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Im Tempo der Seele
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Als Familie mit dem Fahrrad durch den Süden Neuseelands – ein unvergesslich schönes Erlebnis

 

Neuseelands Südinsel ist einsam und abwechslungsreich. Wer hier mit dem Velo unterwegs ist, lernt Landschaft in ihrer ursprünglichen Form kennen – unverbaut, wild und unverhältnismässig schön.

Unwirklich und eine Spur zu leuchtend ist das Türkis des Lake Tekapo. Übertrieben die von Lupinen übersäte Weite, ein violettes Meer, das den Gletschersee umarmt. Viel zu blau der Himmel über den perfekt gepuderten Schneebergen am Horizont. Pathetisch und von gestochener Schärfe wie einer dieser modernen Animationsfilme in 3-D. Wir steigen aus dem kleinen Reisebus, schultern unsere zwei Kinder (eineinhalb- und knapp vierjährig) und laden unser Gepäck aus, das fast den gesamten Anhänger füllt: zwei Fahrräder, zwölf Taschen, ein Kinderanhänger. Dann schauen wir uns erst einmal um, blinzeln in die Sonne wie Häftlinge, denen gerade die Flucht gelungen ist. Überwältigt und unsicher, ob dies alles wirklich wahr ist.

Hier, an diesem unverschämt schönen Flecken Erde im Herzen von Neuseelands Südinsel, beladen wir unsere Fahrräder, setzen die Buben in den Chariot, montieren die beiden Fähnlein und fahren los. Hinaus in die Freiheit, hinein in die Natur, die uns in ihrer ursprünglichen Schönheit empfängt. Einige japanische Touristen blicken uns ungläubig hinterher.

Der Weg als Highlight

Drei Monate lang werden wir unterwegs sein, ohne Zeitplan und ohne Route, dafür mit Zelt, einer Ladung Windeln und genügend Proviant. Es ist Anfang Dezember, und der Sommer ist für Neuseeland ungewohnt mutig im Anmarsch. Noch schrecken wir bei jedem Auto, das uns überholt, auf. Viel Verkehr hat es nicht auf den meisten Strassen der Südinsel. Aber die Kiwis, wie sich die Neuseeländer liebevoll nennen, fahren schnell und sind Velofahrer nicht gewohnt. Sie bewegen sich lieber im Offroader als auf unmotorisierten Zweirädern.

Dabei hat die Südinsel dem Langsamreisenden viel zu bieten. Landschaften, die so schön sind, dass sie in Europa längst zugebaut wären, warten einsam auf Besucher. Hier ist der Weg das Highlight. Vielleicht ist dies der Grund, dass Rucksacktouristen und Reisende im Wohnmobil die Nordinsel mit ihren Vulkanen, Geysiren und Badestränden viel spektakulärer finden als die einsame, wilde Südinsel. Wer jedoch nicht nur auf der Jagd nach Sehenswürdigkeiten ist und sich fernab der Zivilisation wohl fühlt, ist im Süden glücklich.

Wir fahren durch die Berglandschaft, dem Mount Cook, mit seinen 3754 Metern der höchste Berg Neuseelands, entgegen. Wir beobachten, wie auf der «Mt Cook Alpine Salmon»-Farm Lachs heranwächst, und entdecken am Ende des schnurgeraden Lake-Tekapo-Kanals den neu erstellten «Alps 2 Ocean Cycle Trail». Der Radweg wird uns in den folgenden Tagen über zum Teil abenteuerliche Mountainbike-Strecken – es sind jene Teilstücke, die erst auf der Karte existieren – bis nach Oamaru ans Meer führen. Wir sind langsam unterwegs, und so suchen wir in der Natur einen geschützten Platz für unser Zelt. Als wir am Morgen am Ufer des Lake Pukaki erwachen, blicken wir ins Blaue – nur die weisse Bergkette der Southern Alps unterstreicht den Horizont zwischen Wasser und Himmel. So schön hätten wir uns Neuseeland nie zu erträumen gewagt.

Am Lake Ohau beenden wir die anstrengende Fahrt dem Kanal entlang. Kühl ist das Bad, befreiend die totale Einsamkeit. In Omarama stellen wir unser Zelt im Garten eines stämmigen neuseeländischen Ehepaars auf. Die Buben schlafen, während uns in der Stube zu einem Rotwein Geschichten und Fotos von Jagd- und anderen Abenteuern aufgetischt werden. In der Schlucht bei Ngapara schlagen wir die Heringe hoch oben auf einer leeren Kuhweide ein. Leicht beunruhigt darüber, ob nicht doch irgendwo hinter einer Kuppe ein Stier sein könnte, geniessen wir die Aussicht über die von Felsen durchzogene Gegend. An Heiligabend erreichen wir das Meer.

