungen seien die Möglichkeiten in der Berufswahl eingeschränkt. Doch eine gute Ausbildung sei wichtig, da der Sport viel zu unsicher sei. «Ich habe sehr früh auf den Sport gesetzt und es hätte auch anders kommen können: Man weiss nie, ob man den Anschluss an die Elite schaffen wird.»

Hätte er es nicht geschafft, hätte er ein paar Jahre verloren, da die Sportlerlehre etwas länger dauerte, aber wenigstens eine gute Ausbildung gemacht. Auch die Weiterbildung sei ihm wichtig, sagt Schurter, er werde jeweils im Winter Zeit dafür investieren. «Man muss als Sportler auch an ein Leben nach dem Sport denken.» Denn man wisse nie, wann man die Leistungen nicht mehr erbringe oder wegen einer Verletzung aufhören müsse. Er wolle sich in Richtung Marketing weiterbilden. «Ich kann mir vorstellen, später einmal in der Velobranche tätig zu sein.» Aber das sei noch so weit weg. Nur weil Schurter nun bereits eine Olympiamedaille im Palmarès hat, ist sein sportlicher Ehrgeiz noch lange nicht versiegt.

Dieses Porträt erschien am 27. Oktober 2008 im swiss sport 5/08, Magazin von Swiss Olympic.​

Text: Manuela Ryter

«Wir waren damals auch Muskelprotze»

Er war einer der kräftigsten Turner und der beste an den Ringen: Karl Frei gewann vor genau 60 Jahren Olympiagold in London. Während er im Fernsehen die Kunstturner in «Beijing» kritisch beobachtet, erzählt der 91-Jährige, wie er die ersten Spiele nach dem Zweiten Weltkrieg in Erinnerung hat.

Zwei Chinesen und sechs Europäer seien im Finale der Ringe-Turner in Peking, berichtet der Kommentator am Fernsehen während der Live-Schaltung aus Peking. Schweizer sind keine dabei. Die Zeiten, als die Eidgenossen im Turnen noch auftrumpften, sind lange her. Karl Frei sitzt gemütlich in seinem Sessel vor dem Fernseher, über dem ein grosses Plakat von den Olympischen Spielen 1948 hängt. «Gleich drei Goldmedaillen haben die Schweizer Turner aus London heimgebracht», sagt der rüstige, 91-jährige Mann.

Frei zeigt auf die Bilder an der Wand in seinem Einfamilienhaus in Regensdorf, wo er seit seiner Kindheit lebt. Auf einem der alten Fotos ist ein Turner mit angespanntem Gesicht zu sehen, die Hände fest an die beiden Ringe gekrallt, die Beine waagerecht nach vorne gerichtet, die Muskeln der Arme aufgebläht und eisern. «Das bin ich», sagt Frei stolz. Ja, kräftig sei er tatsächlich gewesen – einer der kräftigsten Turner überhaupt. Deshalb sei er schliesslich auch Olympiasieger geworden: Weil die Konkurrenz für die Abfolge der Übungen, die Frei zeigte, schlicht zu wenig kräftig war. Während sich die Athleten in Peking aufwärmen, zieht der alte Mann seine Pantoffeln aus, steigt auf die Eckbank und öffnet den Wandschrank, in dem er seine bedeutendsten Auszeichnungen aufbewahrt. «Das war noch eine richtige Medaille», sagt Frei, «nicht so eine zum Umhängen.» Heute ist der 91-Jährige der älteste noch lebende Schweizer Olympiasieger.

«Wir wussten kaum, was eine Olympiade ist»

Am Fernsehen ist nun Iovtchev Iordan, der erste Turner des Ringe-Finals in Peking, zu sehen. Frei verstummt und beobachtet ihn gespannt. Wie er an die Ringe hochgehoben wird. Wie er mit angespannten Armen die Beine beugt und hebt, in den Handstand übergeht und mit ganzer Kraft schwungvoll seine Kür turnt. Diese Schwungteile habe man damals noch nicht geturnt, sagt Frei. Deshalb könne man die Athleten auch nicht vergleichen. «Heute haben sie ‹Rölleli› in den Handschuhen, das ist eigentlich ein Schwindel. Wir haben noch mit blossen Händen geturnt.» Die Kraftteile der heutigen Turner seien aber nicht anders als bei ihnen damals. «Wir waren damals auch Muskelprotze», sagt er, «diese Kraft braucht es halt an den Ringen.» Deshalb hätten sich die Ringe im Gegensatz zu den anderen Disziplinen im Kunstturnen auch kaum verändert.

Dafür war damals sonst alles anders an den Olympischen Spielen. London lag in Schutt und Asche, die Athleten hatten laut Frei untereinander kaum Kontakt. Und Olympia hatte noch nicht eine so grosse globale Bedeutung wie heute. «Es gab ja noch kein Fernsehen», wirft Freis Frau Ruth ein. Einzig in der «Wochenschau» im Kino sei vielleicht mal etwas über die Olympischen Spiele berichtet worden. «Damals wussten wir hier auf dem Land kaum, was eine Olympiade ist», sagt Frei und lacht heiter. Für ihn sei Olympia jedenfalls wie jedes andere Turnfest gewesen. Und sogar in London habe nicht jeder gewusst, dass die Olympischen Spiele stattfanden.

Als Schweizer strenger benotet

Alexander Worobjew, ein Ukrainer, ist an der Reihe. Stramm zeigt er seine Übungen. Exakt und kraftvoll. 16,325 Punkte erhält er für seine Kür. «Das ist ja verrückt», sagt Frei und schüttelt den Kopf. Einen Unterschied zu früher gebe es eben schon: «Wir waren damals Amateure, heute sind alle Profis.» Dreimal die Woche hatte Frei in Regensdorf trainiert – zuerst in einem Weinkeller, dann in einem eigens gebauten Turnschopf. Die nötige Kraft habe er von der harten Arbeit als Schmid und Abwart gehabt: «Ich musste nie in den Kraftraum.» Trotz dem geringen Training sei er im Dorf immer wieder «angezündet» worden: «Die Bauern sagten, ich solle doch arbeiten statt ‹umegumpe›.»