Das Velofahren wird zu unserem Alltag, die Natur zu unserem Zuhause. Wenn wir auf den einsamen Strassen dem Horizont entgegenfahren, entlang von Gletscherseen, durch bizarre Felslandschaften und über sanfte Hügel, werden wir euphorisch. Der steilste Berg wird überwindbar, der stärkste Gegenwind erträglich. Unsere Buben, schmutzig und mit verstrubbelten Haaren, beginnen sich in der freien Natur wohl zu fühlen. Kinder lieben Abenteuer. Und sie lieben Freiheit. Aber auch unser Blick wird offen, unser Kopf frei. Der Stress unseres Schweizer Alltags blättert ab wie alte Farbe.

Wir fahren von Oamaru der Ostküste entlang südwärts. Wir sind langsam unterwegs – im Durchschnitt fahren wir gut 40 Kilometer pro Tag. Den Rhythmus geben die Kinder vor. Und die Arbeiten, die Velofahren und Zelten mit sich bringen. Es dauert immer ewig, bis wir morgens wegkommen, bis die Velos bepackt, die Kinder gewickelt, gefüttert und eingecremt sind. Wer mit Kindern unterwegs ist, darf sich nicht zu viel vornehmen. Wir sind gezwungen, den Tag langsam anzugehen, möglichst keine Pläne zu schmieden und Ziele spontan zu ändern. Und wenn eine Nebenstrasse in einen mörderischen Highway mündet oder ein steiler Pass vor uns liegt, nehmen wir eben den Bus.

Abwechslungsreiche Strecke

Mit Rückenwind fliegen wir regelrecht durch die stürmischen Catlins ganz im Süden, wo Delphine in den Buchten auf Surfer warten, Pinguine die Zeltplätze bevölkern und Seelöwen die harschen Strände kontrollieren. Wo der Urwald die Nichtigkeit der Menschen demonstriert und Wind und Meer die Wucht der Natur unterstreichen. Wir kämpfen uns 150 Kilometer weit auf einer ehemaligen Zugstrecke – heute ist sie ein holpriger Veloweg – durch die kargen Weiten des Central Otago ins Landesinnere, bis nach Wanaka, das sich Schweiz von Neuseeland nennt.

Und wir fahren bei bestem Wetter die sonst so regenreiche Westküste empor, wo sich die nur wenig befahrene Strasse spektakulär zwischen Regenwald und den menschenleeren Sandstränden entlang der Tasmanischen See hindurch zwängt, bis sie in Kohaihai im Nichts endet.

Im Abel Tasman bei Nelson erwarten uns nach fast 1500 gefahrenen Kilometern goldene Badestrände, doch das Paradies, das wir wie Hunderte andere in einem kleinen Boot erreichen, erscheint uns nach drei Monaten im Sattel geradezu langweilig; die Touristen erschrecken uns. Uns wird klar: Wer reist, der sieht die Welt; wer mit dem Fahrrad reist, erlebt sie. Oder wie es ein von unserer Reise unendlich beeindruckter Schweizer Motorradfahrer auf einem Rastplatz an der Westküste nicht ohne Neid in der Stimme formulierte: Beim Fahrradfahren hat man exakt die richtige Geschwindigkeit, damit auch die Seele mitkommt. Wie wahr. Wie unglaublich wahr.

 

Diese Reisereportage erschien am 8. November 2013 in der NZZ

Text: Manuela Ryter, textbüro manuskript bern

Auf in den Naturpark!
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Die Berge im Diemtigtal sind irgendwie verschroben. Fast bedrohlich ragen sie kreuz und quer in den wolkenlosen Himmel, Felswände, die Macht demonstrieren. Älpleridylle der kantigen Art. Aber das ist nur die Fassade. Wer sich auf den Naturpark Diemtigtal einlässt, entdeckt dessen Schönheit auf sanften Alpwiesen, in Wäldern, die diesen Namen noch verdienen und den glasklaren Bächen entlang, die über moosbewachsene Steine plätschern. 

Das Diemtigtal zieht sich 16 Kilometer den Bächen Kirel und Fildrich entlang in die Voralpen-Berglandschaft des Berner Oberlands. Und dort, wo der Spillgerten trohnt, im hintersten Chrachen des Tals, ist Grimmialp. Hier ist Endstation. In Grimmialp Ferien zu machen, ist wie ein Haus am Meer. Man braucht nicht erst ins Auto zu steigen, um einen Ausflug zu machen. Man ist schon da. Wer mit Kindern reist, kann sich nichts Besseres vorstellen.

Grosses Angebot für Familien

Und die Diemtigtaler mögen Kinder. Denn spätestens seit sich das Tal Regionaler Naturpark nennen darf, hat es die Familienfreundlichkeit zum Programm gemacht. Im Naturpark, offiziell als «ausserordentlich schöne Landschaft mit natürlichen Lebensräumen und einer artenreichen Flora und Fauna» beschrieben, darf und soll gewirtschaftet werden. Und so versuchen die Diemtigtaler den Tourismus zu kitzeln. Sie hauen nicht auf die Pauke, denn die grosse Masse stünde einem Naturpark schlecht. Und doch hat der Naturpark-Familientourismus schon dem einen oder anderen Einheimischen eine Türe geöffnet und ihn davon abgehalten, das enge Tal Richtung Stadt zu verlassen. Neben dem Herzstück, dem Erlebnisweg Grimmimutz, sind viele Familienangebote entstanden. Für Action sorgen eine Abfahrt auf dem Trottinett und eine Pneurutschbahn. Es gibt zwei Sessellifte, etliche Themen-, Familien- und Kinderwagenwege und viele familienfreundliche Ferienwohnungen sowie drei kleine Campingplätze. Und das Tourismusbüro weiss sogar, wo man Laufgitter ausleihen und einen Babysitter finden kann. So machen Wanderferien auch mit Kindern Spass.

Der gesamte Text mit Ausflugstipps finden Sie in der Herbstbeilage der Espace Media (Seite 23). Oder als pfd

Text und Idee: Manuela Ryter, textbüro manuskript bern

Ein Veloweg für Zugnostalgiker

Ein Erlebnis-Trail in Neuseeland  

Die gelbe Diesellokomotive des Taieri Gorge Railway Train liegt still im majestätischen Bahnhof der Universitätsstadt Dunedin. Der Ort  stand während des Goldgräberrauschs des 19. Jahrhunderts in seiner Blüte und  ist heute die zweitgrösste Stadt der Südinsel  Neuseelands. Auf der historischen Zugstrecke wurde nicht nur das im Central  Otago gefundene Gold in die einstige Robben- und Walfängerkolonie  transportiert, sondern auch Vieh, Wolle und Früchte. Heute verkehrt der Zug nur noch auf den ersten 77 Kilometern von Dunedin nach Middlemarch.  

Es ist eine Fahrt für Zugnostalgiker und Romantiker. Denn der Zug erstrahlt  noch immer in seinem alten Charme, er verzückt mit den Holzbänken und den schön verzierten Holztüren  – und besonders mit den Plattformen zwischen den Wagen, welche einladen, die Fahrt draussen im Wind zu geniessen. Es ist ein Erlebnis, auf der  Plattform des hintersten Wagens zu sitzen,  Kirschen zu essen und die Steine auf die Geleise zu spucken, während der  Zug gemächlich durch Schluchten und Tunnels tuckert.  

Der Rest der Eisenbahnstrecke von Middlemarch nach Clyde wurde im Jahr  1990 stillgelegt und in einen Velo-,  Wander- und Reitweg umgebaut, den Otago Central Rail Trail. Noch heute zeugen die alten Trassee-Steine auf dem Fahrradweg von der historischen Zugstrecke.  Wer die Wahl hat, sollte deshalb das Mountainbike dem Tourenvelo  vorziehen. Denn auf 152 Kilometern führt der Pfad über historische Eisenbahnbrücken und durch tiefschwarze Tunnels, durch Schluchten und über  Hochebenen.  Die leeren Bahnhöfe an der Strecke künden Orte an, deren Namen beinahe poetisch klingen: Ranflury, Omakau,  Lauder, Oturehua, Wedderburn. Hier  finden sich gemütliche Unterkünfte oder Pubs, die mit üppigen Menus für die beim Velofahren nötigen Kalorien sorgen. Und wenn Wolken aufziehen,  beeindruckt die Landschaft erst recht mit dramatische Szenerien. 

 

GUT ZU WISSEN

Strecke: 152 Kilometer zwischen Clyde und Middlemarch.

Dauer: Drei bis fnf Tage bei rund 10 Kilometern pro Stunde.

Ausrüstung/Transport: Mountainbike empfohlen. Sowohl in Middlemarch wie auch in Clyde werden Fahrräder ausgeliehen und gefhrte Touren oder Rcktransporte angeboten.

Infos zum Taieri Gorge Railway von Dunedin nach Middlemarch unter www.taieri.co.nz.

Schwierigkeitsgrad: Der Veloweg ist sehr beliebt bei den Neuseeländern und wird auch von Familien mit Kindern, Eltern und Grosseltern befahren.

Infos: www.otagocentralrailtrail.co.nz

 

Text: Manuela Ryter

Dieser Text erschien am 21. Juni 2013 in der NZZ

Blumenpflücker für die Zukunft
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Im Safiental ticken die Uhren langsamer. Abgelegen und idyllisch, gehört hier die Natur noch den Bauern und den Steinböcken. Doch für die Safier läuft die Zeit langsam ab. Die letzte Rettung heisst Tourismus. Wie ein Tal ohne Skilift, aber mit hohen Bergen um seine Zukunft kämpft.