Schweigend schaut Frei die nächste Kür – als Profi, der mit Argusaugen anderen Profis kritisch zuschaut. Yang Wei, der muskulöse Chinese, der nun seine Kür zeigt, beeindruckt Frei nicht. Diesen Schwierigkeitsgrad habe man damals schon geturnt. Einzig «solche Abgänge hat damals noch keiner gemacht», sagt Frei, nachdem Wei seine Kür mit einem Doppelsalto gestreckt mit Doppeldrehung abgeschlossen hat, «wir sind gar nicht auf die Idee gekommen.»

Ganz automatisch mache er die Noten jeweils selber, sagt Frei, als auch der nächste Athlet fertig geturnt hat. Er sei nicht immer einverstanden mit den Kampfrichtern. Frei zuckt mit den Schultern: «Was will man machen?» Bereits als Athlet habe er jeweils akzeptieren müssen, wenn er strenger bewertet wurde als die anderen. Wie etwa damals, in London: «Es hiess, die Schweizer hätten keinen Krieg gehabt und über all die Jahre trainieren können», sagt er, «das stimmte nicht.» Auch die Schweizer seien eingezogen worden. Und im Winter habe man den Turn- schopf nicht heizen können. Nur am Sonntagmorgen, da sei er manchmal um fünf Uhr früh aufgestanden, habe Kohle aus dem Schulhaus in den Schopf gekarrt und geheizt.

Sein Name wurde in London verewigt

Frei beobachtet gespannt, welche Figurenabfolgen die Athleten turnen. Seine Faszination fürs Turnen ist ihm ins Gesicht geschrieben, seine Leidenschaft, die er bis 65 aktiv ausgeübt hat, deutlich zu spüren. Heute mache er nur morgens noch ein paar Turnübungen, sagt Frei. Seinen grossen Garten bestellt er immer noch selbst. Und täglich fährt er mit dem Velo zur Post. Einzig auf Bäume klettere er nicht mehr, seit er vor ein paar Jahren beim Äste sägen heruntergefallen sei.

In Peking geht es nun um die Olympiamedaille, die letzten Turner zeigen ihr Können. Und bald steht fest: Der Chinese Chen Ybing holt Gold, auch Silber geht an China, Bronze an die Ukraine. Was er damals gefühlt habe, als er auf dem Podest stand und den Schweizer Psalm hörte? Das wisse er nicht mehr, sagt Frei. Man vergesse so vieles. Aber wenn er nun die Spiele schaue, kämen viele Erinnerungen hoch. Viel Publikum hätten sie damals nicht gehabt, erzählt er, es habe in Strömen geregnet. «Der Wettkampf musste immer wieder verschoben werden.» Nach drei Tagen und drei schlaflosen Nächten sei er «kaputt» gewesen wie noch nie. Geturnt hat er dann trotzdem besser als alle anderen. «Gold und Silber gingen an die Schweiz, Bronze an Tschechien», sagt Frei stolz und erinnert sich, wie er nach der einwöchigen Rückreise per Schiff und Zug in Regensdorf empfangen wurde: Das ganze Dorf feierte ihn wie einen Helden und führte ihn mit einer Kutsche hinter der Blasmusik her durchs Dorf.

Von London habe er jedoch nicht viel gesehen, sagt Frei. Erst ein paar Jahre später sei er mit seiner Familie zurück gegangen, um sich das Stadion noch einmal anzusehen. «Als ich dann auf einer Tafel mit allen Gewinnern meinen Namen fand, war das schon speziell, da habe ich schön dumm geschaut.» Erst in diesem Moment sei ihm bewusst geworden, was eine Olympiamedaille bedeute.

Diese Porträt erschien am 27. Oktober 2008 im swiss sport 5/08, Magazin von Swiss Olympic.​

Text: Manuela Ryter

Fotos: Luc-François Georgi

«Jeder kann seinen Traum leben»

Seit 2000 ist Taekwondo offizielle olympische Sportart. Mit Manuela Bezzola hat sich für «Beijing 2008» nun erstmals eine Schweizerin für die Olympischen Spiele qualifiziert. Mit dem Glauben, dass alle Ziele erreichbar sind, hat die 18-Jährige ihren Traum erfüllt. Ausgeträumt hat sie aber noch lange nicht: «In Peking ist alles möglich.»

Istanbul, 26. Januar 2008. Nun war sie da: die letzte Chance. Der Traum von Olympia, den Manuela Bezzola seit Jahren geträumt hatte, war plötzlich in greifbarer Nähe. Bereits als 10-Jährige hatte Bezzola die Olympischen Spiele in Sydney im Fernsehen mitverfolgt. Zum ersten Mal war Taekwondo als offizielle olympische Sportart zugelassen. «So weit möchte ich auch kommen», hatte sich die junge Taekwondo-Kämpferin damals gedacht. Und vor vier Jahren, als sie Federer, Fischer und Co. bei der Eröffnungsfeier in Athen einlaufen sah, war für sie klar: «In ‹Beijing 2008› will ich dabei sein. Unbedingt.»

«Es war mein Tag und ich wusste es»

Und nun war ihre letzte Chance da. Die erste, am weltweiten Qualifikationsturnier in Manchester, hatte Bezzola im Herbst vergeben. An der kontinentalen Ausscheidung in Istanbul waren noch einmal drei Tickets pro Gewichtsklasse zu holen. Wer einen Match verliert, ist draussen. Manuela Bezzola stellte sich der ersten Gegnerin und gewann. Dann der zweiten. Der dritten. Wenn sie kämpft, fliegen ihre Beine blitzschnell durch die Luft, sie greift an, weicht aus, alles geht so rasant schnell, dass die einzelnen Bewegungen kaum auszumachen sind. «Es hat alles gepasst. Es war mein Tag und ich wusste es.» Schon als sie am Morgen aufgewacht sei, habe sie sich gesagt: «Heute fühle ich mich super, heute bin ich besser als die anderen, heute ist meine Chance.»

Und dann stand sie im entscheidenden Match – und gewann. Sie habe keine Erinnerung an diesen Match, sie habe beim Kämpfen jedes Zeitgefühl verloren, sagt glauben. Ich war überglücklich.» Jahrelang habe sie dafür trainiert, in den letzten Jahren täglich bis zu fünf Stunden neben ihrer kaufmännischen Sportlehre. Geschlafen habe sie in jener Nacht keine Minute.

Mit Selbstbewusstsein zum Erfolg

Heute blickt Manuela Bezzola mit Gelassenheit auf diesen Wintertag in Istanbul zurück. Sie sitzt auf dem Sofa in ihrem Elternhaus in Studen bei Biel, in Jeans und schwarzem Pulli, ihre gelockten Haare wie eine Ballerina streng nach hinten gekämmt. Ihre Qualifikation schreibt sie in erster Linie ihrem positiven und zielgerichteten Denken zu, denn «ich bin nicht besser als die anderen». Auf diesem Niveau seien die Leistungsunterschiede minimal, sagt die Junioreneuropameisterin 2005 und WM-Fünfte 2007, die erst seit einem Jahr in der Elite startet. Entscheidend seien Kleinigkeiten – und die mentale Stärke.

«Wenn man etwas wirklich will und alles dafür gibt, erhält man auch einmal 100 Prozent zurück. Jeder kann seinen Traum leben.» Sie sei von Natur aus ehrgeizig, dickköpfig und hartnäckig. Und das Selbstvertrauen werde durch Bezzola rückblickend. «Plötzlich machte es Piep und es war fertig.» Eine riesige Last sei von ihr gefall en: «Mein Traum war in Erfüllung gegangen. Ich konnte es gar nicht ihren Sport enorm gestärkt, sagt Bezzola. Das Vertrauen in die eigene körperliche und geistige Kraft sei im Taekwondo zentral, dies habe ihr René Bundeli, ihr Taekwondo-Lehrer und «Übervater», beigebracht. Wenn sie ihre Kraft und ihren Willen auf ein Ziel fokussiere, sei sie auch fähig, mit der Hand ein Holzbrett oder einen Ziegelstein zu zerschlagen. An ein mögliches Versagen denke sie gar nicht erst. Und falls sie doch mal eine Niederlage einstecke, dann motiviere sie das, «noch härter an mir zu arbeiten».

Kampf für mehr Anerkennung

Nun geniesst Bezzola den Rummel, den sie mit ihrer Olympia-Qualifikation ausgelöst hat. Freunde haben ihr gratuliert, alte Bekannte schickten Blumen, ehemalige Lehrer Karten, die Medien, «die sich vorher nie für unseren Sport interessierten», standen plötzlich vor der Tür. Es freue sie enorm, dass Taekwondo dank ihrer Qualifikation nun auch in der Schweiz etwas mehr Anerkennung erhalte, sagt Bezzola. In Spanien, Italien, Amerika – und natürlich Asien – sei Taekwondo seit langem sehr bekannt und beliebt. In der Schweiz aber kenne diese traditionelle koreanische Kampfsportart fast niemand. Es werde Zeit, dass sich dies ändere.

Dass die Olympischen Spiele in Asien stattfinden, wo ihr Sport herkommt, sei umso spannender, «auch wenn die Spannungen in China die Vorfreude etwas trüben». Sie glaube aber daran, dass der Sport die Welt vereine: «Die Olympischen Spiele sind wohl das einzige Ereignis, das so viele Kulturen zusammenbringt.» Spitzensport sei in dem Sinn eine gute Lebensschule: Man lerne nicht nur «zu beissen», sondern auch den Umgang mit anderen Mentalitäten und Kulturen. Asien kennt Bezzola bereits bestens: Sie war schon viele Male in Korea, Vietnam und China und hat Freundschaften mit asiatischen Sportlerinnen geschlossen. «Wer sich in Asien in Taekwondo für die Olympischen Spiele qualifiziert, ist dort ein Superstar, ähnlich wie hier Roger Federer.»

Peking und das Olympische Dorf, wo im vergangenen Jahr die Taekwondo-WM stattfand, seien unglaublich imposant, sagt die18-Jährige, «auch wenn damals noch alles eine Baustelle war». Die Chinesen hätten gar die Autobahnen gesperrt, um die Busse mit den Sportlern ins Olympische Dorf zu eskortieren.

An Manuela Bezzolas Zimmertür hängt eine selbstgemalte Zeichnung mit den olympischen Ringen und dem Schriftzug «Beijing 2008». Jahrelang habe sie jede Minute an Peking gedacht, daran, dass sie es schaffen könnte. Nun werde sie in ein paar Monaten selbst neben ihren Idolen an der Eröffnungsfeier einlaufen. «Plötzlich bin ich eine von ihnen.» Das sei wirklich einmalig. Sie werde sich jedoch neben all den Sportgrössen «klein vorkommen». Doch sie wolle ihren Traum nun weiterträumen: Sie gehe nicht an die Olympischen Spiele, um dabei zu sein, sagt sie in ihrer unerschrockenen und doch bescheidenen Art: «In Peking ist alles möglich.» Auch die beste Taekwondo- Kämpferin sei schlagbar. Auch Gold sei möglich. «Weshalb sollte mein Traum nicht weitergehen?»

Text: Manuela Ryter

Dieses Porträt erschien am 17. April 2008 im swiss sport 2/08, Magazin von Swiss Olympic.​

«Europa und Afrika vernetzen»
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Mit einem «Afro-europäischen Netzwerk» will Charles Senessie von Zollikofen aus gegen Aids in Afrika vorgehen

Die Kranken sind in Afrika, über ihre Krankheiten geforscht wird jedoch in Europa. Um Aids besser bekämpfen zu können, will der afrikanische Arzt Charles Senessie aus Zollikofen mit dem «Afro-europäischen Netzwerk für Medizin und Wissenschaft» den Wissensaustausch verbessern.