Das Safiental beginnt im Postauto. Kurve für Kurve schlängelt sich der gelbe Bus aus der Rheinschlucht das Tal empor. Langsam und rumpelnd, über die schmale, schneebedeckte Strasse. «Wohin? Nach Safien?», fragt der Fahrer in breitem Bündner Dialekt und verzieht das Gesicht zu einem Grinsen, während er voll auf die Bremsen steht, damit das Postauto knapp vor dem Abgrund um die enge Kurve kommt. «Also nicht Berlin, nicht Paris?» Nein, Paris ist hier oben fast so weit entfernt wie der Mond.

Die Sonne. Knapp lugt sie über den hoch in den Himmel ragenden Felsmassen hervor, fast dreitausend Meter über Meer. Einst waren die Pässe, die das Walsertal in der Surselva eng umschliessen, der einzige Weg in die Aussenwelt. Doch das ist schon lange her. Oder doch nicht? Die Uhren ticken langsamer hier oben, sagen die Safier. Und bis die 30 Kilometer lange Holperstrasse durchgehend asphaltiert ist, dauert es mindestens noch 20 Jahre. Den Postautofahrer störts nicht, er zuckt mit den Schultern und pfeift gut gelaunt vor sich her. Draussen glitzert der Schnee in der Sonne, die Ställe der Viehzüchter thronen wie mächtige Burgen auf den Hügeln. Noch gehört die Natur hier oben Fuchs und Hase. Und den Bauern. Noch pflegen sie die saftigen Bergwiesen, die zur Schweiz gehören wie Heidi zum Peter. Und leben gut vom vielen Geld aus Bern. Aber vielleicht nicht mehr lange. Unrentable Bergregionen seien reine Geldverschwendung für die Schweiz, lassen die politischen Debatten im Flachland zugespitzt verlauten. Es sei an der Zeit, solche Täler zu entvölkern und der Natur zu überlassen. Für die Safier läuft die Zeit langsam ab. Es sei denn, die 1041 Einwohner zeigen, dass das Tal nicht nur um ihretwillen Millionen an Steuergeldern verschluckt - bedeutend mehr als andere Bergregionen. Die Losung heisst Tourismus. Doch eigentlich bleiben die Safier viel lieber unter sich.

Tourismus im Blut

Herz ist Trumpf. Maria Hunger-Fry hat aber kein Herz. Jedenfalls nicht in ihren Karten. Mit einem versöhnlich schnalzenden Laut wirft sie ihre letzte Karte auf den grünen, abgewetzten Jassteppich. Ein Versicherer, ein «Transpörtler», Safiens Jagdaufseher und ein Bauer, knochig und urchig, mit langem Bart wie aus dem Bilderbuch, sitzen mit ihr am Tisch. Gemütlich und gut gelaunt, im Rathaus, dem einzigen Gasthof im Ort. Safien Platz: Das sind ein Wasserkraftwerk, eine Schreinerei, ein Forstbetrieb und eine Schule. Der Arzt kommt einmal wöchentlich, die Coiffeuse kommt gar nicht mehr. Noch leben in der Gemeinde 350 Einwohner. Die Jungen aber ziehen nach Chur oder Zürich und kommen nicht wieder zurück. Dienstag ist Männerabend in Safien. Aber Maria, 49, gut aussehend und jung geblieben, hat hier lange genug gewirtet, um im gestandenen Männerkreis akzeptiert zu werden. In Safien hat sie einiges bewegt. Und weckt das Tal gemächlich aus seinem Schlaf.

Neue Wanderwege, Ferienwohnungen in alten Walserhäusern, eine Sauna im Schnee und Kartenmaterial für Tourenskifahrer und Wanderer, für Spurensucher und Wildforscher - das alles schwebt Maria Hunger-Fry vor. Keine Massen, sondern «sanfter Tourismus» soll sich in den vier kleinen Dörfern Versam, Valendas, Tenna und Safien etablieren: Biker, Eiskletterer, Kanufahrer und Spaziergänger - jene Leute eben, die sich auch ohne Skilift, Schneebar und Shopping-Mall beschäftigen können. Tourismus ist Maria Hunger-Frys Leidenschaft. Schliesslich ist sie Safiens Tourismusdirektorin - «ehrenamtlich, versteht sich». Mit Verbündeten gründete sie die IG Safiental Tourismus, lockte Künstler ins Tal und gestaltete die Webseite im Internet. «Wir leben nicht am Ende der Welt, sondern in einer der schönsten Ecken Graubündens», schreibt sie dort. Ein Aufruf an potenzielle Gäste, aber auch an die Safier, die potenziellen Gastgeber. Denn noch steht im Safiental jedes zweite Haus leer und keiner schert sich darum. Investiert wird in die Landwirtschaft und nicht in den Tourismus. Die Bauern - in Safien sind es 37 Betriebe, die jährlich mehrere Millionen Subventionen verschlucken - werden das Projekt Tourismus erst unterstützen, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Der Spielraum ist jedoch klein - die Gemeinden sind verschuldet und Kredite benötigen eine Bewilligung vom Kanton.