Etliche Linien durchziehen die Weltkarte an der Wand in Charles Senessies Büro in Zollikofen. Alle führen von Europa und Nordamerika nach Afrika – und zurück: Es sind die Verbindungen, die Senessie bereits aufgebaut hat. Sie sollen die Welt vernetzen und einen wissenschaftlichen Austausch zwischen dem Schwarzen Kontinent und dem Rest der Welt ermöglichen. «Eine verbesserte globale Zusammenarbeit ist dringend nötig, um gegen die Missstände im afrikanischen Gesundheitssystem vorzugehen», sagt der Arzt aus Sierra Leone, der seit 2004 in Zollikofen lebt. Vor einem Jahr hat er deshalb das «Afro-europäische Netzwerk für Medizin und Forschung» (AEMRN) mit Sitz in Zollikofen gegründet – und ist damit auf internationales Interesse gestossen: In den USA, in Kanada, Schweden und Holland sind seither weitere Büros entstanden, die mit jenen in Sierra Leone, Liberia, Kamerun, Kenia, Ghana und Kongo zusammenarbeiten. Und auch die Weltgesundheitsorganisation WHO liess sich von seinem Projekt überzeugen und machte ihn zum Partner ihres Programmes für den globalen Wissensaustausch.

Gegenseitig profitieren

Heute bestünden grosse Wissenslücken zwischen Europa und Afrika, sagt Senessie: «Die Kranken sind in Afrika, die Forschung aber findet im Westen statt.» In der Schweiz wisse jeder, was Aids sei und wie es übertragen werde – in Afrika, wo 60 Prozent der Aidskranken lebten, jedoch nur die wenigsten. Umgekehrt müssten viele Studien der Aids-Forschung hinterfragt werden, weil sie in Europa durchgeführt worden seien und nicht in Afrika, wo die Probleme am grössten seien: «Mit einer besseren Zusammenarbeit könnte die Wissenschaft von den Erfahrungen der afrikanischen Ärzte profitieren.»

Als Flüchtling Aids bekämpfen

Bewusst wurde Senessie dieses Ungleichgewicht, als er 2004 seiner aus Sierra Leone geflüchteten Familie in die Schweiz nachfolgte. In Afrika hatte er sich als Arzt insbesondere mit Aids beschäftigt. In der Schweiz knüpfte er dank der Unterstützung von Ueli Hänni, der in Zollikofen als Hausarzt viele Flüchtlinge behandelt, schnell Kontakte mit Aids-Spezialisten des Insel-Spitals. Später arbeitete er während eines Jahres am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern unter anderem in der Aids-Forschung und nahm an vielen internationalen Aids-Tagungen teil. Seit 2006 ist er freiwilliger Assistenzarzt in Hännis Praxis, der heute Berater des AEMRN ist. Als er eines Tages von einem verzweifelten Kollegen in Afrika um Hilfe gebeten wurde, habe er gesehen, dass es Möglichkeiten gebe, sein Wissen in Afrika weiterzugeben, sagt Senessie: «Ich wollte meiner Heimat, die ich verlassen hatte, etwas zurückgeben.» Dieses Bedürfnis teile er mit vielen Afrikanern in der Fremde. Dank dem Netzwerk könnten sie ihr Wissen nun weitergeben: Viele Mitglieder des Vereins sind emigrierte afrikanische Wissenschaftler – Ärzte, Soziologen, Psychologen und Ingenieure –, die sich, unterstützt von europäischen Ärzten, mit ihren Kollegen in Afrika austauschen. Dank der Zusammenarbeit könnten sich Ärzte in Afrika selbst helfen, sagt Senessie. Dies sei wichtig, denn «der beste Pilot ist derjenige, der die Strecke am besten kennt». Es mache keinen Sinn, wenn medizinische Hilfe in Afrika nur von Europäern geleistet werde.

Gemeinsame Arbeit in Afrika

Wissensaustausch mit Europa statt Abhängigkeit vom Westen ist es denn auch, was die Projekte von AEMRN, die auf ehrenamtlicher Arbeit basieren und durch private Spenden finanziert werden, anstreben. So hat das Netzwerk unter anderem in Liberia ein Krankenhaus aufgebaut, das nun als Ausbildungs- und Forschungszentrum der Universität dient. Und in «Workcamps», die AEMRN ab November durchführt, werden interdisziplinäre Gruppen afrikanischer und europäischer Wissenschaftler jeweils einen Monat in Kenia, Liberia und Kamerun in einer mobilen Praxis von Dorf zu Dorf ziehen und die Bevölkerung über Aids und andere Krankheiten informieren, sie behandeln und ihre Daten für die wissenschaftliche Auswertung aufnehmen. «So kann eine gemeinsame Erfahrungsbasis für die Zusammenarbeit geschaffen werden.»

[@] www.aemrnetwork.ch

​Text: Manuela Ryter (infosüd)

Dieser Artikel erschien am 11. Oktober 2007 im "Bund".​

Meister der Töfflibuben
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Jahrzehntelang hat Bruno Andrenacci in Muri Vespas, Velos und Töfflis geflickt, nun geht er in Pension.

Ob ein tropfender Auspuff, ein geplatzter Velopneu oder Sorgen mit der Ehefrau – in «Brünus» Velo- und Töffwerkstatt in Muri wurde jedes Problem diskutiert und wenn irgendwie möglich auch behoben. In den 32 Jahren wurde Bruno Andrenacci zum Muriger Original, nun heisst es: «Arrivederci».

Der Abschied ist bitter. Bruno Andrenacci tut zwar so, als wäre nichts, als sei die kurz bevorstehende Ladenschliessung noch Jahre entfernt. Als würde das grosse Abschiedsfest für ihn nie stattfinden. Er hetzt durch seine Werkstatt, empfängt hier einen Kunden mit einem herzlichen «Ciao», prüft dort die Höhe eines Velosattels. Er dreht draussen den knarrenden Motor einer alten Vespa auf, die er am Tag zuvor geflickt hat, und klopft die Schulter eines alten Freundes, der hier regelmässig zu einem Schwatz auftaucht. Hund Jerry, sein «Chef», zottelt ihm hinterher. Ein Tag wie jeder andere, seit er 1975 seine Werkstatt hier im Murizentrum eröffnet hat. Und doch ist alles anders. Kein Töffli, kein Velo, keine Vespa, kein Motorrad steht mehr aufgereiht vor dem Laden. Der Abschied ist allgegenwärtig, die Werkstatt schon fast leer geräumt. Nur die Madonna blickt noch immer vom kitschigen Bild im Büro, und auf einer verblichenen Werbung posiert eine hübsche Italienerin sexy neben einem hellblauen Töffli. «Ciao ciao bambina», heisst es dort verheissungsvoll.

«Ich bin mit Muri gewachsen»

Für Bruno heisst es nun «Arrivederci»: 52 Jahre lang hat er in Italien, in Ostermundigen und seit 1975 in Muri Velos und Töfflis geflickt und verkauft. Nun geht der 67-Jährige in Pension. Er dürfe gar nicht an das Fest denken, sagt Andrenacci, der mit allen per Du ist, mit dem reichen Muriger Geschäftsmann wie mit dem Arbeitslosen, der täglich vorbeischaut. Er werde nur traurig, «wäge de Kinde», sagt er mit breiten italienischen Akzent. Er spricht von den Kindern, die schon vor dreissig Jahren in seinen Laden kamen. Die sich hier im italienischen Chaos wohl fühlten und für ein Gipfeli und Schoggistängeli am Morgen die Velos und Töfflis nach draussen schoben und aufreihten. «Wie viele habe ich aufwachsen sehen! Sie sind heute gross und kommen immer noch vorbei!» Er sei mit Muri gewachsen, sagt der hagere Mann mit dem südländischen Charme: Er kenne jeden hier – und jeder kenne ihn.

Hunderte Fahrräder hat er in dieser Werkstatt verkauft. Nächtelang hat er an kaputten Motorrädern gebastelt. Er sei der beste «Mech» der Region, heisst es bei seinen Kunden. «Er flickt alles und schraubt jeweils so lange, bis er herausfindet, was kaputt ist», sagt Hans Mehri, der seine Vespa schon zu «Bruno» brachte, als dieser in den 1960er- Jahren noch in einer Garage in Ostermundigen angestellt war. Schnell war der junge Italiener damals bekannt und wurde zum Meister der Töfflijugend aus der ganzen Region. Sogar aus Frutigen und Kandersteg seien sie gekommen, sagt Andrenacci und lacht. «Frisiert habe ich die Töfflis zwar nie, die Polizei hat mich oft genug kontrolliert.» Tipps habe er den Buben jedoch viele gegeben.

Motoren, seine Leidenschaft

Motoren waren schon immer Andrenaccis Leidenschaft: Als Halbwüchsiger begann der Bauernsohn in Teramo seine Lehre als Mechaniker. Damals, in den 1950er-Jahren, kurvte er auf seiner ersten Gilera um die Wette und schraubte an Maschinen von Rennprofis herum. Die alte rote Gilera – «ein richtiger Spaghetti-Töff» – steht jetzt neben vier weiteren in der Werkstatt. «Das sind meine ,Schätzelis‘», sagt Bruno, der alles sammelt, was ihm in die Hände kommt. Die meisten dieser Maschinen hat er bereits günstig verkauft, wie fast alles andere auch. Nur der rote Ducati, der komme zu ihm nach Hause, «in mein privates Museum».

Immer genügend Zeit fürs Soziale

Noch geht es in der Werkstatt jedoch geschäftig zu und her. Die Kunden sind gekommen, um ein letztes Mal in Andrenaccis Reich einzutauchen: Ein Reich, in dem Gott Italiener ist und einen Motor hat. Wo inmitten von alten Gefährten, Schrauben, Pneus, Velosätteln und Ferraribildern gelacht und gescherzt wird, wo nicht nur der Motorschaden der Vespa, sondern auch der Kummer mit der Liebsten und die Sorgen wegen des leeren Portemonnaies diskutiert werden. Tagsüber nahm sich Andrenacci jeweils Zeit «fürs Soziale». Zum Plaudern, zum Sprücheklopfen und Zuhören. «Arbeiten musste ich dann halt in der Nacht.» Er schaute dabei nicht auf die Uhr und schraubte etliche Stunden, ohne sie in Rechnung zu stellen – «Hauptsache, ich konnte es flicken». Schrauben und flicken wird Andrenacci weiterhin: in einer Mini-Werkstatt in Gümligen. Zum Spass und um den Kontakt mit den vielen «Kindern», die nun erwachsen sind, zu pflegen, sagt er und betrachtet die gepackten Bananenschachteln. Den Stapel mit den Formel-1-Heften und die Schmetterlinge, die mit farbigen Flügeln aufgestochen in einem Rahmen an der Wand hängen.

Text: Manuela Ryter
Dieses Porträt erschien am 11. August 2007 im "Bund".​

Zeichnerin der Angeklagten
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Gerichtszeichnerin Angela Zwahlen hält mit Bleistift und Papier Prozesse fest und gibt so auch Verbrechern ein menschliches Gesicht

Mit klaren Strichen und scharfen Konturen vermitteln Angela Zwahlens Zeichnungen den Zeitungslesern ein Bild aus dem Gerichtsaal. Ob Mörder oder Betrüger - die Bernerin zeichnet keine Monster, sondern ganz normale Menschen.