Der Kampf ums Überleben geht harzig voran. Doch langsam lassen sich auch die Politiker dafür begeistern: Gemeinsam mit den Touristikern gestalteten sie den «Wegweiser Tourismus», einen Fahrplan in die Zukunft. Mit mehr Kooperation soll das Safiental zur Marke werden für Kultur, Natur und Erholung. Die Gäste sind begeistert - in den Ferienzeiten ist jedes Bett vergeben. Dazwischen aber ist es tot im Safiental. Das will Maria ändern. Ihre Visionen sind allgegenwärtig - sie plaudert beim Nachtessen in ihrem Bauernhaus über die Umnutzung eines Maiensässes und auf der Schneeschuhtour zu den Eisfällen zuhinterst im Tal über die Vermarktung einheimischer Produkte. Nebenbei macht sie Fotos, damit alle im Internet sehen, wie Bergführer Christian Zinsli an Pickeln und Steigeisen den vereisten Wasserfall hochklettert - in der Hoffnung, die Leute auf ein Abenteuer «gluschtig» zu machen. Beim Jassen im Rathaus allerdings kommt Tourismus nicht zur Sprache.

Heimat - ein Menschenrecht?

An der Wand des Gasthofs hängen alte Fotos mit stolzen Bauern und kräftigen Kühen. Sie erinnern schwarz auf weiss an die Zeiten, als Heimat noch ein unantastbares Menschenrecht war und niemand davon sprach, abgelegene Täler seien aufzuforsten zu Naturparks für Rehe und Abenteurer. Als Maria noch Fry hiess und nicht Hunger wie jeder zweite im Tal und der Tourismus nach St. Moritz gehörte und nicht nach Safien Platz.

Sie ist eine Aussteigerin, wie viele andere 68er auch. Die einen gingen nach Indien. Maria kam ins Safiental. Zuhinterst, dort wo sich das Tal öffnet und sich die steilen Bergwände vereinen, übernahm sie als junge Frau das «Turrahus», bewirtete Bergler, Blumenpflücker und Tourenskifahrer. Zwei, drei Jahre wollte sie bleiben. Doch die Rätoromanin verliebte sich in die schöne Landschaft und in Safiens Schreinermeister. Das war vor 25 Jahren. Ein wenig «anders» blieb sie bis heute. Aber leben und leben lassen war schon immer das Motto der Walser. Und so lässt man auch sie leben, sie und ihren Tourismus. Auch wenn manch einer im Dorf den Kopf schüttelt.

«Tourismus?», fragt ein junger Landwirt am Stammtisch, der mit dem «Manneturnverein» ein Bier trinkt und Erdnüsse knabbert. Auch er schüttelt den Kopf. «Wofür denn? Bis die Touristen hier sind, bin ich schon lange nicht mehr da.» Die Männerrunde lacht ob der Vorstellung, Touristenmassen im Safiental anzutreffen. Was wollen die hier oben schon machen? Skilift habe es schliesslich keinen. «Auf der Strasse langlaufen!», ruft einer und erzählt, wie ihm am Morgen ein «Auswärtiger» auf Langlaufskis entgegenkam, «mitten auf der Strasse»! Er sei eigentlich für das Präparieren der Loipe zuständig, sagt er und blickt flüchtig auf den Nebentisch, wo Maria Hunger-Fry lachend und jassend ihren Charme ausspielt. «Aber leider bin ich noch nicht dazu gekommen.»

Lamas für die Zukunft

In Safien braucht alles seine Zeit - auch der Tourismus. Das wissen Angelika und Erwin Bandli nur zu gut. Auch sie sind «Aussteiger», grün und bodenständig, kamen nach Safien, «um wieder die Natur zu spüren». Aber in ihren Ställen stehen keine Rinder, sondern tibetische Yaks. Kein Hund bewacht den Hof, sondern ein mongolisches Kamel. Dschingis ist sein Name. Und damit Angelika und Erwin auch im Safiental Fremde zu Gesicht bekommen, kauften sie sich Lamas. Mit gestressten Städtern laufen sie nun seit fünf Jahren die Pässe hoch und kommen mit entspannten Menschen zurück. Doch die Ruhe im Tal wirkt nicht immer: Beim Gedanken an «jene ignoranten Politiker, die nur in Zahlen denken und das Safiental als nicht lebenswert bezeichnen», zieht Angelika Bandli wütend die Augenbrauen zusammen. Gegen diese Wut hilft auch das Lama nicht viel, das die Ohren in den Wind streckt und schläfrig hinter ihr her trottet. Dank dem Lamatrecking muss sich die Familie nicht auf die Direktzahlungen verlassen. Nötig seien sie trotzdem: Auch der Tourismus habe keine Chance, wenn das Safiental entvölkert sei. «Und die Bauern pflegen schliesslich das, was Touristen hier suchen: Die alte alpine Kulturlandschaft.»

Das Ende der Welt oder eine der schönsten Ecken Graubündens? Mehr Tourismus soll im Safiental neue Perspektiven öffnen. Christian Zinslis Touren zu den Eisfällen am Safierberg und Kamel Dschingis ziehen schon heute viele Gäste an. Maria Hunger-Fry/Manuela Ryter

Infos

Detaillierte Informationen: www.safiental.ch oder Verkehrsverein Safien (081 647 12 09).

Anreise: ÖV: Rhätische Bahn Chur- Versam, dann Postauto. Auto: Über Bonaduz (N 13) nach Versam.

Übernachtung: Gasthäuser: Thalkirch: Turrahus (081 647 12 03), Safien Platz: Rathaus (081 647 11 06), Tenna: Alpenblick (081 645 11 23) und Versam: Rössli (081 645 11 13). Lagerhäuser: Thalkirch: Thaler Lotsch (081 647 11 07), Tenna: Waldhaus (081 645 12 02). Privat: Schlafen im Stroh, in Alphütten oder Ferienwohnungen, Ferien auf dem Bauernhof. Siehe Homepage/ Verkehrsverein.

Angebot: Eisklettern, Biken, Wandern, Bergsteigen, Ski-/Schneeschuhtouren, Schlittschuhlaufen. Bergführer: C. Zinsli (079 683 80 30) und W. Stucki (081 921 68 38). Lamatrekking: Ein bis vier Tage (081 647 12 05, www.bandli.ch). Riverrafting/Kanu: 081 645 13 24.

Internetcafé im «z’cafi» in Safien Platz. 

 

Text: Manuela Ryter

Diese Reisereportage entstand für den Graubünden Nachwuchspreis für Reisejournalisten und erschien am 21. Januar 2006 im "Bund". 

 

Keuchend den Alten Schyn hinauf
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BIKEN IN GRAUBÜNDEN

Nach jedem Aufstieg eine rasante Abfahrt, hinter jedem Berg eine neue Welt. Wer mit dem Bike durchs Bündnerland fährt, zieht an romantischen Auen vorbei, bezwingt steile Pässe und fährt durch malerische Dörfer. Nun soll der Gebirgskanton als Bikerhochburg vermarktet werden.

Es ist nicht nur das prächtige Schloss des SVP-Bundesrats, mächtig über dem Hinterrhein thronend, das den Bikertrupp zum Stoppen bringt. Es ist auch der Ausblick auf das sprudelnde, milchig-blaue Wasser, das in Rhäzüns über die Steine fliesst, es ist die kahle, steile Schlucht, es sind die tannengrünen Berge. Sie bieten eine lohnende Gelegenheit für ein erstes Ausschnaufen seit dem Beginn der Bike-Tour in Chur. Vier Tage soll die Reise dauern, quer durch die vielen Landschaften des gebirgigen Kantons.

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150 Täler zählt Graubünden, der flächenmässig grösste Kanton der Schweiz, und jedes davon hat seine eigene Landschaft und Geschichte. Diese Vielfalt macht das Bündnerland für den Biker interessant: Es gibt unzählige Pässe zu bezwingen, steile Abfahrten auf Schotterwegen oder schmalen Pfaden, Single-Tracks genannt, aber auch sanfte Wege entlang von Flüssen und Auen. Viel schneller als der Wanderer und doch in dessen Spur, kann der Biker inmitten der Natur in kurzer Zeit stattliche Distanzen zurücklegen. «So viele ungeteerte Strassen, Wander- und Forstwege gibt es in der Schweiz in kaum einer anderen Region», sagt Gerd Schierle aus Parpan, der als «Bike-Explorer» bekannt ist - unter diesem Label bietet er Tourenvorschläge, Infos und Bike-Karten an.

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Sanft führt der Weg ins hügelige Domleschg. Grasende Kühe beobachten mit gewohnter Gleichgültigkeit die keuchenden Biker. «Burgenland von Graubünden» wird das Tal genannt. Tomils, Paspels, Scharans - die schmucken Dörfer sind menschenleer, die Zeit scheint still zu stehen. Kein Laut ist zu hören, nur das Zirpen der Grillen und das Knirschen der Räder. Häuser und Menschen passen sich der Landschaft, ihrer Ruhe und Intensität, an.