Angela Zwahlens letzte Zeichnungen aus dem Gerichtssaal sind noch präsent: Vier Jugendliche sitzen zwischen Polizisten auf ihren Stühlen und warten mit gesenktem Blick auf ihr Urteil - es sind die vier Postgasse-Täter, die im Mai 2003 in Bern einen wehrlosen Mann zusammenschlugen und schwer verwundet auf der Strasse liegen liessen. Ihre Gesichtsausdrücke, ihre Körperhaltung, ja gar kleinste Details ihrer Kleidung sind fein und präzise mit Bleistift festgehalten. Die Zeichnungen zeigen sie als normale Jugendliche. Sie sehen nicht aus wie brutale Schlägertypen, die mit den Schuhen auf den Kopf des Opfers eintraten und danach mit blutigen Kleidern in einer Bar auf die Tat anstiessen, während der Mann um sein Leben rang.

«Die meisten Täter sehen aus wie ganz normale Menschen», sagt Angela Zwahlen. Während wichtiger Prozesse sitzt sie für den «Bund» im Gerichtssaal und macht Verhandlungen «sichtbar», denn Fotografieren ist in Gerichten nicht erlaubt. Vielleicht lösen ihre Zeichnungen beim Betrachter gerade deshalb so viele Emotionen aus, weil sie nicht jene Monster darstellen, die man erwartet, sondern ganz normale Menschen. «Ich versuche, präzise zu zeichnen, denn ich will auch den Angeklagten gerecht werden. Ich will keine Täterprofile oder Karikaturen zeichnen - es ist nicht meine Aufgabe, jemanden zu verurteilen.»

Mitleid und Grauen

Die Bernerin Angela Zwahlen sitzt in ihrem Loft in Biel, das ihr und ihrem Partner als Atelier und Wohnraum dient. Neben ihrem weissen Arbeitstisch sind Farben und Maltuben ordentlich zusammengestellt, und auf dem Fenstersims stehen kleine, farbig gemalte Porträts von Wirtschaftsleuten - ein Auftrag für ein Wirtschaftsmagazin, erklärt Zwahlen. Seit sechs Jahren zeichnet die freischaffende Illustratorin auch im Gericht. «Die Arbeit fasziniert mich - ich beobachte und zeichne Menschen, die ich nicht kenne, und bekomme ihre Taten, aber auch ihre Lebensgeschichten mit», erzählt die 36-Jährige. Mitleid für Angeklagte, aber auch Grauen vor ihren Taten vermischten sich dabei häufig.

Angela Zwahlen sitzt oft stundenlang im Saal, in nächster Nähe der Angeklagten, beobachtet, skizziert und zeichnet. Zum Teil sei es ein langweiliges Prozedere, sagt sie. Viele Prozesse gingen ihr jedoch sehr nah. Manchmal zu nah, dann helfe nur noch Oropax: «Zum Teil erzählen sie grauenhafte Geschichten, schildern Details von einem Mord oder einem Sexualverbrechen. Dann wird mir unwohl, und ich ziehe mich zurück, sonst wird die Zeichnung ungenau und schlecht.»

Verkleidete Angeklagte

Zwahlen erzählt von ihren Erlebnissen bei den Prozessen, verschiedene Zeichnungen liegen verstreut vor ihr auf dem Tisch - sie zeigen gleichgültige Betrüger, nachdenkliche Mörder, unschuldig blickende Sexualverbrecher, aber auch Polizisten, Anwälte und Richter. «Manchmal frage ich mich, was sie wohl denken, wenn ich sie stundenlang beobachte und zeichne», sagt sie. Einige bemerkten sie gar nicht, anderen sei es sichtlich unangenehm. «Einmal begann ein Angeklagter plötzlich, mich abzuzeichnen», erzählt sie und zeigt auf die Zeichnung eines Mannes in Fussfesseln, der im Prozess von Damaris Keller vor Gericht stand. «Bei diesem Spielchen wurde mir unheimlich.» In einem anderen Prozess hätten angeklagte Polizisten Perücken und Brillen getragen. «Ich bemerkte erstaunt, dass die sich meinetwegen verkleideten, aus Angst, man könne sie auf den Zeichnungen erkennen.» Seither zeichne sie alle Polizisten im Gericht anonym und linear.

Interpretation der Wirklichkeit

Sie glaube allerdings nicht, dass man die abgebildeten Leute aufgrund der Zeichnungen wiedererkenne, sagt Zwahlen - auch wenn sie die Leute so naturalistisch wie möglich darstelle. «Sie sollen sich ähnlich sein. Aber eine Zeichnung ist nicht wie ein Foto - sie ist eine Interpretation der Wirklichkeit.» Eine Zeichnung sei auch keine Momentaufnahme, sondern entstehe fliessend - zwei bis drei Stunden arbeitet Zwahlen jeweils daran.

Dabei achtet sie besonders auf Klarheit und Präzision - auch Details wie Kleider, Uhren oder Frisur seien ihr wichtig, sagt Zwahlen. Hier kommt ihr die frühere Arbeit in einem Zeichentrickfilmstudio zugute. Auch wenn Zwahlen mit Strichen, Flächen und Konturen spielt - als Kunst bezeichnet sie ihre Gerichtszeichnungen nicht. Kunst brauche mehr Freiheit, sagt sie. Ein Anwalt sah das anders: Er fand ihre Zeichnungen vom Prozess gegen Werner K. Rey - ihrem ersten Prozess - so toll, dass er ihr die Originale gleich abkaufte.

Text: Manuela Ryter

Dieses Porträt erschien am 11. Oktober 2005 im "Bund".​

«Nervös wie vor der Hochzeit»

Rania Bahnan Büechis erste Sitzung im Berner Stadtrat.​

Auf der Treppe des Berner Rathauses wartet Rania Bahnan Büechi mitten im stolzen, um fünf Mitglieder gewachsenen GFL-Stadtratsgrüppchen. Etwas verloren steht sie da, elegant gekleidet in Jupe und Bluse, und lächelt verkrampft in die Kameras. Wie die anderen drei «Neuen» hält sie das grüne Pflänzchen, ein Begrüssungsgeschenk ihrer Fraktion, fest in ihren Händen.