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Wer mit dem Bike durch Graubünden fährt, kommt zwar auch wegen der Ruhe in den Bergen - sucht jedoch immer auch die Herausforderung: Er will Kilometer runterspulen, Höhenmeter bezwingen. «Viele Touren beginnen hier bereits auf 1000 oder 1500 Metern», sagt Schierle, «erst auf dieser Höhe wird es spannend.»

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Scharans liegt auf 760 Metern. Lenzerheide auf 1500. Fast bedrohlich ragt die Bergwand des Alten Schyn vor dem anfahrenden Biker in den Himmel. Der Weg wird steiler, schmaler und steiniger, im kleinsten Gang strampelt man in der brütenden Hitze langsam empor. Die Zeit, Schmetterlinge zu beobachten und die Landschaft zu bestaunen, findet man erst oben. Dieses Gefühl, den Gipfel erreicht und die Strapazen überwunden zu haben, ist es, was viele Biker überwältigt. Und dann die Abfahrt ins nächste Tal, in vollem Tempo den Abhang hinunter, das Fahrrad auf dem losen Geröll der Schotterwege balancierend. Einem Wanderer begegnet man so gut wie nie.

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Erstellt wurden die vielen Wege für Wanderer - erst in den letzten Jahren wurden sie von den Bikern erobert, was von der Wanderlobby nicht immer goutiert wurde. «Biken war bis vor einem Jahr ein rotes Tuch im Graubünden», sagt Claudio Duschletta von Engadin Tourismus. Das solle sich nun ändern, denn es komme fast nur im Tal zu Problemen zwischen Velofahrern und Spaziergängern, «in der Höhe gibt es kaum Konflikte».

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Von Lenzerheide führt der Weg auf schmalen Single-Tracks nach Alvaschein und ins Landwassertal, vorbei am berühmten, hundertjährigen Landwasserviadukt der Rhätischen Bahn. Man fährt durch tiefe Wälder, das Bike muss hier über einen Baumstamm getragen, dort über steile, verwurzelte Wegstücke gestossen werden. Wer schliesslich von Bergün ins Engadin gelangen will, hat die Wahl: Er nimmt die 900 Höhenmeter des Albulapasses unter die Räder - oder setzt sich zwischen die Touristen in der Rhätischen Bahn, die über viele Rundtunnels und Viadukte den Albula passiert: Die gemütliche Version, einen Pass zu überwinden.

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Nicht nur die Rhätische Bahn, die in fast allen Zügen Selbstverlad von Bikes anbietet, auch die Touristiker haben das Potenzial von Graubünden als Biker-Destination erkannt. Mit Bike-Karten, geführten und ausgeschilderten Touren, Bikeparcours, Downhillstrecken, GPS-Touren (Text unten), Rennen und Bike-Hotels wollen sie das Wanderparadies nun auch zur Bikerhochburg machen - in der Hoffnung, so den Sommertourismus anzukurbeln. Einzig die Bergbahnen machen nicht mit - viele Betreiber weigern sich, die sperrigen Bikes zu transportieren.

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Hinter dem Albula ist das Tor ins Oberengadin, in eine neue Welt - das Tal erstreckt sich mit sanften Steigungen von Pontresina nach Zernez, durch steile Bergketten hindurch. Ein Radweg dem Inn entlang führt an romantischen Auenseen vorbei, in denen sich die Berge spiegeln. Alte, schöne Häuser mit Sgraffito-Verzierungen stehen neben protzigen Ferienhäusern ohne Charme. Erst im Unterengadin in Lavin oder Guarda, Ardez oder Ftan findet man in die engen, malerischen Bündner Dörfer und zum sanfteren Tourismus zurück. Die Brunnen warten stets mit frischem Wasser - in Scuol sprudelt gar säuerliches Mineralwasser aus dem Dorfbrunnen.

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Biken boomt, und an Initiativen fehlt es nicht. Gute Karten und Infos zu Wegbeschaffenheit, Kondition- und Technikanforderung sind für den Biker von Auswärts ein Muss, denn nicht alle Wanderwege sind auch mit dem Bike passierbar. Zwar bietet die Dachorganisation «Graubünden Ferien» verschiedene Informationen an, doch der Individualbiker muss sich durch etliche Webseiten, Tourenangebote und Prospekte kämpfen - es sei denn, er fährt nach einem Führer, der Tourenvorschläge, Karten und Infos im Internet, als Buch oder auf DVD anbietet.

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Nicht nur um das Bike zu schonen verlässt man das Engadin wieder im roten Zug, diesmal durch den Vereina-Tunnel ins Prättigau. Hier ist alles grüner, die Berge sind hügeliger, die Häuser aus Holz, die Sprache wieder Deutsch. Und Chur rückt immer näher.


Zweittext:  

Mit GPS in die Berge

Biken fast ohne Karte - immer mehr Bike-Touren in Graubünden werden mit Navigationssystem angeboten

Wer seine Ferien in Lenzerheide mit Biken verbringen will, hat es einfach: Er sucht sich im Tourismusbüro oder Internet eine Tour aus, lädt sie für wenige Franken auf sein - oder das gemietete - GPS-Gerät und fährt los. GPS, kurz für Global Positioning System, ist Zukunftsmusik für den Biketourismus: Das Gerät ist nicht viel grösser als ein Handy, wird am Lenker befestigt und zeigt dem Biker via Satelliten Standort und Fahrtroute an - er muss einzig der roten, einprogrammierten Linie nachfahren. Regelmässiges Halten und Kartenlesen bei jeder Kreuzung gehört somit der Vergangenheit an, der Biker kann wortwörtlich «seiner Nase» nach fahren.

GPS ist im Grunde das Satelliten-Navigationssystem des US-Verteidigungsdepartements. 28 Satelliten kreisen um die Erde und senden Informationssignale aus. Das GPS-Gerät empfängt diese und errechnet so seine Standortkoordinaten aus - bei gutem Empfang bis auf 3 Meter genau. Was für Biker von Vorteil ist: Der virtuelle Führer berechnet auch zurückgelegte und noch zu bewältigende Distanz, Höhenmeter und Geschwindigkeit.

Der virtuelle Führer

Statt selber Touren zu planen und auf gut Glück abzufahren, bietet sich GPS also gerade für den ortsfremden Biketouristen an. Lenzerheide bietet insgesamt 20 Touren an, von einfach bis schwierig, von leicht bis anstrengend. Ausführliche Angaben zum Schwierigkeitsgrad der Route, Aussichtspunkten und Wegbeschaffenheit wird in einem handlichen Führer mitgeliefert. GPS-Touren werden auch in Savognin und im Münstertal angeboten, in anderen Bündner Ferienorten wird das Angebot aufgebaut. GPS-Touren sind auch im Internet herunterladbar, Vorsicht ist jedoch geboten bei Anbietern, die ihre Tourenvorschläge nicht selber abgefahren sind.

«GPS ersetzt die Karte nicht»

So einfach das System ist - es darf nicht überschätzt werden, sonst steht man bald ratlos an der nächsten Kreuzung. «Wer GPS benutzt, muss wissen, was es kann und was es nicht kann», sagt «Bike-Explorer» Gerd Schierle, der seit 15 Jahren Biketouren recherchiert und diese nun auch als GPS-Touren anbietet. «Wenn es regnet, hat man im Wald keinen Empfang», sagt er. Schlecht sei der Satellitenempfang auch in Schluchten oder an Hängen mit steiler Neigung, «da ist man schnell einmal um 30 Meter verschoben». Nicht zu vergessen sei auch ein möglicher technischer Defekt oder ganz einfach leere Batterien. «GPS wird immer nur ein Zusatzhilfsmittel sein, die Karte ersetzt es nicht», sagt der ehemalige Profirennradfahrer und -biker. Er sieht denn auch eine Gefahr, wenn unerfahrene Touristen per GPS durch Berge und Wälder kurven. Denn wenn das Gerät versagt, können sie froh sein, wenn sie den Weg zurück wiederfinden.

Infos für Biker

Bike-Touren: www.graubuendenferien.ch; Biken o. Gepäck: engadinferien.ch, daroserheide.ch; Gourmet-Tour: bike-gourmet-tour.ch; rad-bike-arena.com; Nationalpark-Bike-Tour/Wellness-Tour: scuol.ch.

Bike-Führer: bike-explorer.ch (Graubünden, Top of Graubünden, Mittelbünden, Unterengadin); Veloland Schweiz (Band 6); MTB-Bikeführer von Vital Eggenberger; Cycline MTB-Guide Engadin.

Bike-Karten: graubuendenferien.ch, biketrailmap.ch.

GPS-Touren: bikerheide.ch, bike-explorer.ch. Miete GPS: 25 Franken.

Bike-Hotels: Mit Bikekeller, Werkstatt, Bikernahrung, Wäscheservice: bikehotels.ch, Lenzerheide: bikerheide.ch, Scuol: bellaval-scuol.ch, Pontresina: sporthotel.ch.

Bike-School: frischibikeschool.ch

Bike-Park: In Samedan und Scuol.

Bike-Events: Swisspower Cup, Samedan, 20.-21. Aug.; Nationalpark Bike-Marathon, Scuol, 15. Aug.

Bike-Transport: Tageskarte RhB: 15/10 Franken (o./m. Halbtax).

Text: Manuela Ryter

Diese Reisereportage erschien am 11. Juli 2005 im "Bund".