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Sie sei unglaublich nervös, sagt sie, «wie vor meiner Hochzeit». Rania Bahnan Büechi lacht beim Reden und schaut sich aufgeregt um. Der Platz vor dem Rathaus füllt sich allmählich, die Politiker trudeln ein und begrüssen sich zur ersten Sitzung des neu besetzten Stadtrats. Sie kenne kaum jemand von ihnen, sagt Bahnan. Kurz zuvor habe sie bei einer Einführung die 21 weiteren neuen Stadträte und Stadträtinnen kennen gelernt. Sie sei etwas zu spät gekommen, in der Aufregung an den falschen Ort gegangen. Sie sei heute sowieso etwas zerstreut - den Sitzplan habe sie vergessen, das Handy auch.

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Bisher habe sie immer gedacht, es gehe ja erst im Januar los, jetzt aber gelte es ernst. Bahnan betritt das Rathaus, in der einen Hand die violette Jacke, in der anderen das Pflänzchen, und schaut sich etwas unsicher in der riesigen Eingangshalle um. «Schön ist es hier», sagt sie, als sie die Treppe hinaufsteigt und in die Wandelhalle mit den roten Sesseln kommt. Ein Hauch von Stolz gleitet über ihr Gesicht.

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«Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Politikerin werde», sagt Bahnan. Mit ihrer Wahl habe niemand gerechnet, weder sie noch die Partei. Bis im Frühling 2004 war die Palästinenserin, die in Libanon aufgewachsen ist, in den USA studiert hat und 1992 mit ihrem Mann - einem Appenzeller - nach Bern kam, parteilos. Dann wurde sie von der GFL für eine Kandidatur angefragt. «Die Partei wollte Migrantinnen ein Gesicht geben», sagt sie.

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Bahnan wurde überrumpelt. Heute freut sich die 41-Jährige jedoch, dass es so gekommen ist: «Es ist eine grosse Herausforderung, aber genau das mag ich.» Zwei Fraktionssitzungen hat sie schon hinter sich - die Themen «Wie halte ich eine Rede» oder «Wie mache ich ein Postulat» stehen noch an. Bahnan geht langsam in den Ratssaal, sucht ihre Parteikollegen und setzt sich an ihren Platz neben GFL-Fraktionspräsident Ueli Stückelberger. Das grüne Pflänzchen stellt sie vor sich aufs Pult. «Ich hoffe, dass es in den vier Jahren wachsen wird.»

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Als Politikerin kennt man Bahnan in Bern noch nicht - als Expertin in Migrationsfragen hat sie sich jedoch einen Namen gemacht: In einem IKRK-Interventionszentrum fand sie ihren ersten Job in der Schweiz, dann wechselte sie zum Migrantinnenprojekt Wisdonna des Christlichen Friedensdienstes. Sie gründete die Fachstelle für Medizinische Hilfe für illegalisierte Frauen «MeBif», gibt neben ihrer Arbeit als Psychotherapeutin Kurse zum Thema Migration, ist in Vereinen für palästinensische Migranten aktiv, und bis vor kurzem sass sie in der Fachkommission für Integration der Stadt Bern.

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«Migration und die Sans-papiers werden auch im Stadtrat meine Anliegen sein», sagt Bahnan. Sie habe nicht die Illusion, als Stadträtin die Welt zu verändern, «aber es wäre schön, in Bern etwas zu bewegen». Bei ihrer Arbeit mit den Migrantinnen sei sie immer wieder an «strukturelle Barrieren» gestossen, das habe ihr Bedürfnis, etwas zu verändern, geweckt.

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Nun sitzt Rania Bahnan Büechi aber noch ruhig an ihrem Pult und hört gespannt der Begrüssungsrede des neu gewählten Stadtratspräsidenten Philippe Müller zu. Und als die Kommissionen gewählt werden, streckt sie mit den anderen ihre Hand hoch. Hilfsbereit deckt Stückelberger seine «Neuen» mit Erklärungen ein.

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Als Migrantin Berner Politikerin zu sein, darauf ist Rania Bahnan Büechi stolz. Die Kandidatur habe sie jedoch viel Überwindung gekostet, «ich war - wie die meisten Migrantinnen - zu scheu», sagt sie. Die Hemmschwelle, in einem fremden Land politisch aktiv zu werden, sei riesig. Bern sei heute ihre Heimat. Politik sei eine Art, diese Heimat kennen zu lernen. «Ich will dort, wo ich wohne, auch partizipieren.» Bisher habe sie dazu nie Gelegenheit gehabt, denn: Seit ihrer Geburt lebte sie als Migrantin im Ausland - in Palästina war sie noch nie.

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Früh ist die erste Stadtratssitzung beendet. Beim Apéro plaudert Bahnan gelöst und ruhig mit «bekannten Gesichtern» - die meisten aus der SP. Es sei schon eine andere Welt, sagt sie und lacht - sie fühle sich jedoch wohler, als sie gedacht habe. Sie lasse nun alles auf sich zukommen. Und dann werde auch sie etwas dazu beitragen, «dass ein neuer Wind aufkommt». Denn in Sachen Migration könne Bern diesen gebrauchen.

Text: Manuela Ryter
Dieses Feature erschien am 14. Januar 2005 im "Bund".​
Die Generation Erasmus
Kasten: 

Schweiz «stille Partnerin»

Das EU-Programm Erasmus gibt es seit 1987. Es ermöglicht Studentinnen und Studenten, ein bis zwei Semester in einem anderen EU-Land zu studieren. Die EU will damit die «europäische Dimension» in die akademische Welt einbringen und die Hochschul-Zusammenarbeit verbessern. 1995 wurde Erasmus in das EU-Bildungsprogramm Sokrates integriert. Die Schweiz nimmt seit 1992 am Programm teil. 1995 kündigte die EU der Schweiz jedoch die Teilnahme aufgrund des EWR-Neins von 1992. Seither unterstützt der Bund die «stille Partnerschaft» mit 6,2 Millionen Franken pro Jahr. Mit den bilateralen Verhandlungen II wird ab 2007 wieder eine offizielle Teilnahme erwartet. 

Texte: Manuela Ryter

Dieser Artikel erschien am 13. Dezember 2004 im "Bund".​

Immer mit einem Lächeln auf den Lippen
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WANDERGESELLEN AM GURTENFESTIVAL

Zwei Zimmermänner «auf der Walz» machten auf dem Gurten halt: Rolandsbruder Beat Lampart und Freiheitsbruder Ivo Tognella packten beim Aufbau des Festivals hart an - und geniessen nun zwischen den anfallenden Arbeiten die ausgelassene Festivalstimmung.

Stolz und mit einem immerwährenden Lächeln auf den Lippen bahnen sich zwei Wandergesellen einen Weg durch die Menschenmassen auf dem Gurtengelände. Wie immer tragen sie ihre grossen schwarzen Hüte, die schwarzen Schlaghosen aus Kord und die schwarze Weste über dem weissen kragenlosen Hemd. Und wie immer fallen sie auf. In ihrer schwarz-weissen Kluft stechen sie aus der farbig-hippen Festivalmenge hervor, als wären sie die Stars auf dem Gurten. «Hei, bisch du ä geile Siech», ruft ein leicht torkelnder Festivalbesucher beim Vorübergehen Ivo Tognella zu, der seit einem halben Jahr als Fremder Freiheitsbruder auf Wanderschaft ist. «Ich weiss», ruft er zurück und lacht leise vor sich hin.

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Die zwei Zimmermänner sind nicht wegen der Musik auf dem Gurten. Oder besser gesagt: nicht nur deswegen. «Wir sind zum Arbeiten hier», erklärt Beat Lampart aus Römerswil im Kanton Luzern, aber ein bisschen Spass müsse schon sein, das gehöre zum Wanderleben. Der 23-Jährige gehört der Gesellenvereinigung der Rolandsbrüder an, auch Schacht genannt. Im deutschsprachigen Raum existieren etwa acht solcher Vereinigungen, in die eintritt, wer auf Wanderschaft gehen will. «Die Rolandsbrüder gibt es seit 1891», sagt Lampart nicht ohne Stolz. Und dieser gehört zur Wanderschaft wie die so genannte Ehrbarkeit, eine farbige Krawatte und der obligate Ring im Ohr.

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Seit fast einem Jahr ist Beat Lampart unterwegs: Er arbeitete längere Zeit in Deutschland und Österreich, reiste durch die Schweiz bis nach Toulouse und landete letzten Dienstag nach einem kürzeren Aufenthalt in England und Deutschland auf dem Gurten. «Alles, was auf dem Festivalgelände aus Holz ist, wurde von uns und ehemaligen Wandergesellen angefertigt», sagt Lampart. In strömendem Regen hätten sie letzte Woche gearbeitet: «Kleider und Schuhe waren immer durchnässt», erzählt sein Kollege Ivo Tognella. Auch der nasse Boden sei tückisch gewesen, etwa beim Aufbau der Böden für die Dusch- und Toilettencontainer in der schrägen Sleeping-Zone.

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Mindestens drei Jahre und einen Tag dauert die Wanderschaft der Handwerker. «Manchmal erscheint mir die Zeit fast zu kurz», erzählt Lampart - bei all den Plänen, die er noch hege. Bereits im Mittelalter war es Brauch, dass Zimmerleute von Baustelle zu Baustelle reisten. Sesshaft wurden sie erst später. Heute sind weltweit etwa 600 Wandergesellen unterwegs. «Wir dürfen überall hin, nur nicht nach Hause», sagt Ivo Tognella aus Thayngen im Kanton Schaffhausen. Das sei extrem hart - vor allem, wenn man der Heimat so nah sei wie jetzt auf dem Gurten.

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«Unbefleckt» müssen die Gesellen sein, wenn sie auf Reisen gehen: Unter 27-jährig, ledig, kinderlos, schuldenfrei - und trinkfest: «Wir sind keine Kinder von Traurigkeit», schmunzelt Beat Lampart. «Aber unser Ziel ist es, gute Arbeit zu verrichten - wir haben einen Ruf zu verteidigen», betont er. Und wahrhaftig: «Es ist unglaublich, wie schnell und professionell die Wandergesellen ihre Arbeit verrichten», schwärmt Matthias Kuratli, Medienchef des Gurtenfestivals. Die «Fremden Brüder», die Cowboys unter den Handwerkern, ziehen von Zimmerei zu Zimmerei. Nicht hoch zu Ross, sondern auf Schusters Rappen oder per Autostopp. Ihr Hab und Gut für drei lange Jahre tragen die Gesellen im Charlottenburger, liebevoll «Charlie» genannt. Geradezu winzig klein erscheint das Bündel neben den aufgetürmten Rucksäcken der aufs Gelände strömenden Festivalbesucher.

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Mit den von der Arbeit zerfurchten Händen zieht Beat Lampart seinen Hut etwas tiefer ins Gesicht und schaut nachdenklich - oder gelangweilt? - in das Treiben hinter den Kulissen. Sein Kamerad Ivo spricht derweil jedes annähernd hübsche Mädchen an und lässt sich genüsslich seinen spontan von der Tracht befreiten Rücken mit Sonnenmilch einmassieren. Sunnyboymässig schief sitzt sein Hut auf dem Kopf und flirtend ist sein Blick: «In jedem Städtchen ein Mädchen», etwa so lautet sein Spruch zu diesem Thema.

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Ivo Tognella kam eigens wegen des Gurtenfestivals in die Schweiz. «Es ist spannend, hinter die Kulissen zu blicken», sagt er. Nächstes Jahr will er wiederkommen: woher ist ungewiss. Unbekümmert und zufrieden schaut er in die Zukunft: «Es kann nur (noch) besser werden», findet er und mischt sich wieder unter die bunte Masse - immer mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

Text: Manuela Ryter

​Dieser Artikel erschien am 17. Juli 2004 im "Bund".